Umwelt Bleierne Zeit
Gewundert hatten sich die Christen der baden-württembergischen Gemeinde Neuhengstedt schon länger: Die Damen des Kirchenchors plagte häufig heftiger Kopfschmerz, nach den Proben im Gemeindesaal wurde mancher Sängerin speiübel.
Der Pfarrer, ein junger, kräftiger Mann, wachte morgens häufig mit Brechreiz auf, vergaß Namen, fand die einfachsten Wörter nicht. Irgendwann schaffte er es nicht mal mehr, durch die offene Tür zu gehen, und taumelte gegen den Rahmen.
Die dreijährige Tochter des Pfarr-Ehepaars konnte plötzlich nicht mehr laufen, dann ließ ihre Sehkraft nach. »Bei uns«, so klagte die kleine Julia, »ist immer Nebel im Haus.«
Julias Vater, der evangelische Pfarrer Hans-Thomas Buchner, 38, ist einer von Hunderten von Geistlichen überall in der Republik, die zu Opfern der Chemieindustrie wurden: Statt Weihrauch und Kerzenduft umwabern die Kleriker und ihre Angehörigen in ehrwürdigen Kirchen und alten Pfarrhäusern Pentachlorphenol (PCP), Lindan und Pyrethroide.
Mehr noch als Forsthäuser (SPIEGEL 46/1994), Schulen oder Kindergärten wurden Gotteshäuser in den siebziger und achtziger Jahren mit gefährlichen Giften behandelt. Um die oft jahrhundertealten Balken und Möbel vor dem Holzwurm zu retten, verstrichen Arbeiter in den geistlichen Gemäuern Holzschutzmittel kübelweise.
Das dreistöckige Jugendstilhaus, in das Buchner 1985 zog, war vorher gründlich renoviert worden. Sechs Jahre später maß der TÜV im Schlaf- und Kinderzimmer sowie im Gemeindesaal so hohe Giftkonzentrationen, daß die Kirchenverwaltung das Gebäude umgehend sperrte. Buchners mußten alles zurücklassen, sogar seine alte Bibel darf der Pfarrer nicht mehr benutzen.
Wie viele Pastoren und Kirchenangestellte bundesweit betroffen sind, darüber gibt es bislang keine Statistik, bekannt werden nur Einzelfälle.
Rund um Nürnberg sind es allein sechs. Pfarrer Winfried Winter, 56, aus Langenzenn bei Nürnberg hätte fast seine Enkeltochter verloren. Als er mit seiner Frau Ilse im September 1988 in das frisch renovierte, 500 Jahre alte ehemalige Klostergebäude zog, habe für die Winters, sagt der Pfarrer, eine »bleierne Zeit« begonnen.
Die Familienmitglieder wurden von Muskelkrämpfen geschüttelt und von Chlorakne geplagt, büschelweise fielen ihnen die Haare aus. Das Enkelkind, das häufig zu Besuch war, legte die Mutter nichtsahnend in den am schlimmsten verseuchten Raum - der Kehlkopf des Babys schwoll zu. Fast wäre das Kind erstickt.
Die Ärzte rieten: Nichts wie weg. Einen Winter lang schlief der Pfarrer im Wohnwagen, dann fand die Kirche ein neues Haus für die Familie.
Der Chemierausch der siebziger Jahre wurde auch der Restauratorin Gisela Schreyögg zum Verhängnis. 30 Jahre lang hat die Rheinländerin »an die hundert Kirchen« mit Holzschutzmitteln präpariert. »Alles, alles wurde damit gegen Holzwürmer gestrichen, die Beichtstühle, das Chorgestühl, die Orgeln«, sagt Schreyögg: »Xylamon wurde literweise draufgeklatscht. Wir haben sogar Altäre bepinselt, das mußte viel sein, damit es auch tief einzog.«
Als vor über 15 Jahren Lindan und PCP als gefährliche Gifte entlarvt wurden, reagierten die Kirchenleitungen nur halbherzig. Zwar wurden zahlreiche Kindergärten entseucht, nicht aber Dome, Kapellen, Gemeindeheime oder Pfarrhäuser.
Die Industrie hat lediglich PCP und Lindan durch das Pilzgift Chlorthalonil und durch Pyrethroide ersetzt. Chlorthalonil hat die US-Umweltbehörde EPA bereits mit dem Verdacht belegt, möglicherweise Krebs zu erregen. Die künstlichen Nervengifte Pyrethroide sind dem Naturgift Pyrethrum nachempfunden, gelangen über Haut und Atmung in den Körper und greifen nach den Erkenntnissen von Umweltmedizinern das Nervensystem an.
»Fast überall, wo früher Lindan drin war, sind heute Pyrethroide drin«, sagt Beate Lift, Medizinsoziologin bei der Ingenieur-Sozietät für Umwelttechnik und Bauwesen im hessischen Dreieich. »Die Sachen sind genauso giftig wie früher - nur anders.«
Wieder sind vor allem Kirchenmitarbeiter die Opfer, zum Beispiel die Orgelbauerin Renate Ammer, 57, aus Hamburg. Seit 1992 saniert Ammer in den neuen Bundesländern marode Kirchenorgeln. Ende letzten Jahres brach sie mit Verdacht auf Herzinfarkt und Lungenentzündung zusammen. Monatelang war Ammer zuvor von Atembeschwerden, heftigen Kopfschmerzen und einer unerklärlichen Müdigkeit geplagt worden. Sie hatte an den alten Orgeln das bis heute zugelassene Holzschutzmittel Basileum der Firma Desowag verstrichen - eimerweise.
Renate Ammer ist eine der 21 Patienten, die Professor Holger Altenkirch in Berlin im Auftrag der Bundesregierung auf mögliche Vergiftungen mit Pyrethroiden untersucht, darunter Hotelgäste, die das Gift aus einem Elektroverdampfer gegen Mücken eingeatmet haben, sowie Menschen, die unter den Ausdünstungen ihrer Teppiche leiden.
Neurologe Altenkirch will das Ergebnis seiner Nachforschungen im Januar öffentlich machen. Bereits jetzt ist für ihn klar: »Es ist völlig unverständlich, daß mit diesen Stoffen Laien umgehen dürfen.«
Der Münchner Wissenschaftler Helmuth Müller-Mohnssen, der als erster bereits 1984 die Schädlichkeit von Pyrethroiden an Fröschen nachwies, hat nach eigenen Angaben rund 600 Fälle von Pyrethroidvergiftungen bei Menschen gesammelt. Er zählt eine ganze Litanei schwerer Schäden auf: Pilzbefall, Hautkrankheiten, Inkontinenz, Herzrhythmusstörungen und Asthma.
Müller-Mohnssen fordert, Pyrethroide sofort zu verbieten: »Kokain ist auch verboten, und diese Stoffe sind 100mal wirksamer als Kokain.« Das Bundesgesundheitsministerium will im nächsten Jahr immerhin handeln. Die Verordnung, Pyrethroide vom Markt zu nehmen, ist bereits fertig.
Umweltministerin Angela Merkel bereitet zudem ein Biozid-Gesetz vor: Die Wirkstoffe zur Schädlingsbekämpfung sollen staatlich geprüft und zugelassen werden. Bisher kann jeder Produzent anbieten, was er will. Doch zwei, drei Jahre wird es bis zu einer Verordnung noch dauern. »Wenn wir das Gesetz in dieser Legislaturperiode durchbringen«, so Wilfried Mahlmann vom Umweltministerium, »sind wir glücklich.«
Bis dahin raten die Experten, statt der chemischen Keule Omas Hausmittel zu benutzen. Lavendel statt Nexalotte gegen Motten, Fliegengitter statt Insektenspray, Moskitonetz statt elektrischer Verdunster. Und fürs Holz Bienenwachs zur Verschönerung oder Holzessig bei akutem Befall durch natürliche Schädlinge. Y