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AUSLÄNDER Blutbad an der Tür

Seit Jahren lebt eine Tschetschenin, die 1995 in Grosny vier Militärs getötet hat, als Flüchtling in Deutschland. Jetzt wollen die Russen ihre Auslieferung verlangen.
Von Jürgen Dahlkamp, Georg Mascolo und Christian Neef
aus DER SPIEGEL 50/2002

Grosny im Herbst 1995: Asja D. starrte auf ihre Wohnungstür. Die vier Männer waren jetzt schon im Treppenhaus. Wenn die Tür aufflog, würde die Zeit reif sein, und Asja D. betete: »Bitte gib mir Kraft, Allah.«

Da brachen drei Russen und ein tschetschenischer Milizionär auch schon die Tür auf. Und die Frau drückte ab, schoss immer auf die Köpfe, mit Dauerfeuer, so wie die Rebellen es ihr erklärt hatten. Schoss zwei Magazine der Kalaschnikow leer, die sie ihr gegeben hatten. Immer wieder hätten diese Männer sie belästigt, gepeinigt und misshandelt, so hat sie ihre Tat begründet. Mehr will sie nicht sagen.

Es war ein Blutbad, nur eines von Tausenden im ersten Tschetschenien-Krieg, aber dieses eine beschäftigt jetzt, sieben Jahre später, die deutsche Justiz. Und mehr noch: Es bringt die deutsche Politik, bis hinauf zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, in Not. Denn Asja D., 49, lebt in Karlsruhe, als anerkannter Flüchtling. Und seit sie Ende Oktober, während des Geiseldramas im Moskauer Musical-Theater, dem Nachrichtensender N-tv ein Interview gegeben hat, in dem sie freimütig die Tat bekannte, ist der Fall D. zum Politikum geworden.

Schon nach einem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin im November in Oslo musste sich Kanzler Schröder von einem russischen Fernsehmann die Frage gefallen lassen, ob in Deutschland »solche Art Leute frei herumlaufen dürfen und dazu noch einen Status als politischer Asylant erlangen«. Der Kanzler sagte umgehend eine Prüfung zu, man werde »auf der Basis unserer Verfassung und unseres Rechtssystems tätig« werden.

Bereits drei Tage später aber erschien ein Abgesandter der russischen Botschaft im Auswärtigen Amt in Berlin und überbrachte eine Verbalnote: was denn nun geschehen sei, ob man schon wisse, wer die Frau sei, wo sie wohne und ob bereits ermittelt werde.

Jetzt, drei Wochen später, kündigt der Sprecher der Botschaft, Michail Grabar, an, »selbstverständlich« werde Russland einen Auslieferungsantrag für Asja D. stellen, das Papier sei in Arbeit. Und wie sehr Putins Beamte die Sache zum Sieden bringen wollen, dafür spricht auch der Umgang mit dem Sender N-tv: Die Russen gehen die N-tv-Macher heftig an, zeigen sich empört, dass die Fernsehleute Asja D. auf den Bildschirm gelassen haben.

Wohl um die Empörung in der Heimat noch anzuheizen, hatten die Russen das Bildmaterial, das sie auf verschlungenen Wegen bekommen hatten, noch mal in bester Agitprop-Manier angeschärft. Die Notwehrsituation, in der sich Asja D. bei der Erschießung der vier Soldaten nach eigener Darstellung befunden haben will, erwähnte der vom Kreml längst gleichgeschaltete Fernsehkanal ORT mit keinem Wort.

Die russische Übersetzung erweckte stattdessen den Eindruck, die Frau habe überlegt und kaltblütig gemordet: zuerst den Männern in die Beine geschossen, sie dann mit »Kontrollschüssen« in den Kopf getötet.

So mächtig der Druck aus Moskau, so groß nun auch der Erklärungszwang, in den die Bundesregierung geraten ist. Schon in Oslo - neben sich Putin - hatte Kanzler Schröder pikiert angemerkt, »wenn sich jemand eines Mordes bezichtigt, muss das Konsequenzen haben, gar keine Frage«. Nun prüft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg, ob man Asja D. den Aufenthaltsstatus wieder aberkennen kann. Und am gleichen Tag, an dem die Russen im Auswärtigen Amt vorstellig wurden, forderte das Bundesjustizministerium das baden-württembergische Justizressort auf, die Angelegenheit umgehend prüfen zu lassen. Mord oder Totschlag komme in Frage, assistierte das Bundeskriminalamt.

Tatsächlich hat die Staatsanwaltschaft Karlsruhe daraufhin ein Ermittlungsverfahren eingeleitet - der Vorwurf: Totschlag in vier Fällen. »Wir gehen davon aus, dass auch hier deutsches Strafrecht gilt«, bestätigt ihr Sprecher Peter Zimmermann - selbst wenn Asja D. Ausländerin ist und die Schüsse im Ausland fielen.

Doch was auch immer die Ermittlungen bringen werden - die Bundesregierung steckt gegenüber den Russen in der Klemme. Denn entweder wird Asja D. verurteilt, dann fragen die Russen zu Recht, warum erst jetzt. Oder sie wird freigesprochen, dann muss Schröder seinem in diesem Punkt überaus empfindlichen Freund Putin leider mitteilen, dass russische Soldaten in Tschetschenien offenbar Frauen systematisch quälen, die dann in berechtigter Notwehr schießen, schießen dürfen.

Für die Russen ist die Sache klar: Sie haben die Deutschen im Verdacht, mit geflüchteten Terroristen allzu sanft umzugehen. Es gebe »Agenturen der Terroristen« in Dänemark, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien - und auch in Deutschland, entrüstete sich kürzlich die staatsnahe Zeitung »Iswestija«. Mit Terroristen ist auch Asja D. gemeint, die bis heute engen Kontakt zu prominenten tschetschenischen Exil-Politikern hält.

Tatsächlich stellt sich die Frage: Warum hat sich kein Staatsanwalt mit Asja D. befasst, als sie 1998 mit dem Schiff aus St. Petersburg in Deutschland ankam und 1999 als Flüchtling anerkannt wurde? Schon damals hatte die Frau nämlich bei der Anhörung des Bundesamts freimütig jenes Blutbad in Grosny beschrieben, das jetzt die Ermittler interessiert.

Doch das Wegschauen war durchaus typisch und lag auf der Linie einer anderen Praxis, die bis zu den Terroranschlägen in New York niemanden störte: Bis dahin war es schließlich auch Usus, Ausländern Asyl zu gewähren, selbst wenn sie Gruppen angehörten, die in ihrer Heimat die dortigen Regime mit Gewalt und Terror bekämpften - und sich in ihren Anhörungen solcher Taten rühmten.

Andererseits steht Schröders Regierung aber gerade bei den tschetschenischen Flüchtlingen vor dem Dilemma, dass die Kaukasus-Schlacht auch von den Russen äußerst schmutzig geführt wird. In einem geheimen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Tschetschenien ist von »massivem und exzessivem Gewalteinsatz« der Regierungstruppen die Rede. In Lagern der Russen werde offenbar »systematisch gefoltert«, die »menschenrechtliche Lage« bleibe »äußerst besorgniserregend«. Es geht also nicht allein um den Einzelfall Asja D., sondern auch darum, was Berlin von Russlands Tschetschenien-Politik hält.

Asja D. allerdings will sich nicht darauf verlassen, dass die Deutschen sie nicht ausliefern. »Sie hat panische Angst und fühlt sich in Deutschland nicht mehr sicher«, berichtet die Buchautorin Alexandra Cavelius, die eine Biografie über das Leben der Tschetschenin verfasst hat. »Am liebsten würde sie sofort mit neuer Identität das Land verlassen.« JÜRGEN DAHLKAMP,

GEORG MASCOLO, CHRISTIAN NEEF

* Bei ihrem Treffen in Oslo am 12. November.

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