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BILDUNG Blindflug ins Chaos

Die Unis sind mit der Auswahl der Studenten überfordert, weil sie mit Bewerbungen überschwemmt werden. Rettung bringen soll ausgerechnet die verhasste ZVS.
aus DER SPIEGEL 32/2008

Mareike Gudermann kann nichts dafür. Dass die 19-Jährige aus Erwitte in Westfalen zu einem Problem für die deutschen Hochschulen geworden ist - das liegt wirklich nicht an ihr.

Sie macht, was man sinnvollerweise so macht nach dem Abitur. Sie sucht einen Studienplatz. »Ich habe mich bei zwölf Hochschulen beworben«, sagt Gudermann, »vor allem für Architektur, zur Sicherheit aber auch für Jura.« Früher hätte sie sich dazu nur an eine einzige Institution wenden müssen, die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen, bekannt wie berüchtigt unter dem Kürzel ZVS. Weil sich aber die Hochschulen ihre Studenten heute gern selbst aussuchen, zog Gudermann gleich zwölfmal in den Papierkrieg.

»Hamburg wollte ein handschriftliches Motivationsschreiben sehen, Berlin eine Kopie des Personalausweises«, berichtet die Abiturientin. »Andere Universitäten haben einen Lebenslauf verlangt oder einen Nachweis über die Krankenversicherung.« Gudermann schickte die Dokumente quer durch die Republik - und ließ damit die Nöte vieler Uni-Verwaltungen ein wenig weiterwachsen.

Allerorts ächzen Hochschulen in diesem Sommer unter einer Rekordflut von Bewerbungen. An der Freien Universität Berlin kommen diesmal fünf Bewerber auf einen Platz, in Hamburg sind es sieben und in Bonn sogar acht. Die Auswahl wäre schon aufwendig genug, aber die Hochschulen haben ein weiteres Problem. Sie wissen nicht, wer einen angebotenen Studienplatz tatsächlich annimmt. Die Bewerber gerieren sich wie umschwärmte Junggesellen auf Brautschau: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich noch was Besseres findet.

Das führt zu Chaos - die aufwendigen Nachrückverfahren können sich noch bis weit nach Vorlesungsbeginn hinziehen. Und fatal ist die Konsequenz dieses großen Studienplatzlottos: »Am Ende drohen wieder Studienplätze vakant zu bleiben«, sagt die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, Margret Wintermantel.

Ursache ist die selbstverschuldete Mündigkeit der Universitäten. Jahrzehntelang schmähten Hochschulchefs und Bildungspolitiker die ZVS wahlweise als »das letzte Kuba«, »Kinderlandverschicker« oder auch »Chancentod«. Die Universitäten wollten die Studenten nicht mehr en gros geliefert bekommen, sondern nach eigenen Vorstellungen aussuchen. So wurden sie aus den Fängen des bösen Bürokratiemonsters ZVS in die große Freiheit entlassen. Dort stehen sie nun wunderbar unabhängig - und reichlich unbeholfen.

Der Hamburger Anwalt Dirk Naumann zu Grünberg, der oft Studienplätze für abgelehnte Bewerber einzuklagen versucht und sich damit keine Freunde in den Hochschulverwaltungen macht, wurde einmal gar von einer Universität gefragt, ob er nicht noch Jurastudenten für sie habe. »Die Verwaltung hatte die Zulassungsbescheide zu spät verschickt und stand plötzlich ohne Studenten da«, so der Anwalt.

Für mehr als die Hälfte der Studiengänge ist mittlerweile der Zugang beschränkt und eine besondere Bewerbung erforderlich. Vor allem die Vielfachkandidaten machen den Unis zu schaffen. Der Vizepräsident der Universität Osnabrück, Thomas Vogtherr, musste erfahren, »dass die Bewerber pokern, Fristen bis zum Äußersten ausreizen oder verzögert zusagen«. Verdenken könne er dies den angehenden Akademikern nicht: »Das ist zweckrationales Handeln - nur sitzen wir leider an der anderen Seite der Theke.«

Die Universität Bochum sah sich schon mit einer Abiturientin konfrontiert, die sich für sämtliche 35 Bachelor-Studiengänge mit Numerus clausus bewarb. Sie erhielt zunächst 21 Zulassungsbescheide, in den Nachrückverfahren sogar noch weitere. Nur mochte sie dann doch nicht in Bochum studieren und schrieb sich für kein einziges Fach ein.

Wegen solcher Wackelkandidaten verhalten sich die Hochschulen nun wie Fluggesellschaften. »Wir überbuchen, weil wir wissen, dass nicht alle kommen werden«, heißt es an der Universität Bonn. Im Durchschnitt verschicken die Bonner für jeden freien Platz vier bis fünf Zusagen. Anders als den Fluggesellschaften fehlen den Hochschulen freilich noch verlässliche Erfahrungswerte über die Quote der »noshows«. Die Folge ist, dass viele Hochschulen zu einem Blindflug abheben und im Herbst dann im Chaos landen.

Ein Sprecher der Universität Münster gibt zu: »Wenn mehr auftauchen, als wir eingeplant haben, haben wir ein Problem« - so schon einmal geschehen im Fach Germanistik. Normalerweise ist es jedoch umgekehrt. Anfangs erscheinen zu wenige, dann folgt Nachrückverfahren um Nachrückverfahren. Die Uni Münster etwa drehte im vergangenen Jahr fünf Extrarunden.

Schon die vierte kam zu spät für Lena Euler aus Hamburg. Als die Zusage ihrer Wunsch-Uni Münster eintraf, hatte sie sich in Kiel schon eingerichtet. Dort hatte Euler schnell eine Zusage für ihr Lehramtsstudium bekommen und gerade eine Einführungswoche der Fachschaft mitgemacht. »Da wollte ich nicht mehr wechseln«, sagt die 21-Jährige, die sich noch an zwei weiteren Universitäten beworben hatte.

Von einem »Glücksspiel« spricht die Abiturientin Birgit Pätzold aus Erwitte. Die 19-Jährige und ihre Zwillingsschwester Hannah haben sich an insgesamt 19 Universitäten beworben. Leider übersah Hannah in dem Vorschriftendschungel, dass sie in Bielefeld nicht nur für Sport, sondern auch für Germanistik eine Eignungsprüfung machen musste - so studiert sie ihre Wunschkombination nun in Münster.

Birgit hatte es ein bisschen einfacher. Sie bewarb sich zwar in der ganzen Republik, von Aachen bis Jena und von Kiel bis München, und das auch noch für vier verschiedene Studiengänge. Doch darunter befindet sich Medizin - in diesem Fach vergibt nach wie vor die ZVS die Studienplätze, so dass für sechs Städte eine einzige Bewerbung ausreichte. Die Dortmunder Behörde ist derzeit für sechs Fächer republikweit zuständig: Human-, Zahn- und Tiermedizin sowie Pharmazie, Diplom-Biologie und Diplom-Psychologie.

Nun aber scheint das verhasste Zentralorgan vor einer Renaissance zu stehen. Schon vor über vier Jahren hatte der Wissenschaftsrat ein ausreichendes Maß »an zentraler Koordinierung« empfohlen und dafür eine reformierte ZVS vorgeschlagen. Vor vier Wochen verständigten sich alle Bundesländer und die Hochschulrektorenkonferenz endlich, wie aus der ZVS eine »Stiftung für Hochschulzulassung« hervorgehen kann. Sie soll als »Serviceeinrichtung« neue Bedeutung erlangen, indem sie über die Studiengänge informiert und die Studentenauswahl koordiniert.

Die Studenten müssten und könnten dann nur eine einzige Bewerbung schicken. Das wird noch mindestens ein Jahr dauern und nur dann optimal funktionieren, wenn alle Hochschulen teilnehmen. Die SPD-Politikerin Ulla Burchardt, Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, würde die Hochschulen dazu gern verpflichten. Andere wollen es, jedenfalls erst einmal, auf freiwilliger Basis versuchen - und locken mit Geld.

Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) will auf dem Bildungsgipfel im Oktober den Ländern anbieten, insgesamt 15 Millionen Euro zu spendieren, davon 5 Millionen für 2009 und jeweils 2,5 Millionen für die vier folgenden Jahre.

ZVS-Direktor Ulf Bade geht derzeit schon bei den Hochschulverwaltern hausieren. Das Geld aus Berlin ist ihm ein willkommenes Verkaufsargument. »Damit könnten wir den Hochschulen unseren Service zumindest im ersten Jahr kostenlos anbieten.« JAN FRIEDMANN, MARKUS VERBEET

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