»Biermann muß Bürger der DDR bleiben«
Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungs-Freiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt« »Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft -- eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, das heißt Diktatur im rein bürgerlichen Sinne.«
(Rosa Luxemburg in »Zur russischen Revolution«; abgedruckt in Rosa Luxemburg: »Gesammelte Werke«, Band 4, Seite 362; erschienen in der DDR, Dietz-Verlag, Berlin, 1974).
Mit diesen unmißverständlichen Worten aus dem Munde der Frau, die gemeinsam mit Karl Liebknecht die Kommunistische Partei Deutschlands gründete, rechtfertigte Wolf Biermann auf der großen Kundgebung der IG Metall in Köln am 13. November 1976 die Kritik an den politischen Zuständen in der DDR und anderen sozialistischen Staaten, wie sie heute von der übergroßen Mehrheit der Kommunisten Europas geübt wird.
Diese Kritik ist auch Wolf Biermanns Kritik, und sie ist nicht eine Kritik am Sozialismus sondern an seiner Handhabung. Wolf Biermann ist für die Enteignung der Kapitalisten, für die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, für die Arbeiter-und-Bauern-Macht -- aber er ist gegen »die Diktatur einer Handvoll Politiker« und für »Rosas rote Demokratie«, wie er es vor den 7000 Zuhörern in der Sporthalle in Köln nicht nur mit seinen Liedern, sondern auch mit leidenschaftlichen Worten bekannt hat. Für Wolf Biermann ist die DDR der bessere deutsche Staat, er ist die große Hoffnung auf den Sozialismus in ganz Deutschland, eben gerade darum, weil hier das kapitalistische Eigentum abgeschafft wurde.
Es ist eine Ungeheuerlichkeit, Wolf Biermann zu unterstellen, er sei dafür, daß »Abs nach Halle«, das heißt der Kapitalismus in die DDR zurückkehrt, wie es dem Leser in dem Artikel suggeriert wird, den das »Neue Deutschland« aus der DKP-Zeitung »UZ« nachdruckte. Wolf Biermann ist für den Sozialismus, der die »rote Demokratie« verwirklicht, wie ihn im Juni dieses Jahres auf der Berliner Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Frankreichs, der Genosse Georges Marchais, definiert hat und wie man es im »Neuen Deutschland« vom 1. Juli 1976 auf Seite 9 nachlesen kann:
für die Demokratisierung des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens, für die ständige Demokratisierung »bis zum Ende«, das heißt zum Sozialismus ... Der Sozialismus, für den wir kämpfen, wird ein zutiefst demokratischer Sozialismus sein, denn er wird auf dem gesellschaftlichen Eigentum der großen Produktions- und Austauschmittel beruhen wie auch auf der politischen Macht der Volksmassen, in der die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle spielt.«
»Er wird zutiefst demokratisch sein, nicht nur weil er den Werktätigen durch die Abschaffung der Ausbeutung die unerläßliche Bedingung ihrer Freiheit gewährleisten wird, sondern auch weil er alle Freiheiten, die unser Volk sich erkämpft hat, garantieren, entwickeln und erweitern wird. Sei es die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, die Schaffens- und Publikationsfreiheit, die Kundgebungs- und Versammlungsfreiheit und die Freiheit, sich zusammenzuschließen, die Bewegungsfreiheit für Personen innerhalb des Landes und im Ausland, die religiösen Freiheiten oder das Streikrecht. Sei es die Anerkennung der Ergebnisse allgemeiner Wahlen (mit der darin eingeschlossenen Möglichkeit eines demokratischen Wechsels), sei es das Recht auf Existenz und Betätigungsmöglichkeit der politischen Parteien, einschließlich der Oppositionsparteien, die Unabhängigkeit und freie Betätigung der Gewerkschaften, die Unabhängigkeit der Justiz oder der Verzicht auf jede offizielle Philosophie.«
Die »zuständigen Behörden der DDR«, wie sie in der ADN-Meldung vom 16. November 1976 mit bemerkenswerter Verschwommenheit bezeichnet werden, begründen ihre Entscheidung über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft mit dem Satz: »Mit seinem feindseligen Auftreten gegenüber der DDR hat er sich selbst den Boden für die weitere Gewährung der Staatsbürgerschaft entzogen.« Worin dieses angeblich feindselige Verhalten bestanden haben soll, wird dann einem kommentierenden Artikel des Chefredakteurs der Zeitung überlassen, wo man unter anderem die geradezu phantastische Behauptung findet: »Was er dort sang, rezitierte und zusammenredete, das waren massive Angriffe gegen unseren sozialistischen Staat, gegen unsere sozialistische Gesellschaftsordnung. Es enthielt die Aufforderung, diese Ordnung in der DDR zu beseitigen.«
Jeder, der Wolf Biermann auch nur einigermaßen kennt, weiß, daß diese Behauptung durch nichts begründet ist. Im Gegenteil, in zahlreichen Kommentaren der bundesrepublikanischen Presse wird Wolf Biermann zum Vorwurf gemacht, daß er bei aller von ihm an den politischen Zuständen in der DDR geübten Kritik immer noch ein leidenschaftliches Bekenntnis zu seinem DDR-Staat ablege.
Für reaktionäre Renegaten vom Schlage eines Günter Zehm ist die ungenierte Kombination von Kritik und Bewunderung der DDR, die Wolf Biermann zustande bringt, zuviel für sein kaltes Krieger-Gehirn: »Das sind Bocksprünge, die die Glaubwürdigkeit des Sängers untergraben« ("Die Welt«, 15. November). Für diese Leute gibt es nur hier weiß, dort schwarz. Merkt Herr Zehm nicht, daß er nur die westliche Kehrseite der Medaille ist, deren östliche Wolf Biermann gerade dadurch glaubwürdig angreift und ändern will, daß für ihn die Welt mehr Farben kennt im Westen wie im Osten.
Wäre Wolf Biermann der Schwarzmaler, als den ihn seine Feinde in der DKP abqualifizieren wollen, wäre er ebensowenig glaubwürdig wie die Lobhudler und Schönredner auf der einen wie auf der anderen Seite. Aber so wollen ihn diese Leute haben, der Herr K.* ebenso wie Herr Zehm, als reinen Schwarzmaler der einen und schamlosen Weißwäscher der anderen Seite. Und sie merken dabei gar nicht, daß der katastrophale Schwund ihrer eigenen Glaubwürdigkeit auf nichts anderem beruht als auf ihrer totalen Unfähigkeit, das zu tun, was Herr Zehm die Bocksprünge des Dichters nennt.
Es ist eine Kleinigkeit zu beweisen, daß Wolf Biermann keine feindselige Haltung gegenüber der DDR einnimmt, und Millionen Hörer und Fernsehzuschauer werden in diesen Tagen den Beweis hierfür auf den Bildschirmen und aus den Lautsprechern gesehen und gehört haben. Wolfs wunderbare Balladen und Lieder, sein freundlicher Sinn ebenso wie seine leidenschaftliche Klage, seine Schwermut wie auch sein Optimismus werden weit über die Grenzen der beiden Deutschlands hinaus die Kraft und die künstlerische Größe dieses Dichters unserer Zeit sichtbar machen.
Wer sich hier an abgewetzten Kanzleitischen gedacht hat, er könne die weltweite Wirkung, die Wolf Biermann ausstrahlt, durch solche kleinliche, schnöde Handlung schmälern, wird schnell bemerken, daß er das Gegenteil erreicht hat. Die Männer, die diesen Beschluß gefaßt haben, waren wirklich schlecht beraten. Sie waren es, die das Ansehen unserer DDR, das wir verteidigen, beschmutzt haben. Sie gehören zu denen, die immer wieder nach dem Gesetz der griechischen Tragödie ihr Schicksal herbeiführen, indem sie es abzuwenden trachten. Nur daß das Schicksal, das herbeigeführt wird, kaum noch etwas von den erhabenen Dimensionen einer Tragödie an sich hat, weil es eigentlich schon eine Farce geworden ist.
* Günter Kertzscher, stellvertretender Chefredakteur des »Neuen Deutschland«.
Es ist zu fordern, daß die zuständigen Behörden ihre Entscheidung erneut überprüfen und aufheben, wenn nicht dem Ansehen unseres Staates ein nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt werden soll. Auch sollten sie dem Angeschuldigten das Recht einräumen, in der gleichen Öffentlichkeit wie sie sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen und sich zu rechtfertigen. Mit welcher Begründung könnte ein Staat, der auf Ansehen bedacht ist, diese Forderungen ablehnen?
Wolf Biermann wurde versprochen, daß er in die DDR ungeschoren zurückkehren könne. Aber der Artikel, der die Kampagne gegen ihn einleitete, wurde genau an dem Tage in der »UZ« veröffentlicht, an dem Wolf Biermann aus Berlin abreiste. War das wirklich Zufall? Wenn nicht, so war es jedenfalls eine unbezahlbare kapitale Dummheit. Denn nun ist unvermeidlicherweise der peinliche Eindruck entstanden, daß die Mächtigen dieses Staates es nur mit Hilfe eines Tricks gewagt haben, indem sie Biermann aus dem Lande lockten, damit sie ihn in absentia verklagen und verurteilen konnten. Dieser schäbige Eindruck war bestimmt nicht, beabsichtigt. Er müßte schnellstens aus dem Wege geräumt werden: durch Aufhebung dieser Fehlentscheidung.
Weil ich an diesen Staat und seine Zukunft, an die Kraft der Ideen des Sozialismus-Kommunismus ebenso wie an die unüberwindbare Kraft und Vernunft der Volksmassen glaube, appelliere ich an die Partei- und Staatsführung der DDR, diese Entscheidung wieder aufzuheben und dem großen und leidenschaftlichen Dichter und Sänger die Bürgerrechte seines Staates nicht weiterhin vorzuenthalten.