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JUSTIZ Bis Ins Eßgefach

Von Taxifahrern verfolgt, rasten in Frankfurt drei Menschen in den Tod. Der einzige Überlebende wurde verurteilt, die Verfolger blieben straffrei.
aus DER SPIEGEL 33/1971

Die Kontakte zu Underground und Polizei, die Waffe und die gute Ortskenntnis«, urteilt der Mainzer Kriminologe Professor Armand Mergen, »geben den Taxifahrern das Gefühl der Überlegenheit.«

Diese Überlegenheit demonstrierten Frankfurts Taxifahrer am 20. Januar dieses Jahres, als sie mit ihren Funk-Droschken »wie Sheriffs auf dem Mustang« ("Die Welt") ein silbergraues Sportcoup~ des Typs BMW 1600 durchs nächtliche Frankfurt hetzten -- bis der Wagen im Westhafen über die Kaimauer raste und im Main versank.

Drei der vier BMW-Insassen ertranken: Die beiden Animiermädchen Andree Stein, 21, und Astrid Logel, 20, sowie der Jugoslawe Miadian Kasap, 35: sein Landsmann Vladimir Voivodic, 30. erreichte schwimmend das Ufer.

Was für »Publik« eine »strafgeile Verfolgungsjagd der Taxichauffeure« und für die »FAZ« ein »Drama von Rechthaberei und Gewalttätigkeit« war, wies auch der Frankfurter Polizeipräsident Knut Müller als »unerbetene Unterstützung« zurück. »Menschenjagden«, so Müller. »sind nicht gedeckt. Wir haben doch die Taxifahrer nicht zu Hilfssheriffs der Polizei gemacht.«

Das aber »machen wir öfter«, bekannte Taxi-Chauffeur Dieter Wehrle, 26, jüngst als Zeuge vor dem Frankfurter Landgericht, wo Voivodic der fahrlässigen Tötung angeklagt war. Wehrle: »Das kommt immer wieder vor. daß uns die Polizei bittet, die Verfolgung von Verbrechern aufzunehmen.«

Die nächtliche Jagd im Januar hatte Wehrles Kollege Erwin Standhaft, 43, ausgelöst. Er war dem BMW nachgejagt, der bei rotem Ampellicht eine Kreuzung im Frankfurter Stadtzentrum überfahren und Standhaft zu einer Vollbremsung gezwungen hatte.

Von seinem Verfolger in einer Sackgasse mit vorgehaltener Gaspistole (Marke »Arminius"« 90 Zentimeter Mündungsstrahl) gestellt, schlug Kasap -- ein international gesuchter Taschendieb -- Standhaft nieder und riß dem Taxifahrer bei der Gelegenheit auch gleich die Uhr vom Arm. Dann flüchtete das Quartett im BMW.

Den Funkspruch der Taxi-Zentrale ("Überfall auf 406") deuteten die Droschken-Fahrer gleichsam als Einsatzbefehl, die »Rachefahrt des Taxi-Clans« ("Frankfurter Rundschau") ging los. Von Wehrle, der den flüchtenden BMW als erster gesichtet und verfolgt hatte, wurden Seitenstraßen blockiert, mit Taxis Straßensperren errichtet und bei der Verfolgung weder Geschwindigkeitsbeschränkungen noch Ampeln oder Verkehrszeichen beachtet.

Frankfurts Polizeipräsident Knut Müller hinterher: »Was die Taxifahrer mit denen gemacht hätten, wenn sie die noch erwischt hätten, brauche ich ja wohl nicht zu sagen.«

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft jedoch, die gegen Wehrle und Standhaft »wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung und Nötigung« ermittelte, fand »keine Anhaltspunkte« dafür, daß die Taxifahrer den BMW, der ins Hafenbecken stürzte, »gejagt oder gedrängt hätten« -- und stellte das Ermittlungsverfahren ein.

Den Tod der drei Mitinsassen, so befand die 4. Große Strafkammer des Landgerichts Frankfurt, verschuldete vielmehr allein Vladimir Voivodic, weil er -- nach Meinung des Gerichts -- den Unglückswagen gesteuert hat. Der Jugoslawe, der nach eigenen Angaben »Mädchen für alles« in der Frankfurter »Babalu«-Bar -- ein Treffpunkt der Unterwelt -- war, wurde zu einem Jahr Freiheitsentzug wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Gleichwohl bewertete der Kammervorsitzende Dr. Heinz-Werner Mückenburger »Einzelaktionen besonders einsatzfreudiger und heißblütiger Taxifahrer als »unklug«, auch bescheinigte er ihnen einen »wesentlichen Beitrag zu diesem Unglücksablauf.

Immerhin hatte sich Polizeiwagenfahrer Hans-Jürgen Spengler als Zeuge vor Gericht an »ein furchtbares Durcheinander« im Hafen erinnert, »weil sich nach und nach sämtliche Frankfurter Taxifahrer einfanden«. Und selbst Wehrle, der dem BMW so dicht gefolgt war, daß er vom Kai aus »noch das Heck im Wasser versinken« sah, bekannte, »zahlreiche Taxis« hätten sich »an der Verfolgung beteiligt«. Voivodic-Anwalt Eduard Seidl: »Die haben die verfolgt bis ins Eßgefach*.«

Gegen die durch Zeugenaussagen genährte Vermutung, das Verfahren gegen Wehrle und Standhaft sei voreilig eingestellt worden, wehrt sich Staatsanwalt Walter Brüggemann mit subjektiver Erkenntnis: »Das war nie eine Jagd gewesen. Das sah am Ende nur so aus.«

Das »Verfolgen des fliehenden Täters und auch die dabei begangenen Verkehrsdelikte«. so begründete Brüggemann seinen Beschluß, seien durch das »jedermann zustehende Recht zur Festnahme eines auf frischer Tat betroffenen Straftäters« (Paragraph 127 der Strafprozeßordnung) gerechtfertigt. Brüggemann: »Es gab doch gar keine konkrete Verkehrsgefährdung.«

So großzügig wie von der Frankfurter Staatsanwaltschaft wird der Paragraph 127 nicht überall ausgelegt. So erkannte das Oberlandesgericht Hamm im Verhalten eines Angeklagten, der eine Pkw-Fahrerin mit zu hoher Geschwindigkeit verfolgte, nachdem sie ihm die Vorfahrt genommen hatte, eine »Rechtswidrigkeit": Seine Fahrweise komme einem »Eingriff in die Rechtssphäre der Öffentlichkeit. nämlich in das Rechtsgut der Verkehrssicherheit«, gleich. Solche Eingriffe in die Rechte der Allgemeinheit, befand der OLG-Senat, seien »nur durch einen übergesetzlichen Notstand gerechtfertigt«.

In einer anderen Entscheidung -- ein Autofahrer hatte bei einer Verfolgung nur eine ununterbrochene Leitlinie überfahren -- kamen dem Oberlandesgericht Hamm Bedenken, »ob es einer Privatperson« im Rahmen des Paragraphen 127 der Strafprozeßordnung »überhaupt -- etwa bei Verbrechen -- erlaubt werden kann, sich über solche Vorschriften der Straßenverkehrsordnung hinwegzusetzen«.

Grundsätzlich gilt für das private Jedermann-Festnahmerecht genauso wie für jeden Staatseingriff das Prinzip der Verhältmsmäßigkeit: Mittel und Methoden der Verfolgung müssen der Tat des Flüchtenden angemessen sein.

Die Frankfurter Staatsanwälte freilich halten die Verhältnismäßigkeit der Taxijagd für gegeben. Zwar hatte Fahrer Standhaft, wie er vor Gericht bekundete, bei der nächtlichen Verfolgung »innerlich gebetet, wenn da einer von links oder rechts kommt, gibt"s Tote« -- Nach Meinung Brüggemanns sind aber »die Taxifahrer morgens um vier quasi durch eine tote Stadt gefahren«.

Selbst die Erklärung des Staatsanwalts. Wehrles Verfolgungsfahrt sei gerechtfertigt gewesen, weil »inzwischen nicht nur eine Verkehrsgefährdung"« sondern »auch ein Raub zum Nachteil Standhafts begangen« worden war, erscheint nicht stichhaltig: Als Wehrle die Verfolgung aufnahm, wußte er noch nicht, daß Kasap dem Taxifahrer

* Mundartlich für: bis in den letzten Winkel.

Standhaft beim Handgemenge die Uhr geraubt hatte.

Um dies alles eindeutig klären zu können, hoffte Brüggemann auf Unterstützung der Funktaxi-Zentrale. Aber ein Tonband, das -- wie üblich -- alle Gespräche zwischen Zentrale und Fahrern aufgezeichnet hatte, suchte der Staatsanwalt vergebens. In jener Nacht. so mußte er sich abfertigen lassen, war ausnahmsweise kein Band aufgelegt.

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