VERBRECHEN / GOLTZE Beweis im Keller
Unter dem Zellenfenster kauerten zwei Kriminalbeamte auf einer Wolldecke. Vor der Tür der Haftzelle im Keller des Darmstädter Polizeipräsidiums standen drei weitere Kripo-Leute, spähten durch ein präpariertes Guckloch und lauschten. Hinter der Stahltür plauderten zwei Beschuldigte über einen Mord:
Der eine, Rasierapparate- und Autoverkäufer Hans-Jürgen Goltze, 35, zu« seinem Gesprächspartner: »Wie kommst du Dreckhund dazu, mir so etwas anzutun?«
Darauf der andere, Autoschlosser Frank ("Fränki") Krauße, 30: »Ei Hans, jetzt beruhige dich doch, du hast damit nichts zu tun, aber ich wußte nicht mehr ein noch aus ... ich drehe meine Aussagen sowieso wieder, aber momentan weiß ich nicht weiter.«
Das belauschte Gespräch -- am 29. Mai 1967 von Kriminal-Hauptkommissar Heinz Michel auf Goltzes Bitte ohne Wissen Kraußes arrangiert -- dauerte etwa neunzig Minuten. Was den Kripo-Profis in tagelangen Verhören nicht gelungen war, erreichte Amateur Goltze mit seiner derben Rhetorik auf Anhieb: Krauße gestand, am 14. Dezember 1986 in einer Darmstädter Villa den Prokuristen Richard Albrecht, 48, getötet sowie die Bauunternehmerswitwe Marie Mitteldorf, 53, deren Schwester Anna Hüllinghorst, 61, und Mitteldorf-Pudel Axel durch Pistolenschüsse verletzt zu haben.
Möglicherweise noch unter dem Einfluß der Beredsamkeit Goltzes wiederholte Krauße kurz darauf vor der Kripo und dem Untersuchungsrichter sein Geständnis. Und anderntags war Goltze, den Krauße bis dahin der Bluttat beschuldigt hatte, fürs erste frei.
Bald darauf widerrief Krauße sein Geständnis, und das Kellergespräch, so schien es, war nur Episode in dem Kriminalstück um die Aufhellung der Darmstädter Bluttat, das nun schon seit fast drei Jahren andauert und dem umfallende Zeugen, fragwürdige Bekenntnisse, Unterweltler und Strafgefangene, in die Irre geleitete Kriminalisten und verzweifelte Staatsanwälte Dramatik geben.
Doch im Mai platzte der nach vielerlei Wirrnissen endlich eröffnete Schwurgerichtsprozeß gegen Goltze und Krauße -- wegen des Kellergeständnisses. Goltze und sein Anwalt Glenz zerstritten sich darüber, ob und wie das Gespräch für die Verteidigung zu nutzen sei. Goltze entzog seinem Rechtsbeistand schließlich Vertrauen und Mandat, und ein Abschluß des Falles, der jetzt von vorn aufgerollt wird, war wieder einmal unabsehbar.
Bereits zwei Monate nach den Schüssen auf Prokurist Albrecht, Witwe Mitteldorf und Anna Hüllinghorst war der wegen Diebstahls mit sieben Jahren Zuchthaus vorbestrafte Goltze erstmals in Tatverdacht geraten: Er war früher einmal mit der Mitteldorf-Tochter Helga befreundet gewesen; nach Streitigkeiten hatten ihn die Mitteldorfs des Hauses verwiesen. Und als die verletzten Opfer bei einer Gegenüberstellung zögernd auf Goltze zeigten ("Der war es"), mochte die Kripo Rache für den Hausverweis als Tatmotiv nicht mehr ausschließen.
Doch schon nach 20 Tagen öffneten sich wieder die Zellentüren für den Verhafteten. Den Tatabend, so hatte ein Oberkommissar ermittelt, habe Goltze mit einer Freundin in der Frankfurter »Odeon-Bar« verbracht.
Neue Zeugen aus dem Tanzlokal sagten zwar aus, Gast Goltze habe die Bar etwa zur Tatzeit für rund eine Stunde verlassen, und die Darmstädter Beamten machten die Probe: Für einen kühlen Rechner wie Goltze hätten bei freien Straßen 50 Minuten für Anreise zum Tatort, Tat und Rückkehr an den »Odeon«-Tresen genügt.
Doch Goltzes Name tauchte erst wieder in den Akten auf, als die Kripo während der Ermittlungen zu einem Raubüberfall auf eine Posthalterin im hessischen Salzböden feststellte, daß die von den Salzbödener Tätern benutzte Pistole mit der Darmstädter Tatwaffe identisch war.
Damals meldete sich der Frankfurter Erich Hunte und gab an, mit ebendiesem Schießeisen einst zusammen mit seinem Bekannten Frank Krauße im Wald herumgeschossen zu haben. Der so verpfiffene Krauße wurde denn auch bald durch Faserspuren der Salzbödener Tat überführt. Doch von einer Beteiligung an der Darmstädter Schießerei wollte er zunächst nichts wissen: Zu jener Zeit habe die Pistole Hans-Jürgen Goltze gehört -- einem Krauße-Freund aus gemeinsamer Zeit im Zuchthaus Butzbach. Und der habe sie vermutlich durch Vermittlung der Frankfurter Unterweltler »Juden-Robert«, »pickliger Hermann« oder »Berger Josef« erstanden. Kraußes Erzählungen brachten Goltze, im Mai 1967, zum zweitenmal hinter Gitter.
Auf Auswege sinnend, brachte Goltze bei seinen Vernehmern als möglichen Darmstädter Täter den Krauße-Bekannten Horst Herrmann, 32, ins Gespräch -- mit dem Erfolg, daß die Kripo den gelernten Maler als Krauße-Kompagnon beim Salzbödener Postraub überführte.
Wem er seine Verhaftung zu verdanken hatte, erfuhr Herrmann jedoch erst ein halbes Jahr später beim Post-Prozeß in Limburg, wo er zu neun Jahren und Krauße zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Aber zu dieser Zeit war Goltze wieder einmal auf freiem Fuß, denn mittlerweile hatte Krauße im Kellergespräch gestanden, die Tat begangen zu haben -- zwar auf Goltzes Tip hin ("Da ist was zu holen"), aber allein.
Für die Verfolger Goltzes war der Fall nun verworrener denn je. Um so erfreuter war Darmstadts Oberstaatsanwalt Dr. Erich Hofmann, als er Anfang 1968 Post aus dem Zuchthaus Butzbach erhielt. Offenbar im Austausch gegen Goltzes Tip an die Kripo teilte der dort einsitzende Maler Herrmann mit, ein beim Salzbödener Überfall benutztes Fahrzeug -- ein gestohlener Opel Rekord, Kennzeichen DA-AM 87 -- sei auch in Darmstadt im Einsatz gewesen: Er habe damit Goltze und Krauße zum Tatort gefahren und selbst während der Tat im Auto gewartet. Nach den Schüssen in der Villa seien Goltze und Krauße über das Hoftor gesprungen; Goltze mit blutverschmierter Hemdmanschette und einer Pistole in der Hand.
Nach »langem Zögern« (Hofmann) übernahm auch Krauße ("Der Goltze hat geschossen") diese Version -- mit einer Einschränkung: Goltze habe nicht mit im Opel gesessen, sondern sei in einem Ford 17 M nachgereist. Goltze wurde zum drittenmal eingesperrt.
Beim Prozeß, der im März begann, saßen freilich nur Goltze und Krauße auf der Anklagebank: In stillschweigender Partnerschaft mit Briefschreiber Herrmann hatte sich Darmstadts Oberstaatsanwalt auf eine überraschende Regelung eingelassen. Der Informant aus dem Zuchthaus war nur als Zeuge geladen, und die Frage einer Tatbeteiligung des angeblichen Chauffeurs blieb dadurch ausgeklammert.
Auch die Frage, ob der Brief an den Oberstaatsanwalt möglicherweise nur Teil eines Komplotts der Zuchthäusler Herrmann und Krauße gegen den damals noch freien Goltze gewesen war, wurde bei der Verhandlung kaum erörtert. Gleichwohl gerieten die Indizien der Mord-Anklage gegen Goltze ins Wanken. Denn vor Gericht sagte die Tatzeugin Marie Mitteldorf nun über den Schützen aus: »Das Gesicht des Mannes hat sich mir fest eingeprägt. Ich sage heute, daß es Herr Krauße war«, und »schon seine Größe« sei dafür Beweis. Zwischen Krauße und Goltze besteht in der Tat ein beträchtliches Gefälle: Der eine mißt 1,72, der andere 1,85 Meter.
Belastend für Goltze fielen dagegen Mitteilungen der Anklage über seine Vergangenheit aus: Als 23jähriger hatte Goltze einmal seine Komplicen bei mehreren Diebstählen durch Geldangebote zu überreden versucht, alle Schuld auf sich zu nehmen. Auch fand die biologische Sachverständige in den Taschenfusseln eines Goltze-Anzuges Faserspuren, die von der Hose des ermordeten Prokuristen Albrecht stammen können. Goltze kam nicht wieder frei, als der Prozeß schließlich platzte.
In der neuen Verhandlung, die vorletzte Woche begann, will der Häftling einen entscheidenden Entlastungsangriff starten: Jenes Kellergespräch, so meint er, müsse ihn entlasten. Die Richter des ersten Schwurgerichts freilich hatten wenig Neigung gezeigt, sich in die Erkenntnisse der Keller-Konferenz zu vertiefen -- aus gutem Grund.
Denn Paragraph 136 a der Strafprozeßordnung verbietet die prozessuale Verwertung von Aussagen, bei denen die Freiheit der Willensentschließung eines Beschuldigten durch Täuschung beeinflußt worden ist. Da das Grundgesetz die Würde des Menschen für unantastbar erklärt und Eingriffe in die persönliche Freiheit nur in engen, gesetzlich umrissenen Grenzen zuläßt, dürfen nur solche Geständnisse im Strafprozeß gewertet werden, bei denen sich der Betreffende frei hat entschließen können, ob, wie und wem gegenüber er aussagen will.
Ein unbemerkt von Dritten abgehörtes Zwiegespräch oder ein heimlich laufendes Tonbandgerät sind unzulässige Vernehmungsmittel, und ein solches »Geständnis« entbehrt jeder Beweisqualität -- sogar dann, wenn der Beschuldigte der Verwertung zustimmt, weil ihm das möglicherweise günstig erscheint. Strafprozeßrechtler folgern daraus, derartige Beweismethoden seien prozessual immer wertlos, gleichgültig, ob sie belastende oder entlastende Umstände erbringen.
Daß Krauße gleich nach der Kellerszene den Kripobeamten und dem Untersuchungsrichter -- und Goltze den Gefallen tat, sein »Geständnis im Vernehmungszimmer zu erneuern, kann Goltzes Prozeßchancen auch kaum verbessern. Denn »besteht auch nur die geringste Möglichkeit«, so Strafprozeßkommentator Eberhard Schmidt, »daß die Unfreiheit fortgewirkt hat, so ist auch die spätere Aussage ... genauso unverwertbar«.
Goltzes neuer Wahlverteidiger« Rechtsanwalt Egon Geis aus Frankfurt, will denn auch neue Wege gehen: Das gesetzliche Verwertungsverbot illegaler Beweiserkundung könne nicht gegenüber jedermann absolut gelten. Zwar dürfe das Kellergeständnis für Krauße weder belastend noch entlastend bewertet, gegenüber Goltze jedoch müsse es berücksichtigt werden.
Der Anwalt will sich dabei auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 1964 berufen, mit dem die Karlsruher Richter die Durchbrechung jenes Beweis-Verwertungsverbots für solche Fälle erwogen haben, in denen sie »das einzige Mittel zur strafprozessualen Entlastung einer anderen Person von besonders schweren Anklagevorwürfen darstellen würde«.
Anwalt Geis zum SPIEGEL: »Ich werde bald darauf hinweisen, daß das Kellergespräch die Verhandlung noch in eine ernste Krise bringen kann.«