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AUSSIEDLER Blaue Briefe

aus DER SPIEGEL 20/1966

In der Wurstfabrik erreichte ihn der blaue Brief. Die Leitung der Genossenschafts-Schlachterei im westpolnischen Städtchen Reisen teilte dem deutschen Metzger Anton Franitza mit, er werde fortan nur noch den halben Lohn bekommen. Begründung: keine.

Doch Fleischer Franitza wußte ohnehin, warum ihm sein Wurstmacher -Kollektiv die Zloty-Zahlungen kürzte: Kurz zuvor hatte er die Aussiedlung in die Bundesrepublik beantragt. Sie wurde ihm gewährt. Letzte Woche traf er im westdeutschen Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen ein.

Wie ihm erging es in jüngster Zeit vielen ausreisewilligen Deutschen in Polen. So setzte im März und April die Maschinenfabrik Ratibor rund 150 Deutsche, die in die Bundesrepublik wollten, auf die Straße. Die Strickwarenfabriken in Leobschütz entließen mehrere Dutzend Ausreisebewerberinnen. Der »Ausbesserungs- und Montagebetrieb der Papierindustrie« in Krappitz kündigte 26 deutschen Spezialisten.

Und schon im November 1965 hatten 180 Arbeiter der Stahl- und Eisengießerei in Malapane ihre Papiere bekommen, weil sie sich beim Woiwodschafts-Paßamt in Oppeln um die Fahrt

nach Friedland bemühten. Nur wenige der Malapane-Werker fanden neue weitaus schlechter bezahlte - Arbeitsstätten; manche sind noch heute brotlos.

Stets fehlt in den Entlassungspapieren der Kündigungsgrund: Deutsche, die sich nicht als polnische Bürger in den sozialistischen Staat eingliedern, sondern durch einen Ausreiseantrag ihre Vorliebe für den kapitalistischen Westen offenbaren, sind es nach Ansicht ihrer polnischen Chefs nicht wert, länger gut bezahlt zu werden und das Recht auf einen Arbeitsplatz zu besitzen.

Denn Arbeitsplätze werden ohnehin knapp in Polen. Schon vor zwei Jahren hatte KP-Chef Gomulka beim 15. Plenum des Zentralkomitees seiner Partei erklärt: »Von 1966 bis 1970 werden 3 260 000 Personen das 18. Lebensjahr vollenden und in das produktionsfähige Alter eintreten ... Um die gesamte Jugend aus Stadt und Land zu beschäftigen, müssen etwa 1,5. Millionen neue Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft geschaffen werden.«

Zuvörderst in den Industrie-Woiwodschaften Oppeln und Kattowitz müssen die wegen ihrer Ausreise-Anträge als »unsicher« geltenden Deutschen Wohnungen und Werkbänke für die »produktionsfähig« werdenden Jungpolen räumen.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß immer mehr deutsche Industriearbeiter durch polnische Nachwuchs -Werker ersetzt werden können und in den Westen abreisen dürfen: Während 1963 nur 4742 Aussiedler aus Oberschlesien im Durchgangslager. Friedland eintrafen, waren es 1964 bereits 10 705 und 1965 sogar 12 047. Lagerleiter Müller-von der Wall: »Dieser Trend scheint anzuhalten.«

Doch trotz der erhöhten Aussiedler -Kontingente gibt es unter den etwa 800 000 Deutschen, die in den Ostgebieten leben, noch Zehntausende, die seit Jahren vergeblich auf die Ausreisegenehmigung warten. Daß diese Genehmigungen trotz des Arbeitsplatzmangels versagt wurden, macht ein polnisches Dilemma deutlich: Ein jäher Massenabzug der als »Autochthonen« geltenden Deutschen würde die Polen-Parolen von der Attraktivität des Sozialismus Lügen strafen.

In einigen ländlichen Woiwodschaften

- vor allem in Ostpreußen - werden

die Deutschen allerdings noch gebraucht, um die Felder zu bestellen. So trafen 1965 im Tagesdurchschnitt nur zwei Ostpreußen in Friedland ein.

Freilich haben viele Deutsche zwischen Allenstein und Oppeln auch gar keine Lust, sich zwischen Flensburg und München anzusiedeln. So notierten Beamte des niedersächsischen Vertriebenenministeriums kürzlich in Friedland Klagen von Aussiedlern über ihre Kinder, die »an einer Übersiedlung ... nur wenig Interesse zeigen«. Und das Ministerium erkannte, daß »ein großer Teil dieser den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahrgängen angehörenden Jugendlichen der Bundesrepublik gegenüber ablehnend eingestellt ist. Nahezu 90. Prozent beherrschen die deutsche Sprache überhaupt nicht mehr oder verstehen sie nur in begrenztem Umfang«.

Ältere Menschen dagegen haben nach den Erfahrungen des hannoverschen Vertriebenenministeriums im Mai 1965, zwanzig Jahre nach Kriegsende, zumeist die Hoffnung auf eine »für sie günstige Änderung der OderNeiße-Grenze« aufgegeben und versuchen seither »auf jede Weise«, eine Ausreisegenehmigung zu bekommen, um »wieder einmal unter Deutschen leben zu können«.

In der Hoffnung, als Arbeitslose möglichst schnell das Land verlassen zu dürfen, legen viele aus freien Stücken ihre Arbeit nieder und leben bis zur Ausreise vom Verkauf ihres Hausrates.

Polen-Aussiedler im Lager Friedland

Halber Lohn

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