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ELSASS Blick auf den Altar

Die Elsässer fürchten eine neue Okkupation -- durch kaufkräftige deutsche Touristen.
aus DER SPIEGEL 31/1978

Jeden Morgen hißt Charles Gros vor seinem Haus bei Orbey im Oberelsaß die französische Trikolore. »Nur so merkt man«, erklärt der Aufseher des nahe gelegenen Soldatenfriedhofs, »daß hier, inmitten der Deutschen, noch ein Franzose lebt.«

Friedhofswärter Gros meint die heutigen Deutschen, denen die Invasion des linken Rheinufers abermals geglückt sei: Im französischen Grenzland herrscht Angst vor »den deutschen Besatzern« ("Le Nouvel Observateur") -- und Abscheu vor ihren Untugenden: Arroganz, Unhöflichkeit.

»Witze über die Deutschen im Elsaß bald druckreif«, überschrieb die in beiden Sprachen erscheinende Tageszeitung »l'Alsace« Berichte aufgebrachter Einheimischer.

»Zwischen einem Blick auf den weltberühmten Isenheimer Altar von Grünewald und dem Billigeinkauf im Supermarkt »Cora wollten sie, mit einem alten Stadtplan in der Hand, in Colmar den Weg zur Hitler- und zur Göringstraße wissen«, berichtete eine Verkäuferin, die dann »nur mit Mühe« die Frager zur rue de la République und zur rue Stanislas habe dirigieren können.

Schlimmer noch erscheint den Elsässern die Unkultur der Invasoren: »Die Deutschen schwärmen für Reizwäsche, die zu kaufen sie sich daheim nicht trauen«, schrieb »l'Alsace«. »Nur ein Deutscher«, meint ein Einheimischer, »bringt es fertig, eine Flasche Wein für 120 Franc zu kaufen, nachdem sie tage- und wochenlang in einem Schaufenster ausgestellt war.«

Dennoch ist der mangelnde Respekt der Deutschen vor den Ritualen der französischen Eßkultur nicht die Ursache des bitteren Spotts: Die wirtschaftlich schwächeren, von der Pariser Staatsbürokratie seit je vernachlässigten Elsässer fürchten vor allem die Polgen der finanziellen Stärke ihrer Nachbarn.

Denn seit die Mark so stark und der Franc so schwach ist, haben die Badener und Saarländer die vergleichsweise billige französische Grenzregion als Einkaufs- und Erholungsgebiet entdeckt: Während 25 000 Elsässer als Grenzgänger im Ausland ihrer Arbeit nachgehen müssen, fahren die Deutschen jedes Wochenende scharenweise in die Täler der Vogesen, die zunehmend mit deutschen Ferienbungalows verbaut werden.

lm Münstertal haben die Deutschen den Quadratmeterpreis für unerschlossenes Bauland auf 16 Franc getrieben. Vor 15 Jahren, ehe die »deutschen Kolonisatoren« (Le Monde") kamen,

handelten die Bauern ihr Land für 30 Centimes.

Auch in weniger berühmten, aber landschaftlich ebenso reizvollen Gegenden sind die Preise so weit gestiegen, daß sie für Einheimische unerschwinglich wurden: Sie verkaufen an die Deutschen und ziehen weg.

In Obersteinbach, einem kleinen Dorf im Unterelsaß, werden mehr als die Hälfte der 132 Häuser als Zweitwohnungen genutzt, größtenteils von Deutschen aus Karlsruhe und Saarbrücken. Bauernhof-Ställe wurden zu rustikalen Ferienräumen umgebaut, die Dorfschule ist geschlossen.

Den Ausverkauf ihrer Bergtäler nahmen die Einheimischen meist resigniert hin, weil die ungeliebten Nachbarn als geldbringende Kunden benötigt werden. Sogar die Gemeindekassen lassen sich mit Hilfe der Ausländer aufbessern: durch Verpachtung der Jagdreviere an die besser zahlenden Fremden. In den vergangenen Monaten wurden die Pachtverträge erneuert -- und seither sind 70 Prozent sämtlicher elsässischer Reviere an Deutsche und Deutsch-Schweizer vergeben.

Früher hatte etwa der Bürgermeister im nordelsässischen Quatzenheim, Ernest North, 1500 Franc für das 250-Hektar-Revier bezahlt. Die heutigen Pächter zahlen hingegen 9000 Franc in die Gemeindekasse -- mehr, als ein einheimischer Weidmann aufzubringen vermag. Maire North läßt seither seine Flinte im Schrank.

Die elsässische Jäger-Vereinigung, die der Überfremdung ihrer Jagdgründe tatenlos zusehen mußte, ordnete jetzt an, die obligatorische Jägerprüfung in französischer Sprache durchzuführen. Einige deutsche Nimrode sollen bereits auf der Strecke geblieben sein.

Die meisten Witze, die Elsässer über die reichen Deutschen erzählen, gelten der deutschen Unfähigkeit, Französisch wie ein Franzose zu sprechen.

Allerdings: fast die gleichen Witze kennen auch die Franzosen -- über die Elsässer.

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