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Italien Blutige Spur

Der Flugzeugabsturz von Ustica im Jahr 1980 scheint geklärt. Die Passagiermaschine wurde Opfer eines Luftkampfes.
aus DER SPIEGEL 5/1996

Wir sind es gewesen, Hauptmann, wir haben das Flugzeug heruntergeholt«, flüsterte der Flugkontrolleur Alberto Mario Dettori ins Telefon. Bevor sein Kollege aus Pisa am anderen Ende der Leitung nachfragen konnte, hatte Dettori aufgelegt.

Am Abend zuvor, dem 27. Juni 1980 gegen 21 Uhr, war eine Linienmaschine der italienischen Fluggesellschaft Itavia, eine DC-9, auf dem Flug von Bologna nach Palermo zwischen den italienischen Inseln Ponza und Ustica ohne ersichtlichen Grund ins Meer gestürzt. 77 Passagiere und 4 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben.

Bis heute ist die Tragödie nicht endgültig aufgeklärt, trotz einer Vielzahl von Untersuchungen und Hypothesen. Doch nach neuen Aktenfunden sieht es so aus, als könnte das Rätsel - eines der düstersten Geheimnisse der italienischen Nachkriegsgeschichte - allmählich gelöst werden: gegen ein Komplott des Schweigens, das Militärs, Politiker und Geheimdienste mit beispielloser Skrupellosigkeit durchgesetzt haben.

Offensichtlich hatte der Feldwebel Dettori, der im Radarzentrum von Poggio Ballone Dienst tat, den Verlauf des Unglücks auf seinem Bildschirm verfolgen können. Die zivile DC-9 war, wie sich inzwischen herausgestellt hat, vermutlich in einen Luftkampf zwischen Nato-Maschinen und libyschen MiGs geraten.

Was er beobachtet hatte, muß Dettori zutiefst aufgewühlt haben. »Es war ein entsetzliches Schlamassel. Wir sind um ein Haar an einem Krieg vorbeigeschrammt«, sagte er am darauffolgenden Nachmittag bei einer Autofahrt seiner Schwägerin.

Als die mehr erfahren wollte, wies er sie barsch zurück. Auch seinem Kollegen aus Pisa, der ihn um Einzelheiten bat, verweigerte er jede Auskunft. »Ich kann überhaupt nichts sagen«, rief er schließlich verängstigt. »Hier ist noch immer die Hölle los. Die werden mich noch aus dem Weg schaffen.«

Fest steht: Aus Angst vor einem Aufschrei der Empörung in der Öffentlichkeit begann ein gigantisches Vertuschungsmanöver, das bis heute andauert. Sein Wissen durfte Dettori nie preisgeben. Sein Name wurde später von der Liste der Diensthabenden im Radarzentrum Poggio Ballone am 27. Juni 1980 gestrichen. Fast sieben Jahre später, am 30. März 1987, fand man den Feldwebel erhängt an einem Baum in _(* In einem Hangar des ) _(Luftwaffenstützpunkts Pratica di Mare ) _(südlich von Rom. )

der Nähe seines Wohnorts, angeblich ein Selbstmord.

Er blieb nicht der einzige Tote unter den potentiellen Zeugen der Katastrophe. Von etwa 100 Menschen, die Wissen über die Vorgänge der Unglücksnacht gehabt haben könnten, sind mindestens ein Dutzend unter suspekten Umständen ums Leben gekommen. Die blutige Spur reicht bis in die Gegenwart.

Im vergangenen Dezember wurde Franco Parisi erhängt aufgefunden, ein Unteroffizier der Luftwaffe, der am 27. Juni 1980 Dienst im Radarzentrum Otranto hatte. Seine Frau beteuert, ihr Mann sei keinesfalls schwermütig gewesen. Parisi war kurz vor seinem Tod von dem römischen Ermittlungsrichter Rosario Priore vernommen worden, der seit fünf Jahren mit unerbittlicher Energie versucht, die Wahrheit über Ustica auszugraben.

Jetzt ist er seinem Ziel näher gekommen. Fast zufällig entdeckte Priore im Ministerium für Militärluftfahrt einen Aktenschrank, den General Stelio Nardini, vormals Generalstabschef der Luftwaffe, in seinem Büro zurückgelassen hatte.

Das Möbel steckte randvoll mit bisher unbekannten Akten, Dokumenten und Radaraufzeichnungen über die Katastrophe - obwohl die Militärs immer behauptet hatten, nichts von Bedeutung zu wissen.

Ein zweiter wichtiger Fund gelang den Ermittlern kürzlich in der Wohnung des pensionierten Generals Demetrio Cogliandro, der bis 1982 Chef der Gegenspionage beim Militärgeheimdienst Sismi war. Zwischen zahlreichen Dossiers über politische Gegner befanden sich auch 15 Blatt mit Notizen über den mysteriösen Flugzeugabsturz.

Darin untermauerte der Geheimdienst-General die These, die DC-9 sei nach einem fehlgeschlagenen Attentat auf den libyschen Revolutionsführer Muammar el-Gaddafi in einen Luftkampf zwischen amerikanischen, französischen und libyschen Militärjets geraten und dabei versehentlich abgeschossen worden.

Die Aufzeichnungen bestätigten erstmals einen Verdacht, den viele Experten von Anfang an hegten. Daß eine Rakete die Maschine der Itavia vom Himmel geholt habe, hörte zum Beispiel der Journalist Andrea Purgatori bereits am Tag nach der Katastrophe von einem Fluglotsen des römischen Militärflughafens Ciampino. Von einem »nicht identifizierten Objekt, welches das Flugzeug aus westlicher Richtung getroffen habe«, war auch in einem wissenschaftlichen Gutachten die Rede, das der amerikanische Flugsicherheitsexperte John Macidull den italienischen Behörden im November 1980 vorlegte.

Doch die Geheimdienstler und Militärs taten alles, um die Wahrheit zu vertuschen. Nachgewiesen ist inzwischen, daß in höherem Auftrag Unterlagen aus Radarzentren verschwanden, Tonbänder teilweise gelöscht und Spuren manipuliert wurden. Seit 1992 stehen deshalb 13 hohe Luftwaffenoffiziere vor Gericht. Sie sollen sofort nach dem Unglück ihre Untergebenen zum Schweigen vergattert haben. Die Anklage sieht in dem Verdunkelungsversuch einen »Anschlag auf die Verfassung«, sogar »Hochverrat«.

Noch im Juli 1994 kam eine Expertenkommission zu dem falschen Schluß, an Bord der DC-9 sei eine Bombe explodiert - vermutlich ein Attentat rechter Terroristen. Die Sachverständigen hatten ihre These auf die Aussagen der beschuldigten Militärs zugeschnitten. Dafür stehen jetzt zwei von ihnen selbst unter Anklage.

Etliche Ungereimtheiten bleiben. So wurden drei Wochen nach dem Absturz der DC-9, am 18. Juli 1980, die Trümmer einer MiG-23 mit libyschem Kennzeichen gefunden, die über dem kalabrischen Sila-Gebirge abgestürzt war. Die Leiche des Piloten im Cockpit wies bereits starke Verwesungsspuren auf. Ein Autopsiebericht kam zu dem Schluß, daß der Tod drei Wochen zurücklag - als sich die Geschehnisse über Ustica zutrugen.

Daß die Jagdmaschine in die Ereignisse um die Flugzeugkatastrophe verwickelt war, bezeichnete der ehemalige Sismi-Chef, Admiral Fulvio Martini, kürzlich als »allgemein akzeptierten Befund«.

Dabei bleibt merkwürdig, daß der tote Pilot amerikanische Stiefel und - wie sich erst zehn Jahre später herausstellte - einen Helm mit englischer Aufschrift trug. Unklar ist nach wie vor, wo die MiG startete. Für einen Abflug aus Libyen war die Reichweite zu gering.

Insgeheim wurden damals in Italien libysche Militärpiloten ausgebildet. War der Tote einer von ihnen? Der italienische Geheimdienst hat jedenfalls aufwendig versucht, den wahren Zeitpunkt des Absturzes zu vertuschen - und damit auch den Zusammenhang zwischen der MiG und Ustica.

Italien verfolgte damals gegenüber Gaddafi eine höchst ambivalente Politik: Der libysche Diktator hatte 1976 knapp zehn Prozent der Fiat-Aktien erworben und investierte weiterhin große Summen in Italien. Rom lieferte ihm heimlich Waffen und Ausbilder und zeigte sich auch sonst erkenntlich.

Andererseits war der unberechenbare Gaddafi 1980 zum Feind der Amerikaner, Briten und Franzosen geworden. Offiziell sah sich der Nato-Partner Italien gezwungen, Solidarität mit den Verbündeten zu zeigen. Dennoch konnte der Libyer auf einflußreiche Sympathisanten in Italien zählen - vor allem in Geheimdienstkreisen, die genau wie die politischen Parteien in unterschiedliche Flügel ("correnti") gespalten waren. Das prolibysche Lager versorgte Gaddafi offenbar auch mit Informationen über die Pläne seiner Feinde.

Gaddafi selbst brüstete sich später, er sei am 27. Juni 1980 einem Mordanschlag der USA und ihrer Verbündeten entkommen. Eine zivile Tupolew-Maschine, mit der er von Tripolis nach Warschau fliegen wollte, sollte abgeschossen werden. Rechtzeitig gewarnt, habe er jedoch abdrehen und seine Flugroute ändern können.

Hatten die Jäger etwa die DC-9, wie Gaddafi andeuten wollte, mit seiner Tupolew verwechselt? Dagegen spricht, daß einem Militärpiloten wohl kaum ein so fataler Irrtum unterlaufen würde - zumal die DC-9 ja aus Norden und nicht aus südlicher Richtung kam.

Ein Komplott gegen Gaddafi dürfte nach heutigem Wissen gleichwohl am Anfang der Katastrophe stehen. So sehen es jedenfalls drei Experten, die gemeinsam ein Buch über das Rätsel von Ustica veröffentlicht haben: Daria Lucca von der römischen Tageszeitung il manifesto, Andrea Purgatori vom Corriere della Sera und Paolo Miggiano, Wehrspezialist und Gutachter der Organisation der Hinterbliebenen. Sie gaben ihrem Werk den Titel: »Einen Schritt vom Krieg entfernt«.

Im Frühjahr 1980 hatten sich die Spannungen zwischen Ägypten und Libyen so verschärft, daß ein bewaffneter Konflikt drohte. Gaddafi wollte sein Land mit einer »großen Mauer« abriegeln, der ägyptische Präsident Sadat verhängte daraufhin das Kriegsrecht im Grenzstreifen zu Libyen.

Die USA sprangen ihrem Bündnispartner Sadat bei. Westlich von Kairo richteten sie einen Luftwaffenstützpunkt ein, der als Basis für Angriffe gegen Libyen dienen konnte.

Auch gemeinsame ägyptisch-amerikanische Luftmanöver waren geplant. Zu diesem Zweck wurden Anfang Juli 1980 im Rahmen der Aktion »Proud Phantom« zwölf Phantomjäger vom Luftwaffenstützpunkt Moody (US-Staat Georgia) nach Kairo überführt. Aus Großbritannien sollte überdies am 27. Juni 1980 ein amerikanischer Schwenkflügelbomber vom Typ F-111, ausgerüstet mit taktischen Nuklearwaffen, nach Ägypten fliegen.

Nach der Version der Buchautoren schickte Gaddafi, von seinen italienischen Freunden informiert, daraufhin Abfangjäger los, um den Bomber abzuschießen. Dieser nutzte - der Gefahr bewußt, die ihm in dieser Gegend des Mittelmeeres drohte - den Radarschatten der italienischen DC-9, wofür es Hinweise in den verbliebenen Radaraufzeichnungen gibt. Es sei zum Luftkampf zwischen den libyschen MiGs und den Begleitjägern der F-111 gekommen, dabei habe eine Rakete die italienische Linienmaschine getroffen.

Welche Rolle die über Kalabrien abgestürzte MiG-23 dabei spielte, wird sich möglicherweise nie restlos klären lassen. Wollte der Pilot seinen bedrängten Kameraden zu Hilfe eilen? Oder sollte er, im Gegenteil, Gaddafis Jäger ablenken und verwirren?

Für die Italiener gab es jedenfalls Gründe genug, ihren Part in dem ruchlosen Spiel zu verschleiern und die Angehörigen der Absturzopfer zu täuschen. Sogar der damalige Ministerpräsident und spätere Staatschef Francesco Cossiga soll darauf bestanden haben, die Wahrheit geheimzuhalten, aus Loyalität gegenüber den Verbündeten und aus Rücksicht auf die geheimen Verflechtungen mit dem Wüstenstaat.

Einblick in die politischen Zusammenhänge gab vor wenigen Wochen der ehemalige Geheimdienstchef Fulvio Martini, der Auftraggeber des Dossier-Sammlers Cogliandro. Bei einer Anhörung durch die parlamentarische Kommission, die sich mit ungelösten Terroranschlägen und auch mit Ustica befaßt, hob der pensionierte Admiral Konflikte hervor, die sich aus Italiens »doppelgleisiger« Libyen-Politik ergeben hätten.

Ein libyscher MiG-23-Jäger ging über Kalabrien verloren

[Grafiktext]

Kartenausschnitt: Kurs der Itavia-DC-9 im Juni 1980 von Bologna

[GrafiktextEnde]

* In einem Hangar des Luftwaffenstützpunkts Pratica di Mare südlichvon Rom.

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