FUSSBALL-EM Bis ins letzte
Eigentlich hatte er nur Gutes im Sinn: Hermann Neuberger, der ehrgeizige und autokratische Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), wollte die Fans im eigenen Land mit der Europameisterschaft 1988 beglücken. Er wollte dem größten Sportfachverband der Welt einen zweistelligen Millionengewinn einfahren, den Stadionbesucher und TV-Zuschauer gezahlt hätten.
Und er wollte nicht zuletzt den eigenen Ruhm mehren, auf daß sich Hermann Neuberger, 65, im selben Jahr 1988 seinen Traum erfüllen und Präsident der Europäischen Fußball-Union Uefa werden könnte (siehe Kasten Seite 25).
Doch gut gemeint war nicht wohlgetan. Weil Neuberger, knapp drei Wochen vor den Wahlen fürs Schöneberger Rathaus, freiwillig auf Berlin als Austragungsort des Fußballspektakels verzichtete, erntete er fast nur Protest. Die Springer-Presse und die SPD-Bundestagsfraktion, die Konkurrenten ums Berliner Bürgermeisteramt, Eberhard Diepgen (CDU) und Hans Apel (SPD), die Bundesregierung und die Alternativen in Berlin - alle waren gemeinsam empört. Sie fühlen sich, so ein Wort des Regierenden Bürgermeisters Diepgen, »ausgetrickst«. Und Apel verlangte nun erst recht, das Europameisterschafts-Endspiel statt in München im Berliner Olympiastadion anzusetzen.
In Bonn die gleichen Töne. Innen- und Sportminister Friedrich Zimmermann äußerte die Erwartung, daß die Fußballfunktionäre »alles« versuchten, Berlin doch noch in den Spielplan einzubeziehen. Der SPD-Vorstand sprach von einem »Präjudiz gegen Berlin«. Freidemokrat Jürgen Möllemann, Staatsminister im Auswärtigen Amt, bewertete das Verhalten des DFB als »äußerst ärgerlich und politisch instinktlos«.
Nur die Bonner Grünen bürsteten gegen den Strich und wiesen den »Versuch der Regierungsparteien zurück, den Sport und andere gesellschaftliche Bereiche zum Instrument einer im Ansatz bereits verfehlten Deutschland- und Berlin-Politik zu machen«.
Kickerchef Neuberger, gewohnt, Befehle zu erteilen, hielt den Protesten trotzig entgegen, er habe es »nicht nötig, Befehle aus Bonn entgegenzunehmen«. Überhaupt habe der DFB immer »für Berlin alles getan« und sich auch jetzt »bemüht bis ins letzte hinein«. Doch die Kritiker müßten wissen: »Hätten wir auf Berlin bestanden, hätten wir die Europameisterschaft nicht bekommen.«
Wohl deshalb legte sich der deutsche Fußballfunktionär gar nicht ins Zeug. Noch bevor das Organisationskomitee der Uefa am Dienstag letzter Woche in Bern über das Titelturnier beriet, meldeten Ostblock-Funktionäre vorsorglich Einspruch gegen Spiele in West-Berlin an. Und aus der Besetzung der Uefa-Kommission mit drei Ost-Vertretern aus der Sowjet-Union, Bulgarien und der CSSR sowie je einem Isländer, Franzosen und Schweizer schloß Neuberger, daß Berlin »nicht mehrheitsfähig« war.
Daher mühte sich der DFB nicht mehr sonderlich, nachdem zuvor drei Anläufe gescheitert waren. Schon ein früheres Angebot habe »Berlin unterschlagen«, erinnert sich der Berliner Verbandsdirektor Wolfgang Levin, »auf unseren Protest kam es wieder rein«.
In seiner Bewerbungsbroschüre stellte der DFB dann Berlin und das Olympiastadion von 1936 an erster Stelle auf Hochglanz vor - offensichtlich als Alibi. Dazu paßt, daß der Verband, scheinbar großzügig, das deutsche Pokalfinale bereits im letzten Herbst auf fünf Jahre bis 1989 nach Berlin vergab.
Und auch am letzten Dienstag in Bern zeigte sich die Neuberger-Truppe bestens präpariert. Sie legte dem Uefa-Gremium zwei Spielpläne vor, einen mit sechs, einen mit sieben Spielorten. Berlin kam nur in einem Briefanhang vor: als Bitte, das Olympiastadion für das Eröffnungsspiel zu berücksichtigen. Mit 5:1 Stimmen entschied sich die Jury zuerst für die DFB-Bewerbung, dann _(Bundesrepublik - Chile (1:0); Heynckes, ) _(Reinoso, Gerd Müller, im Hintergrund ) _(Breitner, Overath. )
einstimmig für den Siebenstädteplan. Das Kommissionsmitglied Heinrich Röthlisberger aus der neutralen Schweiz: »Über Berlin ist überhaupt nicht geredet worden.«
Um so mehr wird seit der Berner Entscheidung über Berlin geredet - und das ausgerechnet in einer Zeit, da Moskau seine Verbündeten, voran die DDR, ohnehin anhält, die Beziehungen zu Bonn auf Sparflamme zu bringen.
Die Pfiffe um ein in drei Jahren bevorstehendes Fußballer-Treffen gelten tatsächlich einem alten Streitpunkt in der Interpretation des Viermächte-Abkommens von 1971: Pochen die Sowjets darauf, daß West-Berlin »kein Bestandteil (konstitutiver Teil)« der Bundesrepublik ist und »nicht von ihr regiert werden« darf, so verweisen die Bonner stets auf den Passus, wonach die »Bindungen« (Ostblock: »Verbindungen") sogar »entwickelt« werden dürfen.
Solch unterschiedliche Akzente führten immer wieder zu Spannungen oder verhinderten den Abschluß weiterer Verträge Bonns mit östlichen Staaten. Wegen der Einbeziehung West-Berlins hängen seit Jahren Abkommen mit Moskau über technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit, Rechtshilfe und einen Rahmenplan zum Kulturabkommen in der Luft. Solange die Sowjets mauern, haben auch entsprechende Verträge mit der DDR keine Chance.
Ungezählt sind Ost-Proteste gegen Berlin-Besuche des Bundespräsidenten oder gegen Sitzungen bundesdeutscher Politgremien in der Halbstadt. Und immer wieder mal versuchen die Sowjet-Union und ihre Verbündeten, Berliner Mitglieder westdeutscher Delegationen auszugrenzen oder ihnen einen Sonderstatus zu verpassen.
Eine einheitliche Linie hat es freilich nie gegeben. Seit Abschluß der Ostverträge Anfang der siebziger Jahre erfreuen sich die Berliner einer eher stabilen Lage - in der Politik wie im Sport: Pressionen wurden durch Sticheleien oder Mätzchen ersetzt.
Als protokollarische Waffe wurde beispielsweise die Bärenfahne genutzt, die im Ostblock für West-Berliner Sportler zusätzlich zur Bundesflagge gehißt wurde. Berlin, so die Absicht, sollte als selbständige politische Einheit gekennzeichnet werden. Deshalb sagten die Leichtathleten 1973 einen Länderkampf in Warschau ab, deshalb legten die Bundessegler bei der Rostocker Ostsee-Woche vorzeitig ab.
Oder die Organisatoren grenzten Berliner namentlich aus: Bei den Europameisterschaften der Leichtathleten 1978 in Prag verweigerten die Veranstalter den Bundessportlern die sonst übliche Bezeichnung »Deutschland«, die West-Berliner umfaßt, und nannten sie formal korrekt »Bundesrepublik Deutschland«. Dies Etikett schließt West-Berlins Sportler aus, weil die Viermächte-Stadt trotz gegenteiliger Sonntagsreden völkerrechtlich nicht zum Bundesgebiet gehört. Prager Lösung: Die Athleten boykottierten die Einmarsch-Zeremonie.
Westdeutsche Kanusportler brachen 1984 eine Regatta in Moskau ab, weil die Sowjets zwei Berliner in den Ergebnislisten unter »West-Berlin« aufführten. Als eine Mannschaft Moderner Fünfkämpfer in Eriwan landete, lehnten die Sowjets den Berliner Dieter Krickow als Delegationsleiter ab.
Weniger prestigeträchtige Wettkämpfe in West-Berlin wie die Eissprint-WM 1976 boykottierte der Ostblock dutzendfach. Doch bei der Fußball-WM 1974 nahm der Ostblock die Einbeziehung West-Berlins hin: Die DDR spielte dort gegen, ausgerechnet, die Repräsentanten des chilenischen Pinochet-Regimes. Allerdings sind Ostblock-Delegierte im Weltverband Fifa, der 1974 zuständig war, anders als in der Uefa, in der Minderheit.
So mag es sein, daß Neubergers Truppe für die Kicker-EM leer ausgegangen wäre, hätte sie auf Berlin bestanden. Nun aber ist ein Präjudiz geschaffen. Manfred von Richthofen, Direktor des Berliner Landessportbundes, fürchtet, »wenn sogar der große DFB aufgibt«, daß auch kleinere Sportlerverbände dem leidigen Ärger um Berlin künftig ebenso kleinmütig ausweichen.
Fußballfreunde wie -feinde sehen jetzt freilich kaum eine Alternative. Sollte der DFB unter politischem Druck die Veranstaltung zurückgeben, wäre in aller Zukunft ein Boykott westdeutscher Sportplätze für internationale Treffen programmiert. Wenn Neuberger hart bleibt, wären künftig nur die West-Berliner Arenen für internationale Begegnungen blockiert.
Mangels Ausweg gab es im Bonner Kanzleramt denn auch keine Ratschläge für Neuberger oder den DFB, sondern nur Säuernis über deren Vorgehen. Allzuhoch mochten Helmut Kohls Mannen den Fall nicht hängen. Ein Kanzlerberater: »Durch öffentlichen Druck würden wir die Chancen des DFB vermindern, Berlin doch noch einzubeziehen - das müssen die auf der Ebene der Funktionärskungelei versuchen.«
Daß am 15. März das Uefa-Exekutivkomitee die Entscheidung der letzten Woche revidiert, scheint ausgeschlossen. Zu groß wäre nach all dem öffentlichen Wirbel der Prestigeverlust für die Ost-Funktionäre, wenn West-Berlin nachträglich zum Spielort bestimmt würde.
Um Hermann Neubergers Image ist es schon jetzt nicht gut bestellt. Doch er hat von Kanzler Kohl gelernt: Aufforderungen zum Rücktritt beschied er letzte Woche mit der Ankündigung, er wolle die Sache aussitzen.
Auch der Kanzler will es wohl so halten. In einer matten Reaktion forderte er die Fußballgewaltigen letzten Samstag auf, sich wenigstens mal Gedanken zu machen: »Sollte der DFB zu einem Verzicht auf ein Spiel in Berlin gezwungen werden, dann täte er gut daran zu überlegen, ob eine Europameisterschaft diesen Preis wert ist.«
Hermann Neuberger ist das billig: Er mag auf die Spiele in deutschen Stadien, Berlin exklusive, nicht verzichten. Da drohte ein Vertrauter Helmut Kohls mit Kampfmaßnahmen; dann würden eben Politiker an den Fußballspielen nicht teilnehmen: »Auf die politischen Weihen wird der DFB wohl verzichten müssen.«
Den Fußballfans wird das egal sein.
Bundesrepublik - Chile (1:0); Heynckes, Reinoso, Gerd Müller, imHintergrund Breitner, Overath.