USA / VERTRAUENSKRISE Bleibt friedlich
Der Präsident versprach, Wunden zu heilen -- doch er riß neue auf. Er wollte »die Kluft zwischen den Generationen überbrücken« -- doch 16 Monate nach seinem Amtsantritt hatte der Brückenbau noch immer nicht begonnen.
»Wir wollen Amerika einen«, hatte Richard Milhous Nixon 1968 am Tag seines Wahlsiegs gelobt. Und: »Ich bin zuversichtlich, daß wir bei dieser Aufgabe Erfolg haben werden.«
Bislang aber blieb Nixon erfolglos. Die Spannungen zwischen arm und reich, zwischen weiß und schwarz, zwischen Falken und Tauben, zwischen jung und alt sind nicht abgeklungen. der Riß ist eher noch tiefer geworden.
Hunderttausende meist junger Amerikaner verurteilten in den letzten Wochen den US-Einmarsch in Kambodscha: Ihr Protest signalisierte, wie schroff sich Regierende und Studierende, Polit-Establishment und Apo heute gegenüberstehen. Die zunehmende Entfremdung, klagte das »Wall Street Journal«, »droht die Struktur der amerikanischen Gesellschaft so sehr zu zerstören, daß sie irreparabel wird«.
Bei den Jung-Protestlern wirkte der Zorn über Nixons Kambodscha-Befehl als Katalysator lange aufgestauten Unmuts. Schon seit Sommer 1969 mußten Amerikas oppositionelle Studenten den Eindruck gewinnen, daß sieh die Nixon-Regierung -- trotz aller schönen Worte -- nicht mit ihnen verständigen, sondern sie verketzern wollte.
Denn Taktiker Richard Nixon, sein Vize Spiro Agnew und sein engster Vertrauter, Justizminister John Mitchell, suchen politischen Rückhalt und Wählerstimmen beim »Middle America«, beim breiten, gemäßigt konservativen Mittelstand. Dieses Middle Amenica aber klammert sich noch immer an das idyllische Bild einer apolitischen Universität, schätzt die braven, sauber gekämmten Studenten und hat keinerlei Verständnis für Rebellen auf dem Campus.
Spiro T. Agnew, von dem viele Amerikaner glauben, daß er sagt, was Nixon denkt (Senator Eugene McCarthy: »Nixons Nixon"), bekräftigte die Kleinbürger-Vorurteile. Er
* verhöhnte Vietnam-Demonstrationen als »Straßen-Karneval« und »Revolutions-Theater« und
* beschimpfte die Organisatoren des Vietnam-Moratoriums vom Oktober 1969 als »ein steriles Korps von schamlosen Snobs, die sich als Intellektuelle ausgeben«.
Schützenhilfe leisteten Nixon-Intimus John Mitchell und dessen Frau Martha. Anti-Kommunist Mitchell ("Mr. Law and Order") drängte bei seinem Präsidenten konsequent auf einen harten Kurs gegen radikale, antiautoritäre Studenten. Sein Ministerium sowie die Bundes-Kripo FEI forderten eine energische Verfolgung der militanten »Schwarzen Panther«. mit denen auch zahlreiche weiße Studenten offen sympathisieren.
Ihr Mann, so verkündete Mrs. Mitchell der Nation im Fernsehen, habe beim Vorbeimarsch von Vietnam-Demonstranten geurteilt, das »sieht aus wie eine russische Revolution. Mein Mann hat mehr als einmal gesagt, daß er am liebsten ein paar der Liberalen in diesem Land gegen die russischen Kommunisten eintauschte«.
Doch nicht nur Agnew und Mitehell vertieften die Gegensätze zwischen Amerikas Jugend und Amerikas Regierung. Auch Nixon selbst beschleunigte, vor allem durch seinen Appell an die von ihm entdeckte »schweigende Mehrheit« des Volkes, die Polarisierung zwischen Spießbürgern und kritisch-rebellischer Jugend.
Dennoch konnte der Präsident ein paar Monate lang hoffen, den Widerstand der Jugend und Intellektuellen durch den langsamen Truppen-Abzug aus Vietnam entkräftet zu haben.
Nach der Invasion Kambodschas und der Erschießung von vier Studenten in Kent -- und noch zwei weiteren in Jackson -- zeigte sich jedoch: Der Apo-Zorn auf die republikanische Regierung war unverändert groß.
Mehr noch: Richard Nixon erwies sich »als der beste Organisator, den die Friedensbewegung je besaß« ("New York Post"). Denn durch seinen Kambodscha-Entschluß einte er Gemäßigte und Radikale, schweißte er Studenten und Professoren in einer Front zusammen. Vollends verbitterte der Staatschef seine jugendlichen Widersacher, als er sie »Strolche« schalt. Ein Student trug daraufhin ein Schild herum mit dem Text: »Ich bin ein Strolch für den Frieden.«
Der Präsident, so konstatierte Charles Palmer, Vorsitzender des Nationalen Studenten-Verbandes, »hat bei den Studenten jede Glaubwürdigkeit verloren. Unser Streik wird ausdauernd sein«. Musikprofessor Klaus Liepmann vom Massachusetts Institute of Technology: »Als Intellektuelle und Künstler haben wir jetzt die Pflicht, zu handeln.«
Die Folgen: Indochina-Krieger Nixon erlebte, während die GIs nach
* Ein Schwarzer läßt sich ans Kreuz schlagen, um zu zeigen, wie Nixon das amerikanische volk kreuzigt«.
Kambodscha vorstießen, eine Eskalation an der Heimatfront: In 441 der etwa 2100 US-Colleges und Universitäten streikten die Studenten; Demonstranten steckten Schulgebäude des Reserveoffizier-Korps oder auch -- wie in New Orleans -- Spottfiguren des Präsidenten in Brand. Vielfach schlugen Nationalgardisten die Proteste mit Waffengewalt nieder.
Nach den Todesschüssen an der Kent University fiel selbst der standhafte Nixon-Freund und Evangelist Billy Graham auf die Knie und klagte: »O Gott, was ist los mit uns, daß dies in Amerika passieren kann?«
Verstört, erschrocken, ratlos sah Amerika zu, was passierte: Die USA schlitterten in »die schwerste innenpolitische Krise« ("Newsweck") seit Nixons Amtsantritt.
Denn die Proteste erhellten schlaglichtartig, wie sehr die Nixon-Mannschaft an den Stimmungen und Wünschen eines beträchtlichen Teils des akademischen, reformeifrigen Amerika vorbeiregiert hat.
Doch erst als die Welle des Protestes unmittelbar ins Weiße Haus schwappte, als Nixons Beauftragter für Jugendfragen kündigte und Nixons Innenminister Walter Hickel, Vater von sechs Söhnen, mahnte, der Staatschef müsse mehr Verständnis für die Haltung »unserer jungen Leute« zeigen (SPIEGEL 20/1970), beeilte sich Richard Nixon, Versäumtes nachzuholen.
Seinen Vize Agnew, der in einer Rede gerade wieder einmal die »cholerischen jungen Intellektuellen« rüffeln wollte, wies er an, behutsamer zu sein. Den Präsidenten der Vanderbilt University, G. Alexander Heard, heuerte er für die nächsten zwei Monate als Berater für Hochschulprobleme an. Und am vorletzten Sonnabend, wenige Stunden vor einer studentischen Massendemonstration gegen die Ereignisse in Kent und Kambodscha, suchte Nixon selbst Kontakte zur Jugend -- auf seine Weise:
Morgens um vier weckte der Präsident, schlaf- und ruhelos, seinen aus Kuba stammenden Kammerdiener Manolo Sanchez und fragte ihn, ob er schon einmal das nahegelegene Lincoln-Denkmal bei Nacht gesehen habe. Der Kubaner verneinte.
Zusammen mit Diener, Arzt und drei Geheimagenten ließ sich der Präsident daraufhin zum Lincoln-Denkmal chauffieren. Dort fand er, was er suchte: ein paar Studenten: »Sie waren nett«, kommentierte er später, »und von überall her.«
Einer der studentischen Frühaufsteher, Nick Stark, 19, über die Konversation bei Sonnenaufgang: »Ich spürte, er wollte einfach mit irgend »jemandem sprechen.«
Aber er sprach hauptsächlich über Football, über Wellenreiten und seine Reisen in ferne Länder, Zum Thema Indochina erklärte der Präsident: »Ich weiß, daß Sie glauben, wir sind eine Gruppe von Bastarden ... Aber der Krieg wird zu Ende gehen.« Auf aktuelle Fragen ging Nixon kaum ein. Student Stark: »Die Unterhaltung war sinnlos.«
Nach etwa einer Stunde ermahnte Nixon seine Zuhörer: »Ihr könnt natürlich eure Slogans rufen. Das ist in Ordnung. Aber bleibt friedlich.« Dann fuhr der Mahner heim.
Der große Protest der etwa 100 000 Studenten verlief denn auch friedlich -- nicht zuletzt der Hitze wegen: In Washington war es 32 Grad warm. Während Pazifisten vom Frieden redeten und sogar eine parlamentarische Anklage gegen den Präsidenten forderten, trieben Demonstranten-Pärchen auf der Wiese ungestört ihre Liebesspiele. Kriegsgegner beiderlei Geschlechts zogen sich aus und plantschten in den Park-Fontänen.
Fortan freilich wollen sich die Kriegsgegner nicht mehr aufs Protestieren beschränken, sondern politische Kräfte gegen Nixons Indochina-Politik mobilisieren.
Unter dem Motto »Peace through Politics« (Frieden durch politische Maßnahmen) wollen etwa 30 Universitäten ihre Studenten im Oktober beurlauben. Sie sollen für die Kongreßwahlen im November jene Kandidaten unterstützen, die gegen Washingtons Indochina-Politik opponieren. Und je mehr Tauben in den Kongreß einziehen, desto schwerer wird es für die Regierung, den Krieg so abenteuerlich weiterzuführen wie bisher. Die mit Studenten und Professoren sympathisierenden Abgeordneten könnten sich auch in innenpolitischen Fragen künftig stärker für die Wünsche des liberalen, akademischen Amerika einsetzen.
Die jugendlichen Nixon-Gegner, so erkannte James Reston von der »New York Times«, haben jetzt eingesehen, daß sie den Präsidenten durch politische Organisations-Arbeit viel stärker treffen können als durch Protest-Märsche. Denn »demonstrieren ohne zu organisieren ist so, als ob man ein Mädchen küßt und dann nach Hause läuft -- eine nette Erinnerung ohne dauernde Folgen«.