JAPAN Beugt das Haupt
Im Verteidigungsministerium zu Tokio riefen Scharen erboster Bürger an. Manche rüffelten nur: »Ihr Trottel!« Andere empörten sich: »Wozu sind die Verteidigungsstreitkräfte eigentlich da? Um Leute umzubringen oder um Leute zu beschützen?«
Die Angriffe auf Japans Militär folgten auf die bisher schwerste Flugkatastrophe in der Luftfahrtgeschichte: Ein Pilotenschüler der Luftwaffe hatte am 30. Juli hoch über dem Kurort Schizukuischi mit seinem Düsenjäger eine auf korrektem Kurs fliegende Verkehrsmaschine der All Nippon Airways gerammt. 162 Menschen kamen ums Leben: nur der schuldige Stümper-Pilot Ichikawa rettete sich mit dem Schleudersitz.
Das Desaster enthüllte, wie rücksichtslos Militärmaschinen über den verkehrsreichen japanischen Himmel rasen, Der Entrüstungssturm kostete den Luftwaffenchef sowie den Verteidigungsminister ihre Posten. Die Regierung Sato stürzte in eine Krise.
Die Katastrophe könnte auch Satos Plan zum Ausbau der Streitkräfte blockieren. Das Programm soll Japans Militärpotential den Wünschen der USA für die Nach-Vietnam-Ära in Ostasien anpassen. Kosten des militärischen Fünfjahresplans: 50 Milliarden Mark.
Diese Milliarden, betonen jetzt die Luftwaffengegner, wären weit besser angewandt, wenn man damit die Flugkontrollen und die Landeeinrichtungen der Flughäfen modernisierte.
Denn für das Jet-Gewimmel in Nippons Luftraum trifft das gleiche Urteil zu, das ein US-Flugkapitän für den deutschen Flieger-Himmel fällte: »Absoluter Wilder Westen.« Die Route Tokio-Sapporo wird wegen ihrer Verkehrsdichte bereits nach Tokios Hauptgeschäftsstraße »Ginza« genannt. Doch selbst in dieser Flugschneise gibt es für die Zivil-Luftfahrt blinde Flecke im Radarfeld. Auch der Knall über Schizukuischi ereignete sich außerhalb der zivilen Radarkontrolle.
In die Kontrolle über Nippons Flughimmel teilen sich die japanischen »Luftstreitkräfte zur Selbstverteidigung«, die Schutzmacht USA und die zivilen Luftfahrtgesellschaften. Doch statt Zusammenarbeit herrscht rüdes Gerangel. Seit 1966 ereigneten sich bereits 377 Beinahe-Zusammenstöße.
Ein erst jetzt enthüllter Geheimpakt zwischen Transportministerium und Luftwaffe sicherte den Uniformierten 1967 de facto das Hoheitsrecht. Folge: Die Zivilbehörden wurden immer seltener über Militärflüge informiert. Auf Proteste erwiderten die Soldaten: »Unsere Piloten wissen schon, wie nahe sie an Verkehrsmaschinen heranfliegen können.«
Nicht selten spielten die Luftverteidiger Krieg gegen Verkehrsmaschinen: Sie erklärten -- zu Trainingszwecken -- zivile Flugzeuge als »Feindziele« und übten Abfangflüge. Gleichfalls zum Training, so schrieb das Tokioter Blatt »Asahi Shimbum«, jagten sie über dem Meer manchmal russische Bomber. * Bei der Entschuldigung für die Flugzeug-Katastrophe vom 30. Juli.
Auch die am 30. Juli gerammte Boeing 727 galt dem Piloten Ichikawa möglicherweise als Übungsziel. Fluglehrer Captain Kuma soll in Kommandos den Riesenvogel als »Attrappe« bezeichnet haben. Nach der Katastrophe schnodderte Kuma-. »Wenn wir auf jede einzelne Maschine im Luftraum Rücksicht nähmen, wäre unser Training im Eimer.«
Sturheit und Arroganz der Macht sind bei der Nippon-Luftwaffe offenbar stark ausgeprägt -- eine Tatsache, die insbesondere die Angehörigen der Katastrophenopfer verbitterte.
Am 31. Juli versammelten sie sich in der Aniwa-Volksschule von Schizukuischi, um ihre Toten zu identifizieren. In diese Schule kam auch Luftwaffen-Chef Ueda samt zwei anderen Offizieren; sie traten ein, ohne sich -- nach japanischer Sitte -- die Schuhe auszuziehen, und sprachen mit dürren Worten ihr Beileid aus.
Doch die Trauergemeinde forderte: »Generale, zieht die Schuhe aus, kniet nieder, beugt das Haupt. Ihr habt das Unglück verschuldet.« Die Militärs parierten und baten kniend die Hinterbliebenen um Verzeihung.