»Blüm läßt den kleinen Mann bluten«
Versprochen hatte Kanzler Helmut Kohl seinen Wählern ein »Jahrhundertwerk«. Was keine Bundesregierung vor ihm geschafft habe, prahlte der Generalist aus Oggersheim, werde unter seiner Führung jetzt endlich angepackt und durchgesetzt. Kohl in seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987: »Eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen wird unverzüglich eingeleitet.«
Die von Kohl geplante »Generalüberholung der sozialen Krankenversicherung« sollte zur Meisterprüfung christlich-liberaler Regierungskunst werden. Erstmals, so hatte die CDU/FDP-Koalition in Aufbruchstimmung angekündigt, werde entschlossen der Versuch unternommen, das marode, immer mehr Geld verschlingende Gesundheitssystem an Haupt und Gliedern zu kurieren.
Die Zeit der Quacksalberei mit halbherzigen Sparmaßnahmen sei vorbei, behauptete Arbeitsminister Blüm. »Diese Strukturreform«, versicherte er, »ist mehr als Kostendämpfung.«
Blüm, unablässig die Trommel rührend, machte das Reformprojekt zur Schicksalsfrage der Nation. Zwei Jahre focht er sich mit starken Sprüchen ("Stillstand ist Tod«, »Der Sozialstaat wächst uns über den Kopf") durch den Interessenfilz des Medizinbetriebs. In der Rolle des Drachentöters teilte er verbale Rundumschläge aus: »Es geht allen ans Leder.« »Die Krankenversicherung frißt die Beitragszahler auf« - er, Blüm, als Anwalt des »kleinen Mannes« werde das verhindern und die Braven vor den Nichtsnutzigen schützen: »Die Cleveren nutzen die Solidarität aus, und die Anständigen bezahlen sie.«
Nur nebenbei ließ er auch einmal ein Hauptmotiv seines Reformeifers durchblicken: »Es sollen nicht allein die Versicherten entlastet werden, sondern auch die Unternehmen von arbeitsplatzverhindernden hohen Lohnnebenkosten.«
Dann, am 25. November 1988, verabschiedete der Bundestag das Reformwerk. Am 1. Januar trat es in Kraft. Doch das im Eiltempo durchgepeitschte »Gesundheits-Reformgesetz« - dem allein aus den Reihen der Regierungskoalition 200 Änderungsanträge in den Bundesrat nachgeschickt wurden - ist umstrittener denn je. Von allen Seiten wird die Blüm-Reform mit Kritik eingedeckt: Ärzte, Krankenkassen, Industrie, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Kirchen lassen kaum ein gutes Haar an Blüms Rettungsunternehmen.
In den Leserbriefspalten der Tageszeitungen entlud sich die Wut der Patienten über gekürzte Leistungen. Meist waren es Rentner oder Behinderte, die sich beklagten. »Wer nichts zu beißen hat, braucht auch keine Zähne«, laute wohl Blüms Motto, schrieb Gerhard Trebs aus Ahrensburg an seine Gewerkschaftszeitung.
Beim rheinischen Karneval war die Reform das große Thema. Wann immer in den Büttenreden der Name Blüm fiel, grinsten die Narren erwartungsvoll der nahenden Pointe entgegen: »Liegst du erst mal in der Kiste, brauchst du keine Brill' mehr, siehste!« Blüm wolle seine ovale Spaßbrille zum Kassenmodell promovieren ("Blüm-Zwicker") oder ein Gemeinschaftsgebiß für die ganze Familie einführen, juxten die Jecken.
Blüms Gesundheitsreform wurde zum politischen Renner - aber anders, als der Minister und die CDU sich das vorgestellt hatten. »Gesundheitsreform« war, wie die Gesellschaft für Deutsche Sprache feststellte, das »Wort des Jahres 1988« - ein Schreckenswort (noch vor »Robbensterben«, »Kälbermast-Skandal« und »Tiefflug"). Spätestens bei der Berliner Wahl Ende Januar zeigte sich, wie tief der Unmut bei den Betroffenen sitzt. Bürgermeister Eberhard Diepgen verbuchte einen Teil seiner Wählerverluste umgehend auf das Konto des Reformators Blüm, der mit seiner Unschuldsmiene das Patientenvolk nicht täuschen konnte.
Nun zittern die Unionschristen vor den nächsten Wahlen und fürchten, das Reizthema Blüm-Reform könne sie abermals Stimmen kosten. Bei der letzten SPIEGEL-Umfrage über die Stimmungslage der Nation sackten die Sympathiewerte für die beiden Protagonisten der Reform, Norbert Blüm und Heiner Geißler, dramatisch, bei dem einen um sechs, bei dem anderen um elf Prozentpunkte (SPIEGEL 9/1989).
Blüm, ganz aufgehend in der Rolle des David gegen den »Lobbyismus in der Gestalt eines Goliaths«, versteht die Welt nicht mehr. Für den Volkszorn macht er teils die Kassen verantwortlich, die angeblich ihre Klientel nicht richtig aufgeklärt haben, teils die Interessenvertreter von Pharma-Industrie und Ärzteschaft mit ihrer Gegenpropaganda. Daß er von denen über den Tisch gezogen wurde, darf er nicht zugeben - das ist sein Malheur.
»Als einer der großen Sozialpolitiker der Nachkriegszeit«, so Geißler über seinen Freund Norbert, werde Blüm »in die Geschichte eingehen«. Der Größe des - nach wie vor ungelösten - Problems sind die volltönenden Worte angemessen. Politiker aller Lager sind sich seit langem darüber einig, daß das bundesdeutsche Gesundheitssystem von Grund auf reformiert werden muß:
Die Belastung durch Versicherungsbeiträge hat einen Grad erreicht, der weder den Versicherten noch der Volkswirtschaft länger zuzumuten ist. Kosten und Beitragssätze steigen seit Jahrzehnten unkontrolliert.
Dem aufgeblähten Medizinbetrieb steht nicht in gleichem Maße ein Zuwachs an Gesundheit gegenüber. Die bundesdeutsche Medizin, so der Heidelberger Sozialmediziner Professor Hans Schaefer, »ist das Geld nicht wert, das sie kostet«.
Das System ist so angelegt, daß es eine verschwenderische, ineffektive Medizin geradezu herbeizwingt. Die niedergelassenen Ärzte werden durch das Krankenschein-Abrechnungssystem zu betrügerischem Handeln geradezu angestiftet.
Derzeit verschlingt der gigantische medizinisch-industrielle Komplex, der sich in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik entwickelt hat, jedes Jahr die unvorstellbare Summe von 250 Milliarden Mark, etwa zehn Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Medizinbranche setzt mehr Geld um als die gesamte Automobilindustrie oder die Chemie-Industrie. Die Gesundheitsausgaben pro Bürger, durchschnittlich 4116 Mark pro Jahr, sind fünfmal so hoch wie die für Bildung und liegen noch über den Ausgaben für Nahrungs- und Genußmittel.
Als Wachstumsbranche war das Gesundheitswesen über viele Jahre unerreicht. So kletterten die Ausgaben für Krankenhäuser von sechs Milliarden Mark im Jahre 1970 auf 39,2 Milliarden Mark im Jahre 1987, mehr als vervierfacht haben sich im gleichen Zeitraum die Aufwendungen für Arzneimittel. Die Kosten für Zahnbehandlung kletterten in den genannten Jahren gar auf mehr als das Fünffache (siehe Graphik Seite 41).
Alle Versuche in der Vergangenheit, dieser grotesken Kostenanstiege Herr zu werden, haben unterm Strich nichts gebracht, jedenfalls keine Trendwende. Die Kostendämpfungsgesetze ("K-Gesetze") von 1977, '81, '82, '83 sind weitgehend verpufft - den Versicherten wurde immer mehr »Selbstbeteiligung« aufgebürdet (ein Roßtäuscher-Begriff, ohnehin bezahlen die Versicherten alles selbst). Im letzten Jahr betrugen die Zuzahlungen aus der eigenen Tasche schon 5,6 Milliarden Mark.
Jetzt sollen, mit Blüms Reform, nochmals acht Milliarden Mark draufgesattelt werden - was bei den Betroffenen für entsprechenden Aufruhr sorgte. Beispiele:
Zahnersatz: Nur noch 50 Prozent der notwendigen Kosten (bisher 70 bis 80 Prozent) werden von der Kasse übernommen.
Arznei-, Heil- und Hilfsmittel: Die Liste der Medikamente, die nicht auf Kassenrezept verordnet werden dürfen, wird ausgeweitet. Für Brillen, Hörgeräte und Medikamente werden Festbeträge eingeführt. Die Rezeptgebühr für Arzneimittel erhöht sich von bisher zwei Mark auf drei Mark. Bei jeder Massage werden statt bisher vier Mark zehn Prozent der Behandlungskosten fällig, sogenannte Bagatell-Hilfsmittel wie Gelenkbandagen und Augenklappen werden gar nicht mehr erstattet.
Fahrtkosten: Taxifahrten zur ambulanten Behandlung werden (außer in nachzuweisenden Härtefällen) nicht mehr ersetzt.
Sterbegeld: um die Hälfte gekürzt und gestrichen für alle, die nach Jahresbeginn 1989 in die Gesetzliche Krankenversicherung eintreten.
»Total stinkig«, so erzählt Gabi Müller, Sprechstundenhilfe bei einem oberschwäbischen Allgemeinarzt, seien zahlreiche Patienten auf das »Blümsche Narrenspiel«. »Was würden Sie den Bundeskanzler fragen, wenn er jetzt vor Ihnen stünde?« wollte ZDF-Moderator Reinhard Appel von Zuschauern wissen. Antwort eines Ruheständlers: »Ich habe 50 Jahre gearbeitet. Jetzt geht mein Gespartes drauf, wenn ich krank werde.«
Geharnischt waren die Proteste, mit denen das Volk der Krankenversicherten auf Blüms hochgespannte Reformversprechungen reagierte. 48 Prozent der Befragten, so das Ergebnis einer Umfrage im Januar, stimmen der Feststellung zu, Blüm lasse »den kleinen Mann bluten«. Nie zuvor hatten die Bonner Kostendämpfer so rabiat hingelangt - und niemals so zielstrebig in die Taschen des Patienten.
Ziel der Reform war es, Versicherte und »Leistungsanbieter des Gesundheitswesens« gleichermaßen zu belasten, auf diese Weise sollten Finanzspielräume für neue Leistungen wie beispielsweise häusliche Pflege geschaffen und das Gesundheitssystem vor dem Finanzruin bewahrt werden.
Ursprünglich hatte Blüm gehofft, mit seinem Sparprogramm die Kassenbeiträge auf mittlere Sicht senken zu können. Doch daraus wird nichts. »Wir können schon mehr als froh sein, wenn wir mit der Reform ein paar Jahre die Beiträge stabil halten«, umschrieb der AOK-Bundesvorsitzende Wilhelm Heitzer das absehbar dürftige Ergebnis der Bonner Sparmaßnahmen. Und das ist nur erst die halbe Wahrheit. Das Gesundheitswesen, so Heitzer weiter, werde nicht etwa billiger, sondern die Kosten würden »schlichtweg von den Kassen auf die Patienten verlagert«.
»Das Gesundheits-Reformgesetz ist wie eine leckgeschlagene Jacht, die mit zerfetzten Segeln den Hafen erreicht hat« - so wenig Vertrauen in die Strahlkraft der Reform hat sogar einer, der im Bonner Arbeitsministerium maßgeblich am Gesetz mitgestrickt hat, der im Blüm-Ministerium für die Krankenversicherung verantwortliche Ministerialdirektor Karl Jung.
Was die Betroffenen - 37 Millionen Mitglieder der Gesetzlichen Krankenkassen - am meisten bewegt, ist die »Empörung über die ungerechte Verteilung der Lasten« (so die Überschrift eines Leser-Forums im »Hamburger Abendblatt"). Von der in Aussicht gestellten fundamentalen Strukturreform des Gesundheitswesens kann in der Tat keine Rede sein:
Die Krankenhäuser, mit einem Drittel der Kassenausgaben größter Kostenfaktor im Gesundheitswesen, blieben bei der Reform außen vor.
Der von Blüm großangekündigte »Solidarbeitrag der Pharma-Industrie«, der 1,7 Milliarden Mark betragen sollte, fiel unter den Tisch. »Ohne diesen Solidarbeitrag« werde die Reform »nicht zu machen sein«, hatte der Minister im Dezember 1987 vor dem Bundestag erklärt - aber die Pharma-Lobby obsiegte.
Anstatt die verkrusteten Strukturen des westdeutschen Gesundheitssystems aufzuknacken, wird die Reform sie eher noch befestigen - schon weil als Folge der Selbstbeteiligung noch mehr Finanzmasse ins Spiel kommt. Der große Reibach wird weitergehen.
Wehgeschrei über Einkommensschwund gibt es bisher nur in den Randzonen des Gesundheitsmarktes.
Blüms Verdacht, daß ein Anschwellen der krankheitsbedingten Fahrtkosten von 184 Millionen Mark im Jahre 1970 auf 1,7 Milliarden Mark 1987 nicht mit rechten Dingen zugegangen sei, war in der Tat nicht von der Hand zu weisen - nun geraten die Taxifahrer ins Schleudern. In Dortmund etwa registrierte die Funktaxi-Zentrale einen Rückgang der Krankenfahrten um 80 Prozent.
»Für uns geht es den Bach herunter«, sagt auch Torsten Thieme, Inhaber einer Praxis für Kuranwendungen an der Ostseeküste. Die in der Vergangenheit aufgeblähten Sanatorien und Kurbetriebe werden - zu Recht - weiter schrumpfen. Und sogar bis auf die Friedhöfe wird die Blüm-Reform nach Meinung der »Hannoverschen Allgemeinen Zeitung« durchschlagen: »Der Markt für triste Billigtrauer-Zeremonien« werde »wahrscheinlich wachsen«. Schon im Vorfeld der Blüm-Reform hatte die Friedhofs-Lobby Front gemacht: Mit dem Sterbegeld gehe »auch die Funktion des Friedhofs zur Trauerbewältigung unrettbar verloren«, trauerte Jürgen Hillebrecht vom Innungsverband der Steinmetze; eine »Verödung der gewachsenen deutschen Friedhofskultur« sei zu befürchten.
Aufwind hingegen meldet die Bank-Branche. Wer sich zum Empfang von Zahnersatz in die Waagerechte kippen läßt, wird künftig vorher vom Zahnarzt auf seine Bonität durchleuchtet werden. Aus der Branche wird berichtet, in den Wartezimmern zahlreicher Zahnarztpraxen tauchten neuerdings Bankenvertreter auf, um an Ort und Stelle entsprechende Kreditangebote zu unterbreiten.
Auch die privaten Krankenversicherer stehen in den Startlöchern, um die Früchte der Bonner Gesundheitsreform zu ernten: Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, die sich vor den Zusatzkosten durch die Gesundheitsreform fürchten, können sich mit einem »Ergänzungstarif« (zwischen 6 und 43 Mark monatlich) bei den Privaten gegen die Bonner Reform versichern - der Tarif, so ein Sprecher der Hamburger Hanse-Merkur, gleiche »nahezu alle Nachteile« des Blüm-Gesetzes aus.
Mit Genugtuung vermerkt der Verband der privaten Krankenversicherer, daß die Zahl der Überläufer zu den Privatkassen seit Jahresbeginn beständig zunimmt. »Nicht nur Angestellte, sondern auch über 40 000 Arbeiter«, so der Bonner SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler, seien in den letzten beiden Monaten »aus den Gesetzlichen und Betriebskrankenkassen ausgetreten und zu den Privaten übergewechselt«.
Vor allem jüngere Leute und Gutverdienende streben von den Gesetzlichen Krankenkassen weg - und sorgen dafür, daß die ungleiche Verteilung von Risiken bei den verschiedenen Kassenarten zunimmt: Die privaten Krankenkassen ziehen die risikoärmeren Beitragszahler an. Die Gesetzlichen Krankenkassen hingegen, allen voran die AOK, versammeln die Schwerkranken und Pflegebedürftigen, die Alten und sozial Schwachen auf sich. So führt Blüms »Sozialpolitik mit Herz« dazu, daß die Allgemeinen Ortskrankenkassen, weil sich bei ihnen die »schlechten Risiken« stauen, als erste wieder die Beiträge werden erhöhen müssen.
Nach dem Motto »Rette sich, wer kann« läuft die vielzitierte »Solidargemeinschaft der Versicherten« auseinander, die als gewerkschaftliche Selbsthilfebewegung vor mehr als 100 Jahren ihren Anfang nahm. Um das wirtschaftliche Krankheitsrisiko abzufedern, hatten Arbeiter und Handwerker damals in eigener Regie Hilfskassen eingerichtet, aus denen im Krankheitsfall Arzt- und Medikamentenkosten bestritten wurden.
Zug um Zug wurden diese Vorsorgeinitiativen, von der preußischen Obrigkeit als sozialistische Umtriebe beargwöhnt, unter staatliche Kuratel gestellt, bis hin zu Bismarcks »Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter« vom Jahre 1883, das den Grundstein für das im Kern bis heute beibehaltene System der gesetzlichen Pflichtversicherung legte.
Anfangs saßen die Kassen gegenüber den »Leistungsanbietern« am längeren Hebel. Die Ärzte waren für die Kassen als angestellte oder Vertragsärzte tätig und blieben lange ohne gemeinsame Interessenvertretung.
Die aggressive ärztliche Standespolitik, die um die Jahrhundertwende mit der Gründung des »Hartmannbundes« ("zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen") begann, verschob die Gewichte immer mehr in Richtung auf die Ärzteschaft und beeinflußte von Anfang an die 1911 verabschiedete »Reichsversicherungsordnung« (RVO), jenes Gesetzeswerk, das als Schwungrad den immer gewaltigere Ausmaße annehmenden Medizinbetrieb in Gang hält.
Seine bis heute gültige Form, mitsamt dem offenbar grenzenlosen Potential zu Fehlentwicklungen, erhielt das RVO-System im Dezember 1931, als - nach einer Serie von Ärztestreiks - per Notverordnung die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) als öffentlich-rechtliche Körperschaften eingerichtet wurden. Das war der entscheidende Schritt zur Entmachtung der Krankenkassen, die von nun an nicht mehr einzelnen Ärzten, sondern der geballten Kraft der organisierten Ärzteschaft gegenüberstanden.
Die Reste der Kassen-Selbstverwaltung wurden in der Nazi-Zeit beseitigt. Als zusätzliche Standesorganisation kam die »Reichsärztekammer« ins Leben, die nach 1945 - ideologisch notdürftig bereinigt - als »Bundesärztekammer« fortlebte und sogleich wieder machtvoll ins standespolitische Fahrwasser einschwenkte.
Das »Gesetz über das Kassenarztrecht«, das 1955 beschlossen wurde, verhalf der Ärzte-Lobby zu einem bis heute fortwirkenden Triumph: Den niedergelassenen Ärzten wurden vom Gesetzgeber das Monopol für die ambulante Behandlung ("Sicherstellungsauftrag") und die alleinige Sorge für die »Wirtschaftlichkeit der Behandlung« übertragen. Damit war eine stetig sprudelnde Geldquelle eröffnet, an der ohne Einschränkung jeder arbeitswillige Mediziner teilhaben kann, seit das Bundesverfassungsgericht 1960 die (Kassen-)Zulassungsfreiheit für jeden approbierten Mediziner ausrief.
Diese gesundheitspolitischen Weichenstellungen beförderten die niedergelassenen Ärzte ins Zentrum eines Systems, das »marktwirtschaftlich strukturiert ist, dem es aber an allen die Märkte sonst kennzeichnenden Regelmechanismen mangelt« (Sozialmediziner Schaefer).
Mit dem Rezeptblock in der Hand und dem Krankenschein im Karteikasten konnten die niedergelassenen Mediziner nicht nur ihre Einkünfte weitgehend selbst regulieren; sie übernahmen auch eine Steuerfunktion für das gesamte, längst milliardenschwere Geschäft mit der Krankheit: Sie allein bestimmen, welche und wie viele Medikamente verordnet werden, bestellen nach Gusto die Patienten zu sich ein oder schleusen sie, per Überweisung an den Facharzt, in die kostenintensive Apparate-Diagnostik; sie verschreiben Kuren, Bestrahlungen und Massagen. Für jeweils 100 Mark Honorar, die ein niedergelassener Arzt kassiert, verursacht er durch seine Anordnungen 470 Mark Folgekosten.
Ein entscheidender Kostentreibsatz in diesem System ist das Prinzip der Vergütung nach »Einzelleistungen": Nach verbindlichen Gebührentabellen können die Ärzte jeden, aber auch jeden Handgriff einzeln beziffern, bewerten und berechnen. Dieses Instrument zur Steuerung des eigenen Einkommens nutzen die niedergelassenen Ärzte virtuos. Als unlängst durch eine Änderung der Gebührenordnungen plötzlich Bestrahlungen weniger gut und dafür Hausbesuche besser honoriert wurden, erschienen die Doktoren mit nie dagewesener Häufigkeit am Krankenbett.
Die finanzielle Drehscheibe des 250-Milliarden-Marktes aber sind die Gesetzlichen Krankenkassen - an diesem Gesundbrunnen nähren sich alle Leistungsanbieter, von den Arztpraxen über die Zahnärzte, die Kliniken, Labors und Apotheken bis hin zur Pharma-Industrie und den Herstellern medizinischer Apparaturen (siehe Graphik Seite 40). Der zahlenden Kundschaft - dem Heer der Krankenversicherten, ohne Lobby und bisher ohne nennenswerten politischen Einfluß - kommt dabei eine eher passive Rolle zu.
Und nahezu grotesk mutet für den Laien jener Mechanismus an, der, vor allem anderen, die Kosten des westdeutschen Gesundheitssystems hat explodieren lassen: Die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenkassen (sprich: die Versichertenbeiträge) wurden Jahr um Jahr angehoben; die Kassen gaben jeder zusätzlichen Geldforderung der Leistungsanbieter nach. Das System geriet zu einem fast uferlosen Selbstbedienungsladen - ein, wie Sozialmediziner Schaefer meint, »bei marktkonformen Handlungen geradezu unerhörter Sachverhalt«.
Dem lobenswerten Ziel, »Überversorgung« und »Verschwendung« zumindest in Teilen des Medizinbetriebes abzubauen, hat sich Reformator Blüm allenfalls um wenige Schritte angenähert. So sollen etwa die Gesetzlichen Krankenkassen in Zukunft ihre Verträge mit Kliniken kündigen dürfen, wenn diese unwirtschaftlich arbeiten oder wenn für sie kein Bedarf mehr besteht. Gelockert werden soll die bisher starre - und überaus unwirtschaftliche - Trennung zwischen den Krankenhäusern und den Praxen der niedergelassenen Ärzte: Patienten sollen künftig, etwa vor und nach Operationen, auch ambulant im Krankenhaus behandelt werden können - eine für die Praxis-Ärzte geradezu revolutionär anmutende Neuerung, die ihre bisher (durch den »Sicherstellungsauftrag") einbruchsicher umzäunten Pfründen annagt.
Niedergelassene Ärzte andererseits haben bei der Einweisung in die Klinik auf die Höhe des jeweiligen Pflegesatzes zu achten (die Kassen werden dazu Vergleichslisten vorlegen). Zur Entlastung der astronomisch teuer gewordenen Krankenhäuser soll der Bereich der häuslichen Pflege verstärkt werden, durch finanzielle Zuwendungen an die Pflegepersonen. 6,4 Milliarden Mark Mehrausgaben jährlich sind dafür eingeplant - die allerdings müssen durch Einsparungen andernorts erst hereingeholt werden.
Sogar in den Pharma-Dschungel will sich Kostendämpfer Blüm demnächst mit der Machete vorarbeiten, ein Herkules-Auftrag in der Bundesrepublik, dem Land mit den (nach Frankreich) höchsten Arzneimittelpreisen der Welt.
Nach Blüms Vorstellungen sollen für Arzneimittel mit identischen oder vergleichbaren Wirkstoffen, aber auch für solche mit vergleichbaren therapeutischen Anwendungsgebieten Erstattungsgrenzen festgelegt werden, bis zu deren Höhe die Kassen die Bezahlung übernehmen. Solche »Festbeträge« zu ermitteln, so Blüm, sei Sache der Kassen. Doch da geht das ganze Elend schon wieder los.
Die Kassen könnten, schließlich sind sie Großabnehmer, mit der Pharma-Industrie knallhart umspringen. Doch sie sind schon untereinander uneins, und sowohl die Ersatzkassen als auch die AOK, die sich nur mühsam vom Odium der Arme-Leute-Krankenkasse befreit hat, fürchten, daß ihr Image leiden könnte, wenn sie ihren Versicherten nur noch »Billig-Medizin« bezahlen. Da werden die Pharma-Multis auf Zugeständnisse bauen dürfen.
Der Präsident des Bundeskartellamtes, Wolfgang Kartte, hat den Braten schon gerochen: Kungeleien zwischen Pharma-Industrie und Krankenkassen über die Arzneimittelfestbeträge, warnte er, dürfe es nicht geben. Kassenfunktionären schärfte der Kartellwächter ein, »dem Konflikt mit der pharmazeutischen Industrie« keinesfalls »aus dem Wege zu gehen«. Vorsichtshalber forderte sein Berliner Amt die Protokolle der bisher gelaufenen Gespräche zwischen Kassen und Industrie an.
Auch der DGB sah sich genötigt, seine Vertreter in den Spitzenverbänden der Krankenkassen vor Absprachen mit der Pharma-Industrie zu warnen: »Um des lieben Friedens willen« zwischen Kassen und Pharma-Herstellern, so argwöhnte Alfred Schmidt, Leiter der Abteilung Sozialpolitik des DGB, würden offensichtlich die »vorhandenen Festbetragsspielräume nicht ausgeschöpft«.
Nicht nur auf dem Pharma-Sektor, auch bei den praktizierenden Heilberuflern stiftete Blüm Unruhe: Ärzte und Zahnärzte sollen - horribile dictu - einer »verschärften Wirtschaftlichkeitskontrolle« unterworfen werden. Zusätzlich zu den bisherigen Praxisprüfungen soll es künftig Stichproben geben, die pro Jahr acht Prozent der Kassenärzte einbeziehen.
Ein Aufschrei in der ärztlichen Standespresse war die Folge: Gegen derlei »staatsanwaltschaftliche Bedrohungen und Eingriffe in das Vertrauensverhältnis Arzt-Patient durch ,Stichproben' mit Quasi-Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht bei allumfassender Dokumentation« müsse man kämpfen, kämpfen, kämpfen.
Ohnehin sind die niedergelassenen Ärzte, dieser von den Wonnen des Wohlstands bisher beispiellos verwöhnte Berufsstand, in heller Aufregung. Es herrscht Katastrophenstimmung:
Die sogenannte Ärzteschwemme, ein Heer von jährlich 12 000 Jungärzten, drängt auf den Markt - ein bisher nicht gekannter Konkurrenzkampf ist entbrannt.
Die Gewinnaussichten in den Praxen der Ärzte sind gedämpft, seit ihnen 1985 der verhaßte »Honorardeckel« übergestülpt wurde - das Gesamthonorar der niedergelassenen Ärzte darf nicht stärker steigen als die Grundlohnsumme.
Das Deckelsystem funktioniert so: Den Kassenärztlichen Vereinigungen wird von den Gesetzlichen Krankenkassen vierteljährlich ein Honorar-Pauschalbetrag überwiesen, den diese dann nach einem Punktsystem (EBM = Einheitlicher Bewertungsmaßstab) an die Ärzte verteilen.
Folge: Die Ärzte können - im ganzen - ihr Einkommen nicht weiter durch Vermehrung ihrer Einzelleistungen steigern. Weiten sie die Leistungen aus, sinkt der Punktwert. In Berlin beispielsweise ist das Schreckliche geschehen: Von etwa zehn Pfennig rutschte im dritten Quartal 1988 der Punktwert auf unter acht Pfennig; im Klartext: Eine »Beratung, auch mittels Fernsprecher« (80 Punkte) ist in Berlin nicht mehr acht Mark, sondern weniger als 6,40 Mark wert.
Die Ursachen für diesen Honorarschwund, so die »Ärzte Zeitung«, seien »im eigenen Lager zu suchen«. Vor drohenden Einkommenseinbußen suchen die Mediziner sich zu retten, indem sie die Zahl ihrer »Leistungen« in die Höhe manipulieren. So wurden im letzten Sommerquartal in Berlin fast zwölf Prozent mehr Leistungen abgerechnet - aber die Rechnung der ärztlichen Schlauberger ging nicht auf: Die Punktwerte fielen entsprechend.
Gegen das System der kommunizierenden Honorar-Röhren laufen die Praktiker Sturm, derzeit meucheln sie reihenweise ihre angestammten KV-Vorstände hin, die sich vor vier Jahren auf das Verfahren eingelassen haben. Das waren alles würdige Herren, die für das KV-Ehrenamt Aufwandsentschädigungen von mehr als 10 000 Mark im Monat bezogen, in prächtigen Büros ein paar Stunden am Tag abgesessen und ihre Praxis mit der linken Hand weiterbetrieben haben.
In gewohnt irrationaler Manier geht jetzt das ärztliche Fußvolk, organisiert zum Beispiel in der Zentralen Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte (ZAG), den etablierten Standesherren ans Fell. ZAG-Sprecher Winfried Schorre: »Den in den fetten Jahren eingeschlafenen Kampfgeist der fünfziger Jahre müssen wir neu zum Leben erwecken.« Vor allem, so Schorre, gelte es Front zu machen gegen »den katastrophalen EBM und die existenzgefährdende Deckelung unserer Honorare«.
Daß der störende Deckel vom Honorartopf der Ärzte wieder verschwindet, ist allerdings unwahrscheinlich. Darauf zu hoffen, meint sogar Erwin Hirschmann, Bundesvorsitzender des Verbandes der niedergelassenen Ärzte, sei »gleichbedeutend mit dem Glauben an die deutsche Wiedervereinigung": Auf Mitgefühl dürfen die Doktoren nicht rechnen, dafür geht es ihnen immer noch viel zu gut.
Das sehen sie, en famille, auch selber ein: »Im Grunde müßte es möglich sein«, formulierte das einschlägige Fachblatt »Arzt und Wirtschaft«, »die bald 70 000 niedergelassenen Kassenärzte mit der jährlichen Gesamtvergütung, die rund 22 Milliarden Mark beträgt, angemessen zu honorieren. Denn diese Summe bedeutet immerhin einen Durchschnittsbetrag pro Praxis von über 300 000 Mark.«
Damit, jammern Standespresse und Ärztefunktionäre, kämen viele Praxis-Inhaber nicht mehr aus, weil die Betriebskosten steigen, weil teure Apparate amortisiert werden müssen und die Doktoren sich in vielen Fällen - privat und beruflich - hoch verschuldet haben.
In den zurückliegenden Jahrzehnten der Fettlebe wußten Ärzte und Zahnärzte kaum, wohin mit dem Geld. Viele steckten - reich, aber geschäftsuntüchtig - ihre Gewinne in steuerbegünstigte Bauherrenmodelle oder ähnliche Investitionsprojekte. Obendrein lebten sie auf großem Fuß, bauten Prunkvillen, kauften Reitpferde und Luxusautos. In den achtziger Jahren, als die Grenzen des medizinischen Wachstums näherrückten, kam statt der Rendite der Gerichtsvollzieher - heute, berichtet das Ärzteblatt »Status«, müssen jährlich 700 bis 1000 Praxen dichtmachen: »Bereits fünf Prozent aller niedergelassenen Ärzte stehen unter Bankaufsicht.«
»Status« lieferte Beispiele: Dr. S., Zahnarzt, gründete 1978 seine Praxis, erzielte rasch »glänzende Umsätze« bis zu 600 000 Mark pro Jahr. Der Kassen-Hai beteiligte sich an fünf Bauherrenmodellen mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Millionen Mark. Dazu verbriet er privat jährlich 150 000 Mark für Haus und Familie, mehrere Autos und zwei Reitpferde. Die Scheidung von der Ehefrau machte ihm kürzlich den Garaus: Der durch Bauherrenpleiten schon angeschlagene Zahnmediziner hatte, bei einem Jahreseinkommen von 300 000 Mark, jährlich 370 000 für Unterhaltszahlungen, Kreditdienste, Altersvorsorge und Steuerschulden aufzubringen.
»Status« zieht das Resümee: »In Zukunft wird es vor allem den Unternehmer-Arzt geben, der die Dienstleistung ,Medizin' wesentlich unter kaufmännischen und marketing-bestimmten Grundsätzen anbieten muß. Nur wer sich darauf vorbereitet, kann überleben.«
In der Zwischenzeit behelfen sich nicht wenige Ärzte mit ein bißchen Schummelei oder auch handfestem Abrechnungsbetrug: »In keiner Praxis geht es ordnungsgemäß zu«, weiß der Justitiar einer Kassenärztlichen Vereinigung (siehe Kasten Seite 56). In eher harmlosen Fällen werden falsche Ziffern der Gebührenordnung angewandt oder ärztliche Leistungen abgerechnet, die in Wahrheit vom Praxis-Personal erbracht wurden, dafür gibt es Rügen, Abzüge oder Bußgelder.
Ernst wird es, wenn nichterbrachte Leistungen den Kassen in Rechnung gestellt werden. Mitte 1988 ermittelten die Staatsanwälte bundesweit gegen 1100 Kassenärzte wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug. Ein Hamburger Radiologe betrog die Kassen um 1,4 Millionen Mark, ein Bochumer Urologe um 480 000 Mark. Alles in allem, konstatierte Fred Nadolny, Geschäftsführer des AOK-Landesverbands in Dortmund, sei »das Unrechtsbewußtsein bei vielen Ärzten wenig ausgeprägt«.
Vor allem in Nordrhein-Westfalen, wo besonders viele Ärzte wegen betrügerischer Abrechnungen unter Verdacht stehen, fühlen sich die Doktoren jetzt »verfolgt« und »kriminalisiert«. Seit die Staatswanwälte rührig ermitteln, klagen die Praktiker, daß sie von ihren Standesoberen »im Regen stehengelassen« werden. Doch es gibt auch Angehörige der innerärztlichen Opposition, die sich nicht mehr scheuen, darauf hinzuweisen, daß es das in der Welt einmalige westdeutsche System der Krankenkassen-Abrechnung sei, das dem Lug und Betrug Vorschub leiste.
Vom »Krankenschein-Unwesen« spricht beispielsweise der Internist Axel Munte von der »Arbeitsgemeinschaft Münchener Kassenärzte": »Es ist im Geschäftsleben einfach unseriös, jemandem einen Blankoscheck in die Hand zu geben. Das ist Aufforderung und Anstiftung zum Betrug, wenn man 76 000 Kassenärzten - denen es zum Teil wirtschaftlich sehr schlecht geht - Blanko-Krankenscheine in die Hand gibt.«
Zu den bisherigen Übeln - Honorardeckel, EBM, Ärzteschwemme - droht den Praktikern womöglich bald neues Ungemach: Zu den Punktwerten, die zu jeder Einzelleistung gehören, könnte sich ein Zeitfaktor gesellen. Dieses Schreckgespenst hat ein Doktor heraufbeschworen, der gegen Honorarkürzungen klagte; die waren ihm abverlangt worden, weil er mehr Leistungen abgerechnet hatte, als ein Mensch im fraglichen Zeitraum vernünftigerweise schaffen kann.
Im Zusammenhang mit der Klage entschied das Landessozialgericht München, daß eine »eingehende Untersuchung« mindestens 17,5 Minuten dauern muß. Würde ein solcher Zeitmaßstab für alle Leistungen festgelegt, gerieten die Ärzte beim »Auslasten« der Krankenscheine in arge Bedrängnis, »dann müßten manche einen 36-Stunden-Tag haben«, schätzt ein KV-Jurist.
Was sich da an Zündstoff bei den niedergelassenen Ärzten ansammelt, ist nur ein kleiner Teil des Schlamassels, in den das westdeutsche Gesundheitssystem geraten ist. Die Krise des Medizinbetriebs ist, über das bloße Kostenmanagement hinaus, ein Dauerthema seit mehr als zwei Jahrzehnten.
Ebensowenig wie vordem die sozialliberale Koalition hat es die Blüm-Mannschaft vermocht, gesundheitspolitische Grundsatzfragen an den Anfang einer Reform zu stellen - etwa die Frage, wieviel hoch kostenintensive Medizinapparatur sich die Gesellschaft eigentlich leisten will. So wurde geschätzt, für den Raum München würden neun Computertomographen (Stückpreis: rund zwei Millionen Mark) benötigt; jetzt stehen allein in dieser Region 25 solcher Geräte, mehr als in ganz Italien.
Auch beim jüngsten Bonner Anlauf zielte der Reformeifer im wesentlichen wieder auf die Vermutung, die Patienten mit ihrem »Anspruchsdenken« hätten vorrangig zur Kostenexplosion beigetragen. »Wo es Freibier gibt, da wird gesoffen«, so die mißweisende Hypothese des gesundheitspolitischen Sachverständigenrates des Bundestages. Sie mag allenfalls auf bestimmte Bereiche wie das Kurwesen oder das Verlangen nach Glücks- und Beruhigungspillen, Massagen und Packungen zutreffen. Doch wird sich die Zahl derer, die sich aus purem Lustgewinn operieren oder Spritzen verpassen lassen, in Grenzen halten.
Dem Freibier-Gedanken folgt mit innerer Logik die Zuflucht zur »Selbstbeteiligung«. Diese Art von Reform aber, die auf eine Teilprivatisierung der Krankheitskosten hinausläuft, schafft neue Risiken: Je mehr Geld direkt zwischen Patienten und »Leistungsanbietern« über den Tisch geschoben wird, desto schwieriger wird es, Fehlentwicklungen im Medizinwesen politisch zu steuern.
Eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen der Blümschen Gewaltkur werden sich ohnehin bemerkbar machen. Bei Taxifahrt-Kosten beispielsweise tun sich neue Mißbrauchsquellen auf, besonders in ländlichen Bereichen rings um die Uni-Städte. Bestellt eine Klinik beispielsweise einen Patienten ambulant zu Nachuntersuchungen ein, werden die Fahrtkosten nicht erstattet - wohl aber, wenn der Klinikarzt sich bereit findet, denselben Patienten für zwei Tage auf die Station zu legen. Die Mehrkosten für die Kasse sind erheblich, wenn auf diese Weise ein oder zwei Bettentage hinzukommen.
Enormen (und entsprechend teuren) Verwaltungsmehraufwand bei den Kassen erwarten Experten, weil beispielsweise die veränderte Kostenerstattung beim Zahnersatz künftig die Kassen zwingt, nicht mehr einmal pro Quartal eine große Summe an die KV abzuführen, sondern jede genehmigte (und vom Patienten vorab verauslagte) Rechnung am Quartalsende an die einzelnen Zahnärzte zu überweisen.
Das Gesetz sei »mit der heißen Nadel genäht«, kritisierte Helmut Kallrath, Präsident des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen; eine Prozeßlawine werde auf die Sozialgerichte zukommen.
Von einer »Verwirrungsreform« sprechen auch die geplagten Angestellten bei den Krankenkassen, die unter den Telephonsalven verstörter Versicherter fast zusammenbrachen.
Dialyse-Patienten und Krebskranke, die regelmäßig zur Therapie müssen und um die Erstattung der Fahrtkosten bangen; chronisch Kranke, die erfahren hatten, daß künftig Schlaf- und Abführmittel, Naturheilmittel und Medikamente gegen zu niedrigen Blutdruck von den Kassen nicht mehr erstattet werden; Frauen, die sich beklagten, daß die künstliche Befruchtung nicht mehr bezahlt wird, obwohl doch die einleitende Hormonbehandlung bei ihnen schon erfolgt sei - für jeden dieser Verunsicherten mußten die Kassenberater eine passende Antwort suchen.
»Wir bemühen uns, das Gesetz machbar zu gestalten«, so der Geschäftsführer der Barmer Ersatzkasse in Hamburg-Altona. Um die Aufregung zu dämpfen, waren die Kassen bestrebt, »versichertenfreundliche Auslegungen« für den Gesetzestext zu finden - da wird Blüms Sparwille schon wieder konterkariert.
Weitgehend ausgenommen vom Reformprogramm bleiben auch die 1,8 Millionen Beamten, für die Bund und Länder jährlich rund fünf Milliarden Mark Beihilfe zu den Krankheitskosten zahlen. Eine höhere Selbstbeteiligung der Beihilfeberechtigten für ihren Zahnersatz, so der Bundesinnenminister, wäre ein »Verstoß gegen den Wesenskern der Fürsorgepflicht« und komme daher nicht in Frage. Auch das Bundesverwaltungsgericht hatte letztes Jahr befunden, die Beihilfe gehöre zur Alimentation, welche durch die »hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums« begründet werde, und sei deshalb nicht kürzbar.
Wird die Reform also kostensenkend wirken? Nimmt man das Jahr 1988 als Ausgangspunkt für die Rechnung, dürfte Blüm einen Sparerfolg vorweisen können - aber nur scheinbar. Denn daß die Kosten im laufenden Jahr 1989 gegenüber dem Vorjahr stagnieren, wird nur den sogenannten »Blüm-Bäuchen« zu verdanken sein.
In einem Anfall von kollektiver Torschlußpanik rasten die Krankenversicherten im vergangenen Jahr zu Zahnärzten und Optikern, um sich vor dem angekündigten Spar-Schnitt noch schnell einzudecken. So stiegen im vierten Quartal 1988 bei den 62 niedersächsischen Ortskrankenkassen die Ausgaben für Zahnersatz, verglichen mit dem gleichen Vorjahresquartal, um sage und schreibe 121,1 Prozent.
Für das Gesamtjahr 1988 betrug die Zunahme bei Zahnersatz 51 Prozent. Auch sonst fielen die Steigerungsraten im vierten Quartal saftig aus - 65,3 Prozent bei Hörgeräten, 44,6 Prozent bei Brillen. Zu einem (bisher kaum beachteten) Beschaffungsschub kam es auch bei Arzneimitteln: Die Patienten lagerten, in konzertierter Aktion mit den Ärzten, massenhaft Medikamente ein, um die in diesem Jahr fällig werdende Zuzahlung zu vermeiden. Je nach Kasse rechnet Dietrich von Leszynski vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen mit einem Zuwachs an Arzneimittelausgaben für das letzte Quartal zwischen 25 und 60 Prozent. Insgesamt hat die Panikreaktion allein die Ortskrankenkassen 1,7 Milliarden Mark gekostet - Blüm-Bäuche essen Reform auf.
Eine kritische Abschätzung des unterm Strich zu erwartenden Spareffektes gibt es bereits aus den Reihen der Krankenkassen-Mathematiker. So werden nach Ansicht des AOK-Bundesverbandes durch die Reform nicht die von Blüm anvisierten 13,8 Milliarden Mark, sondern nur 7,9 Milliarden Mark eingespart werden. 6,4 Milliarden Mark aber werden nach Ansicht der Kassenfunktionäre nötig sein, um die häusliche Pflege zu finanzieren. Einsparungen und Mehrausgaben gleichen einander also ungefähr aus - die Reform wird zum Nullsummenspiel.
So ist unter Insidern kaum mehr umstritten, daß die Blümsche Reform-Tat auf bloßes Stückwerk geschrumpft ist - eine Interimslösung mit gesundheitspolitisch zweifelhaftem Effekt.
»Medikament & Meinung«, Organ des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, beruhigte schon seine Leser: Die Novellierung des Gesetzeswerkes sei bereits »programmiert«. Gewichtige Ursachen des Kostenanstiegs - »die Krankenhäuser und die Überalterung der Versicherten« - würden von der Blümschen Reform »kaum oder überhaupt nicht tangiert«. Nach den Feststellungen des Bundesarbeitsministeriums könnten von den rund 670 000 der Akutversorgung dienenden Krankenhausbetten in der Bundesrepublik rund 100 000 abgebaut werden. Geschätzte Ersparnis: über zwölf Milliarden Mark.
Die Krankenhausträger haben dieser Rechnung widersprochen. Eine Verminderung der Bettenzahl in solchem Umfang sei unmöglich, solange entsprechende alternative Einrichtungen, etwa für Dauerpflegefälle, fehlen. Gewiß trägt dieser Sachverhalt dazu bei, daß die durchschnittliche Verweildauer in bundesdeutschen Krankenhäusern nach wie vor weit über der in anderen Ländern liegt. Sie beträgt in der Bundesrepublik 13 Tage, in den USA beispielsweise nur etwa sieben Tage.
Naheliegend war der in Bonn aufkeimende Verdacht, Norbert Blüm habe den dynamitgeladenen Krankenhausreport aus seinem eigenen Hause am liebsten unter Verschluß halten wollen - weil sonst offenbar geworden wäre, daß er den großen Brocken Krankenhaus-Kosten eigentlich in den Mittelpunkt seines Reformwerks hätte stellen müssen.
»Das Gesetz wird noch zahlreiche Korrekturen erfahren«, resümierte auch Professor Horst Bourmer, Vorsitzender des Hartmannbundes: »Es dürfte dem Kölner Dom ähneln, der baulich zwar seit 1880 abgeschlossen ist, an dem aber permanent Erneuerungen vorgenommen werden müssen und der deshalb stets mit Baugerüsten umgeben ist.«
Die politische Renovierung des monumentalen Bauwerks wird nicht nur an den Fassaden, sondern bei den Grundkonzeptionen anzusetzen haben: Der medizinische Fortschritt, von Diagnosegeräten über Intensivstationen bis hin zu Kunstherzen und Transplantationen, bietet mehr, als die Gesellschaft bezahlen kann. Sie wird sich mithin zu entscheiden haben, was und wieviel davon sie finanzieren will.
70 Prozent aller Ausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen dienen schon jetzt der medizinischen Versorgung von Rentnern. Bei der stationären Behandlung im Krankenhaus verursachen zehn Prozent der Versicherten 99,6 Prozent der Ausgaben - der größte Teil dieser Aufwendungen fällt in den letzten zwei Lebensjahren der Kranken an.
Bis zu welchem Punkt kann ein derartiges Mißverhältnis weiter eskalieren, angesichts der vorausberechenbaren Vergreisung dieser Gesellschaft?
Derlei fundamentale Fragen werden in einer SPIEGEL-Serie erörtert, deren Abdruck im nächsten Heft beginnt. Verfasser ist Professor Walter Krämer, Mathematiker und Volkswirt, der sich seit Jahren mit Problemen der Gesundheitsökonomie befaßt.
Die Hoffnung, der Gesundheitskarren werde sich, weil vernünftige Lenker am Werke sind, schon irgendwie in die richtige Richtung bewegen, ist nach Meinung Krämers besonders illusionär. Zu vieles im gegenwärtigen Medizinbetrieb beruhe auf Irrationalem, auf einem Trend zur kollektiven Verdrängung des Todes etwa oder auf den Heilserwartungen, welche die naturwissenschaftliche Medizin selber in die Welt gesetzt hat.
Die Frage beispielsweise »Wie viele Ärzte brauchen wir?« sei »in keiner Weise objektiv beantwortbar«, argumentiert Krämer. Und ebenso werde das Grunddilemma des modernen Medizinbetriebs - »die unüberbrückbare Kluft zwischen Verheißung auf der einen und Erfüllung auf der anderen Seite« - auch von Blüms Enkeln noch nicht schlüssig zu beantworten sein. #