FALLEX 66 Bier im Berg
Notparlamentarier Hermann Busse, freidemokratischer Rechtsanwalt aus Herford, befürchtete einen sehr persönlichen Notstand: »Ohne Bier kann ich nicht arbeiten.«
Doch Major Strenger vom Bundesgrenzschutz konnte solche Bedenken sogleich zerstreuen: An Getränken werde selbstverständlich kein Mangel herrschen. In zwei unterirdischen Kantinen könnten sich die Herren Abgeordneten, die vier Tage und Nächte lang - von Montagmittag zwölf Uhr bis Freitagmorgen dieser Woche - in einem ausgehöhlten und zum Regierungsbunker ausgebauten Eifelberg den Notstand proben, mit allem Nötigen bedienen.
44 MdB widmeten den Mittwoch und Donnerstag vorletzter Woche der Vorbesprechung für die Stabsrahmenübung Fallex 66, einem Planspiel, mit dem die Nato alle zwei Jahre die Frage zu erforschen sucht, welche Folgen ein militärischer Angriff auf das Nato-Gebiet für die Zivilbevölkerung haben müßte und mit welchen Mitteln Regierung und Verwaltung die Lage meistern können. Aber zweierlei unterscheidet Fallex 66 von allen voraufgegangenen Herbstübungen:
- Zum erstenmal nimmt neben Übungsstäben des Bundeskanzler- und des Bundespresseamtes, des Verfassungsschutzes und von zehn Bundesministerien der »Gemeinsame Ausschuß« des Bundestages und des Bundesrates daran teil, den Bonns geplante, aber noch nicht verabschiedete Notstandsverfassung vorsieht;
- die Übung findet nicht mehr in irgendeiner Bundeswehrkaserne außerhalb Bonns statt, sondern in dem atombombensicheren geheimen Bergbunker, den die Bundesregierung in der Eifel mit großem Kostenaufwand als Befehlsstelle für den Ernstfall ausbauen ließ.
Da die SPD darauf bestand, daß nicht nur die 22 Bundestags-Mitglieder für den Gemeinsamen Ausschuß (elf von der CDU/CSU, neun Sozial- und zwei Freidemokraten) in den Notstandsuntergrund gingen, sondern für jedes Mitglied auch ein Stellvertreter, waren in dem Berglabyrinth noch in letzter Minute Umbauten nötig. Aus dem unterirdischen Sitzungssaal mußte eine Wand herausgebrochen werden, um genügend Raum für die Sitzungen des Notparaments zu schaffen, bei denen einschließlich Regierungsvertretern, Assistenten und Stenographen mehr als 60 Personen zusammenkommen.
Einzelzellen im Notstandsberg dienen den Abgeordneten als Schlafstellen, als Büro allerdings steht nur für jeweils zwei oder drei Mann ein gemeinsamer Raum zur Verfügung. Für die Verpflegung während des Höhlenaufenthalts werden den Notparlamentariern 2,50 Mark pro Tag von ihren Diäten abgezogen. Die mitübenden Beamten haben es dagegen besser. Sie bekommen ihre Verpflegung »von Amts wegen« frei und können wegen vermehrter Arbeit eine Tageszulage von 7,50 Mark kassieren sowie eine weitere Entschädigung von 2,50 Mark pro Tag für erhöhte Abnützung ihrer Kleidung. Diese 2,50 Mark aber - so will es deutsche Gründlichkeit - müssen versteuert werden.
Für die Fallex-Parlamentarier hielten Bunker-Fachleute des Bundesinnenministeriums schon bei der Vorbesprechung in der vorletzten Woche gute Ratschläge parat: Die MdB mögen eigene Handtücher und - zum Schutz gegen die auf Dauer- augenanstrengende Neon-Beleuchtung - Sonnenbrillen mitbringen. Wegen der fußkalten Zementböden im Bunker sei es außerdem ratsam, möglichst Schuhe mit dicken Gummisohlen zu tragen.
Fünf amtierende Bundesminister beteiligen sich persönlich daran, der manövermäßig gespielten deutschen Not vom Bergesinnern aus zu steuern Bundesinnenminister Lücke spielt dabei die Rolle des Bundeskanzlers, Minister Krone den Bundespräsidenten, der die vom Notparlament beschlossenen Notgesetze unterzeichnet und verkündet. Bundesverteidigungsminister von Hassel ist dabei, um militärische Aktionen der Nato und zivile Notstandsmaßnahmen zu koordinieren, Justizminister Jaeger will aus persönlichem und juristischem Interesse mitmachen, und die Ministerin Elisabeth Schwarzhaupt hält das fiktive Gesundheitswesen unter Kontrolle.
Für die Führungsstäbe der Bundeswehr auf der Bonner Hardthöhe, die ihre Manöverlage-Anweisungen vom Nato-Oberbefehlshaber Europa bekommen, wobei der militärische Übungsstab des Generalmajors Schindler in Bensberg noch besondere Einlagen als Garnierung beisteuert, begann Fallex 66 bereits am Mittwochmorgen letzter Woche. Die militärische Lage, der Manöverablauf - und sämtliche Unterlagen des Planspiels waren mit dicken Geheimstempeln versehen. Die mitübenden Abgeordneten - mit Ausnahme der Notstands-Obleute der Fraktionen - ließ man in den 40 Zentimeter dicken Stapel von Geheimdokumenten nur Einblick nehmen. Dann wurden die Schriftstücke wieder eingesammelt und unter Verschluß genommen.
Die Annahme einer militärischen Bedrohung durch »Orange« ließ es am Mittwoch aber immerhin noch zu, daß Generäle, Offiziere und Beamte der Bundeswehr an ihren Schreibtischen im Ministerium sitzen blieben. Am Mittwochabend allerdings, kurz bevor man das Planspiel für die Nacht neutralisierte, hielt es die Regierung bereits für geraten, das Notparlament vom Ernst der Lage zu unterrichten.
Bis zum Montagmorgen verschärfte sich in der Übungs-Annahme die Lage. Durch Angriffshandlungen des fiktiven Gegners, Unterbrechung von Verkehrs - und Nachrichtenverbindungen schien es unmöglich, daß sich der Bundestag in normaler Stärke versammelte. Um 10.15 Uhr bestiegen deshalb die Mitglieder des Notparlaments vor dem Bundeshaus in Bonn die Dienstautos und rollten ab In die Eifel, um im Bergbunker nach Artikel 115a der geplanten Notstandsverfassung mit Zweidrittelmehrheit den äußeren Notstand formell zu beschließen.
Viermal 24 Stunden sitzen die Bonner wie Alberich und seine Nibelungen im Berg und spielen zugleich Krieg und Demokratie. Für die nötigen makabren Einfälle - Verstopfung von militärisch wichtigen Straßen durch Flüchtlingsströme, Verseuchung des Trinkwassers, Sabotage an Treibstofflagern, Zusammenrottung von Gastarbeitern, die nach Hause wollen und für die es keinen Transport gibt - sorgt als Übungsleiter der Wehrmacht-General außer Diensten Theodor Busse.
Der General a. D. hat entsprechende Erfahrungen: Als Oberbefehlshaber der 9. Armee schleuste er 1945 zivile Flüchtlingstrecks in einem wandernden Kessel aus dem Gebiet Frankfurt/Oder in den Raum südlich Berlin. Heute dient er der Bundesregierung als Berater für die Wechselwirkungen von Maßnahmen der militärischen und der zivilen Verteidigung.
Die Übungs-Regierung will beweisen, daß sie - zumindest theoretisch - mit allen Anfechtungen fertigwerden kann, indem sie lagegerechte Gesetze aus der Schublade zieht oder ad hoc verfertigt. Und damit die Demokratie nicht zu kurz kommt, soll das Notparlament im Berg über diese Gesetze beraten und abstimmen. Die Stollen-Parlamentarier sollen überdies zu anderen wichtigen Fragen, die im Kriegsfalle auftauchen könnten, ihre Meinung sagen - einschließlich des Problems, ob in bestimmter Lage auf vom Feind besetzte westdeutsche Städte West-Atombomben geworfen werden sollen.
Bundesinnenminister Lücke verspricht sich dennoch von Fallex 66 günstige Wirkungen für seine geplante Notstandsverfassung, die noch immer in der Luft hängt. Lücke: »Ich warte die Erfahrungen von Fallex noch ab und lege dann meinen Entwurf vor.« CDU -Mann Benda erblickt den Nutzen des Mitmimens von Abgeordneten bei Fallex 66 darin, daß »wir mal erfahren, ob das Notparlament des Gemeinsamen Ausschusses, das wir theoretisch nur auf dem Papier konzipiert haben, überhaupt praktisch funktionsfähig ist«.
Der junge Berliner stieg mit Skepsis in den Bergbunker. Benda: Wir wissen ja nicht, ob nicht die Mehrheit nach drei Tagen den Bunkerkoller kriegt und durchdreht.« Nur Krankheit gilt als triftiger Grund fürs Auftauchen aus der kriegerischen Unterwelt.
Ganz abgeschieden von,der Welt sind die Bergbewohner jedoch nicht. Sie können über eine besondere Nummer privat angerufen werden und auch Post empfangen. Adresse: Bad Neuenahr, Postfach 2000.
Atomluftschutzwart*: Im Regierungsbunker den Notstand geprobt
* Mit Geräten, die nach dem - vom Bundestag zwar verabschiedeten, aber noch nicht in Kraft gesetzten - Selbstschutzgesetz von jedem deutschen Haushalt angeschafft werden müßten: Gasmaske, Feuerpatsche, Einstellspritze, Bergungstuch, Spitzhacke, Fäustel, Fangleine.