RAUB Blut und Brillanten
Der Gangster-Boß glich einem populären Quizmaster. Und fast ein Jahr lang gab er der Kripo Rätsel auf, die unlösbar schienen.
Er führte Europas erfolgreichste Räuberbande des letzten Jahrzehnts. Wo er als Bandit auftrat, floß Blut und verschwanden Brillanten. Seine Gang erbeutete Gold und Juwelen en gros. Sie raubte
- am 19. November 1963 beim Juwelier Trachte in Bochum, Bleichstraße 6 (Beute: Schmuck im Wert von 30 000 Mark);
- am 3.Januar 1964 beim Juwelier Gerling in Witten/Ruhr, Bahnhofstraße 15 (Wert der Beute: 73 000 Mark);
- am 28. Februar beim Juwelier Bolland in Dortmund, Westenhellweg 100 (Wert der Beute: 97 000 Mark);
- am 1. April beim Juwelier Grove (Konrad Vockel KG) in Essen, Brandstraße 29 (Wert der Beute: 30 000 Mark);
- am 20. April beim Juwelier Möllers in Gelsenkirchen-Buer, Hochstraße 74 (Wert der Beute: 30 000 Mark);
- am 2. Mai beim Juwelier Jäger in Siegen, Markt 55/57 (Wert der Beute: 115 000 Mark);
- am 7. Juni beim Juwelier Inden in Amsterdam, Leidsetraat 52 (Wert der Beute: 60 000 Mark);
- am 31. Juli beim Juwelier Brexel in Gelsenkirchen, Bochumer Straße 75 (Wert der Beute: 115 000 Mark).
Keines der erlesenen Schmuckstücke tauchte je wieder auf. Nie wurden die maskierten Täter erkannt. Fest stand lediglich, daß immer dieselbe Bande am Werk gewesen war: Die Ganoven benutzten stets bei ihren Überfällen gestohlene Automobile vom Typ Opel Rekord. Sie schlugen stets die Panzerglas-Schaufenster mit einem eisernen Maurer-Fäustel (anderthalb Kilo) ein.
Sie begingen ihre Überfälle im Ruhrgebiet stets in den Abendstunden zwischen 20.50 Uhr und 22.55 Uhr - jeweils kurz bevor - die Juweliere (gewöhnlich nach der letzten Kinovorstellung) die Scherengitter vor den Schaufenstern herunterließen; jeweils in der Zeit, zu der die Funkstreifenwagen zum Revier fahren und die Besatzungen wechseln (gewöhnlich gegen 22 Uhr).
Der Chef-Schütze schoß stets mit Geco-Munition aus einer belgischen Pistole des Modells 9. Millimeter - FN
("lang"). Weitere Schußwaffen der Gang: zwei italienische Beretta-Pistolen; Kaliber 9 Millimeter ("kurz"). Polizeibeschreibung der Verbrechensausführung: »Opelfahrzeuge mit Schußwaffengebrauch«
Die Bande schoß in Bochum einer Passantin in den Bauch, in Witten einem Fußgänger in den Oberschenkel. In Gelsenkirchen lieferte sie der Polizei ein Feuergefecht. Und die Kripo glaubt, daß der FN-Schütze der Mann war, der in der Fernfahrergaststätte »Onkel Albrecht« am Ruhr-Schnellweg zwischen Unna und Werl auch den Gastwirt Albrecht Höhmann, 70. und dessen Schwester Lina, 60, niederstreckte.
Der Doppelmord geschah in der Nacht zum 25. August. Es war die Zeit, da sich endlich eine Fährte ausmachen ließ: Der Überfall auf den Juwelier Jos Inden zweieinhalb Monate zuvor in Amsterdam (Werkzeug: ein Fäustel westfälischer Produktion) war von einer Holländerin und deren Tochter beobachtet worden. Sie gaben zu Protokoll, einer von drei Banditen sehe einem prominenten Holländer ähnlich - dem Quizmaster Theo Eerdmans.
Theo Eerdmans war kein Bandit, aber sein Photo half dem Dortmunder Kripo-Oberkommissar Heribert Löblein, der in Deutschland die Ermittlungen führte. Löblein verglich des Eerdmans-Bild mit den Aufnahmen im Verbrecheralbum.
Er stieß auf, den Einbruch-Spezialisten Petras Dominas, 35, gebürtiger Litauer, jetzt staatenlos, von Beruf Typograph, ohne festen Wohnsitz.
Außer dieser physiognomischen Spur wiesen nun auch andere Indizien auf Dominas hin. Er gehörte nach den Kripo-Akten zu jenen Gewaltverbrechern, die entgegen der Ganoven-Weisheit, daß mehr als vier Jahre Zuchthaus von Übel seien, unbedenklich schießen und damit das Risiko (lebenslänglich oder Sicherungsverwahrung) nicht mehr kalkulieren. Seine Schießwut ließ sich die Kripo in Unterweltkreisen erläutern: Dominas wolle »ein Jahr lang hart arbeiten und nach Kanada auswandern«.
Aufgrund dieser Belastungsmomente wurde gegen Dominas am 23. September Haftbefehl beantragt. Drei Tage später, am Sonnabend vorletzter Woche, traf sich Oberkommissar Loblein mit seinem holländischen Kollegen Pieter Landman in dessen Büro am »Singel« in Amsterdam. Es war 9.30 Uhr.
Acht Minuten lang hörte Kommissar Landman, Pfeife rauchend, dem Kollegen Löblein zu. Als der Holländer das Polizei-Photo von Dominas in die Hand nahm, um es genauer zu studieren, knallte es.
Es waren Schüsse in nächster Nähe. Unmittelbar darauf schrillten Alarmklingeln. Landman und Löblein eilten aus dem Haus und waren nach hundert Metern am Tatort: vor dem Juwelierladen ("Diamonds Wholesale") von Herman Schipper im Helligeweg 3.
Die Schaufenster waren zertrümmert, Gold und Diamanten im Versicherungswert von 380 000 Mark verschwunden, und an der Ecke stand ein Opel Rekord.
In diesem Augenblick, angesichts dieser Tatumstande, mußte sich Löblein des kriminalhistorischen Kuriosums bewußt werden: Der Zufall hatte Räuber und Gendarm am selben Tag, zur selben Stunde, am selben Ort, in einem fremden Land zusammengeführt - bis auf hundert Meter und 15 Sekunden.
48 Stunden später wußte Löblein, wie es dazu gekommen war. Anfang letzter Woche waren verhaftet, festgenommen oder im Verhör:
- wie erwartet der Gangster-Boß
Petras Dominas (sowie als Mittäter der Arbeiter Helmut Balk, 30, und der Hilfsarbeiter Paul Cichetzki, 24, beide aus Bottrop);
- gänzlich unerwartet die Essener Rechtsanwältin und Notarin Marianne Kreuzer, 55, und deren jüngste Tochter Gerlinde, 21, Optiker-Assistentin.
Die Spurensicherung der Kriminalpolizei, die Einvernahme von Verdächtigten und Zeugen ermöglichten es bis zum letzten Wochenende, den Überfall der Banditen genau nachzuzeichnen, aber die seltsame Rolle der Anwaltsfamilie nur ungefähr zu erhellen:
Seit dem 20. August haben Bandenmitglieder auf dem Camping-Platz Amsterdamse Bos am Südrand von Amsterdam Quartier gemacht. Am 29. August stehlen sie in Hilversum dem Pastor Stavemann einen geliehenen schwarzen Opel Rekord. Baujahr 1961 (Kennzeichen: GG 79-76). Petras Dominas fährt mehrmals in das Nordseebad Noordwijk aan Zee: zur Anwaltstochter Gerlinde Kreuzer, die sich mit ihrem Verlobten, einem deutschen Studenten, eingemietet hat. Gerlinde Kreuzer führt
lange Telephongespräche mit ihrer Mutter in Essen.
Am 19. September soll der Überfall nach ursprünglichen Plänen stattfinden. Per Taxi kommt die Anwältin aus Essen nach Noordwijk, spricht zehn Minuten mit ihrer Tochter und fährt wieder mit dem Taxi nach Essen zurück. Der Juwelenraub wird verschoben. In Gerlinde Kreuzers Notizbuch lesen Kriminalbeamte später unter diesem Datum: »P. D. war nicht erfolgreich.«
Am 25. September verläßt Dominas den Campingplatz. Mit Gerlinde Kreuzer bezieht er im Amsterdamer Hotel »Polen« ein Doppelzimmer, Dominas als Paul Egon Dittmers (Personalausweis und Führerschein lauten auf diesen Namen).
Am 26. September, dem Tag der Tat, starten im Morgengrauen Marianne Kreuzer und die ältere Tochter Irma, 25. Jura-Studentin, im Ford Consul Capri (Kennzeichen E - EK 90) von Essen nach Amsterdam. Der Wagen parkt auf dem Rokin, einer belebten Verkehrsstraße, unmittelbar vor dem gestohlenen Opel Rekord der Banditen.
Gegen 8 Uhr dieses Tages treffen sich Dominas. Balk und Cichetzki auf dem Munt, einem Platz in der Nähe des Juwelierladens von Herman Schipper. Die Waffen werden verteilt, »Klatscher« Balk (Ganoven-Jargon für Schaufenster-Zertrümmerer) bekommt einen Fäustel.
9.15 Uhr: In einem Tea Room, 25 Meter von Juwelier Schippers Geschäft entfernt, haben Mutter Marianne Kreuzer und Töchter Platz genommen - »Logenplatz«, wie Gerlinde Kreuzer später der Polizei mitteilt. Die Bühne ist Herman Schippers Laden, der Vorhang das gußeiserne Schutzgitter vor den Auslagen.
9.20 Uhr: Der Vorhang geht hoch. Chefverkäuferin Paula Versteeg, 45, holt die kostbarsten Brillanten und Schmucksachen aus der Stahlkammer und placiert sie im Schaufenster.
9.30 Uhr: Dienstmädchen Grietje -Smit, 18, beginnt die Fenster der Auslagen zu putzen.
9.38 Uhr: Grietje Smit wird von hinten gepackt, sie fühlt eine Pistole im Rücken: »Ich dachte, ich rühre mich nicht, dann komme ich vielleicht noch gut davon.« Paul Cichetzki zieht sie auf die Straße und schießt dreimal in die Luft.
In diesem Augenblick taucht Dominas (dunkle Brille, Handschuhe, Hut tief auf dem Kopf, Gesicht geschwärzt) im Juwelierladen auf. Er ruft »Hands up« und schießt in die Stuckdecke. Juwelier Herman Schipper, 52, greift einen Schemel, um ihn nach Dominas zu werfen. An seinem Kopf zischt eine Kugel vorbei. Schipper läßt den Schemel fallen. Ein dritter Schuß zerfetzt ein Vitrinenfenster und verwundet die Verkäuferin Versteeg.
Im Büro hinter dem Geschäft wählt ein Angestellter die Telephonnummer 88 888: Polizei. Helmut Balk zerschmettert mit seinem Fäustel das Panzerglas und räumt die Auslagen aus. Alle drei flüchten.
9.39 Uhr: Die Kommissare Landman und Löblein erscheinen am Tatort. Am Rokin startet der Banditen-Opel. Nach kurzer Fahrt stehen die Ampeln auf Rot. Ein Polizeiwagen ist da. Die Gangster machen auf kreischenden Reifen kehrt. Die aufgeschreckte Besatzung
des Funkstreifenwagens nimmt die Verfolgung des verdächtigen Fahrzeugs auf.
9.43 Uhr: Der Funkstreifenwagen bleibt im Verkehr stecken, alarmiert die Polizei-Zentrale. Als wenig später die Verfolgung des schwarzen Opel angeordnet wird, haben die Banditen ihren Wagen - auf der Snoekjes-Gracht schon verlassen.
9.45 Uhr: Sie betreten den Bäckerladen von Freddy Brongersma. Cichetzki kauft zwei Päckchen geschnittenes Rosinenbrot, wird dann von Dominas zum Camping-Platz zurückgeschickt.
9.55 Uhr: Dominas und Balk betreten in der Keizerstraat das Friseur-Geschäft von Cornelis Boedeyn. Balk läßt seine Haare schneiden. Dominas läuft nervös hin und her, schaut immer wieder zur Tür hinaus.
10.08 Uhr: Familie Kreuzer betritt den Schuhladen Hessels, der unmittelbar neben dem Juweliergeschäft Schipper liegt. Die Damen kaufen Schuhe und erkundigen sich bei der Verkäuferin nach dem Hergang des Überfalls.
10.12 Uhr: Dominas und Balk steigen am Nieuwmarkt in einen hellgrauen Taunus 12 M und fahren zum Campingplatz zurück. Sie wechseln ihre Kleider und vergraben in einem Waldstück einen Teil der Beute und die Pistolen.
Während in Holland die größte polizeiliche Suchaktion der letzten zehn Jahre anlief, lösten sich die beiden Gruppen der Akteure und der Zuschauer wieder auf: Balk startete mit dem Auto nach Bottrop. Cichetzki nahm einen Zug nach Oberhausen. Dominas ging ins Hotel »Polen« - das war auch das Ziel von Gerlinde Kreuzer. Schwester Irma und Mutter Marianne fuhren am Nachmittag nach Essen zurück.
Längst hatte der Dortmunder Kripo-Oberkommissar Löblein den Zeugen des Überfalls Photos von Dominas vorgeführt und sich Gewißheit verschafft, daß in der Tat Dominas den Coup gelandet hatte. Prompt veranlaßte er die Fahndung nach dem Opel Rekord BOT - Y-241, der in den Monaten zuvor nach den Ermittlungen in Deutschland von Dominas und seiner Freundin Betty, einer Schwester Balks, gefahren worden war.
Ein Polizist entdeckte das Auto am Nachmittag gegenüber dem Hotel »Polen«. Kriminalbeamte mit entsicherter Pistole postierten sich. Sie warteten immer noch, als die Nacht hereinbrach, und auch noch, als der Morgen kam.
Die Kriminalbeamten Van Oostrom und Halsema übernahmen nun, die Lauerwache. Um 12.30 Uhr traten ein Mann und eine Frau an den Wagen, aus dessen Vorderreifen die Polizisten über Nacht die Luft abgelassen hatten. Es waren Petras Dominas und Gerlinde Kreuzer. Beide wurden festgenommen.
Der Bottroper Opel verriet - nachdem Balk in Bottrop schon verhaftet worden war - schließlich auch den dritten Mann. Eine grüne Versicherungskarte, die sich im Wagen befand, war auf den Namen Cichetzki ausgestellt.
Die Dortmunder Kripo lud den Fahrzeughalter routinemäßig als Zeugen, und Cichetzki fiel um: Er wisse schon, weshalb er vorgeladen sei, er habe den Überfall in Amsterdam mitgemacht.
Im Haus der Balk-Schwester Betty entdeckte die Kripo Juwelen, die von einem früheren Raubüberfall in Gelsenkirchen stammten Im Wald bei Amsterdam entdeckte sie auch den versteckten (geringen) Teil der Beute vom jüngsten Raub. Der Weg zum vergrabenen Schatz war durch Pfadfinderzeichen markiert.
Die forsche Rechtsanwältin Marianne Kreuzer war mittlerweile wieder in Amsterdam, um sich bei der Kripo zu erkundigen, warum denn Tochter Gerlinde festgehalten werde. Die Anwältin wurde ebenfalls festgehalten: Zögernd gestand sie - zuerst, daß sie von dem Raubüberfall im vorhinein gewußt habe: später, daß sie von Dominas erpreßt wurde und für ihn zwei Pistolen besorgt habe.
Dominas war der rechtskundigen Witwe kein Unbekannter. Ihr - 1958 verstorbener - Ehemann war dem Litauer Jahre zuvor im Zuchthaus Werl begegnet, Volljurist Kreuzer als verurteilter Kriegsverbrecher, Petras Dominas als verurteilter Einbrecher. Als er später wieder vor Gericht mußte, hieß seine Verteidigerin Marianne Kreuzer.
Aus dem Mandanten wurde ein Freund des Hauses, der sich im Schlafzimmer der Töchter in Essen, Karnaper Markt 2. dem Familiensport widmen durfte: Schießübungen mit drei Luftpistolen auf Zielscheiben mit Kugelfang.
Kriminal-Oberkommissar Löblein: »Daß sich Frau Kreuzer in Holland - vielleicht nur aus Neugierde - in ein ungewöhnliches Abenteuer eingelassen hat, mag einem außergewöhnlichen Interesse am Lebensstil eines ihrer Klienten zuzuschreiben sein.«
Ob Marianne Kreuzer vornehmlich aus Neugierde einer Einladung von Dominas folgte, einmal einen Raubüberfall zu beobachten; ob sie die Bandenchefin war, wie Boulevardblätter vermuteten; ob sie von Petras Dominas erpreßt worden war, wie sie selbst gestand allein wurde sie mit ihrer Situation nicht mehr fertig.
In der letzten Woche nahm die Anwältin einen Anwalt,
Gangster Dominas, Freundin Betty
Nach dem Raubüberfall...
Dominas-Tatort in Amsterdam
... Rosinenbrot vom Bäcker
Rechtsanwältin Marianne Kreuzer
Zum Verbrechen eingeladen?