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Geheimdienste Böser Nachbrenner

In der Welle von Aus- und Übersiedlern schwimmen auch Ost-Agenten mit. Die westdeutsche Spionageabwehr richtet nicht viel aus: Ihr mangelt es an Personal.
aus DER SPIEGEL 40/1989

Die Tschechin Anna teilte den Behörden ihrer Heimatstadt ein freudiges Ereignis mit: Sie werde demnächst, in Westdeutschland, den Bund fürs Leben schließen. Das brachte der Braut eine tödliche Bedrohung ihres jungen Glücks ein.

Zuerst mußte sie sich auf der örtlichen Polizeidienststelle melden, wo sie von zwei Agenten des CSSR-Geheimdienstes StatnI Bezpecnost über ihre Westkontakte ausgefragt wurde. Die Herren boten zunächst freundlich ihre Hilfe bei der Erledigung des Papierkrams an und erbaten, als Gegenleistung, einen kleinen Liebesdienst: Die künftige Westbürgerin möge regelmäßig Berichte schicken.

Als die Frau ablehnte, wurden die Geheimdienstler massiv: Ein »zufälliger Verkehrsunfall« könne aus ihr, noch vor der Hochzeit, eine Witwe machen.

Unter Druck gesetzt sah sich auch ein Siebenbürger Sachse, der in die Bundesrepublik aussiedeln wollte. Der rumänische Geheimdienst Securitate drohte ihm mit einer sehr langen Wartezeit, falls er spätere Spitzeldienste im Westen ablehne.

Freiwillig dagegen wurde ein polnisches Ehepaar in der Bundesrepublik für den Geheimdienst Sluzba Bezpieczenstwa tätig. Die deutschstämmigen Aussiedler, die sich ordnungsgemäß im Grenzdurchgangslager Friedland registrieren ließen, spionierten eine christliche Vereinigung in Rheinland-Pfalz aus, die von einem polnischen Geistlichen angeführt wurde. Kurz vor ihrer Enttarnung setzten sie sich nach Polen ab, wo die »verdienten Mitarbeiter« von der Regierung öffentlich belobigt wurden.

Ob sie aus der Tschechoslowakei oder Rumänien, aus Polen oder der DDR kommen: »Im Strom der Aussiedler und Übersiedler«, so das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem jüngsten Jahresbericht, schwimmen seit Jahren auch Agenten in die Bundesrepublik. Diese »Tarnung« könne »andere, zum Teil aufwendigere Einschleusungsverfahren überflüssig machen«.

Vor allem das Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nutzt den Exodus aus der DDR für seine Zwecke. »Wir müssen damit rechnen«, sagt Verfassungsschutz-Chef Gerhard Boeden, 64, »daß das MfS in die Masse der Flüchtlinge Spione einschleust.« Das Hauptinteresse der Führungsoffiziere richtet sich auf DDR-Bürger, die einen offiziellen Ausreiseantrag stellen: Ihre Papiere wandern stets über die Schreibtische der Staatssicherheit (Stasi). Die Übersiedler sind, so Boedens Kölner Amt, ein »gern genutztes Zielpotential«.

Es gebe »Tausende Möglichkeiten«, sagt der hessische Verfassungsschutz-Chef Günther Scheicher, 61, Ausreiser anzuwerben oder unter Druck zu setzen. Wer sich etwa vor Unterhaltszahlungen gedrückt hat, wegen persönlicher Verfehlungen erpreßbar ist oder in Berufen arbeitet, die im Westen nicht gefragt sind, gilt den Leuten vom Ministerium für Staatssicherheit als ansprechbar.

Nur »ein verschwindend geringer Bruchteil« der Übersiedler, schätzt Boeden, verrichte dann von westdeutschem Boden aus tatsächlich Spitzeldienste für die Stasi. Die Zahl liege, meint Scheicher, »weit unter einem Prozent«.

Allein dieses Jahr allerdings sind bereits über 60 000 legale DDR-Ausreiser gen Westen gezogen; hinzu kommen die bisher mehr als 22 000 ostdeutschen Flüchtlinge, die seit Anfang August durch die Löcher in der ungarisch-österreichischen Grenze geschlüpft sind. Ende des Jahres werden rund 100 000 Neubürger aus der DDR in der Bundesrepublik eingetroffen sein.

Daß die Magyaren ihren Eisernen Vorhang durchlässig gemacht haben, konnten sich Ost-Berlins Spitzel-Schleuser bisher nur begrenzt zunutze machen. Die Situation habe sich, sagt Hamburgs Verfassungsschützer Christian Lochte, 53, so »überstürzt entwickelt«, daß das MfS allenfalls »in der Endphase« zu Aktionen in der Lage sei. Auch Scheicher versichert: »Wir schauen uns das alles sehr gelassen an, denn Hals über Kopf passiert da nichts.«

Jahrelang geschulte Top-Agenten wie der Kanzler-Spion Günter Guillaume sind nach Einschätzung der westdeutschen Spionageabwehr ohnehin nicht darunter. Sie werden, unabhängig von Ausreisewellen, unter Falschnamen und mit Legende in der Bundesrepublik plaziert. Doch ihre Mini-Spione schickt die Stasi oft per Ausreiseantrag oder in der Tarnung des Flüchtlings nach Westen - wie im Fall des Facharbeiters Thomas Andreas Kriesche. Er ist kein James Bond und auch keine Figur für John le Carre, aber symptomatisch für die Truppe der Alltagsspäher, deren ärmliche Existenz von der DDR ausgenutzt wird.

Kriesche, 30, wurde schon vor elf Jahren in seiner Heimatstadt Annaberg bei Karl-Marx-Stadt Stasi-Spitzel. Als Abgeordneter des Kreises Annaberg war Kriesche, seit 1977 in der SED, mit Jugendpolitik befaßt. Er mußte regelmäßig seinem Bürgermeister, so schilderte Kriesche dem SPIEGEL, Berichte über »Trends und Strömungen« bei den jungen Leuten abliefern.

Der Parteigenosse, Deckname »Albert«, wurde wenig später einer MfS-Führungskraft unterstellt und psychologisch geschult, etwa bei seinen Opfern »Engpässe oder moralische Tiefs auszunutzen und brauchbar umzusetzen«.

Gegen geringes Entgelt, »Prämien in Höhe von 50 bis 200 Mark« (Kriesche), lieferte er seine Berichte ab. Das MfS schätzte Kriesches Dienste so sehr, daß ihm die Stasi von Karl-Marx-Stadt, wo der Spitzel inzwischen arbeitete, »eine Auslandstätigkeit« anbot.

Binnen zwei Wochen mußte Kriesche sämtliche Funktionen niederlegen, einen Ausreiseantrag stellen und, ausgestattet mit 200 Mark (West), mit dem Zug »über Reichenbach, Plauen und Hof« ins zentrale Aufnahmelager Gießen fahren.

Dort wurde er, im Oktober 1986, von den westdeutschen Sicherheitsbeamten routinemäßig befragt. Er sollte, so Kriesche, eine Bestätigung unterschreiben, daß er keine Kontakte zum MfS unterhalten habe. Obwohl er sich nach seinen Angaben mit dem Hinweis weigerte, er sei vor seiner Abreise von der Stasi verhört worden, geschah weiter nichts. Kriesche: »Aufgrund des großen Andrangs im Lager wurden mir keine weiteren Fragen gestellt.« Wenige Tage nach seiner Ankunft erhielt Kriesche einen grünen Reisepaß der Bundesrepublik, Nummer H 2416752.

Daß gründliche Ausforschung der Übersiedler weder erwünscht noch möglich ist, bestätigen auch die Verfassungsschützer. Hamburgs Lochte: »Es geht nicht an, 99 Prozent der Übersiedler mit besonderen sicherheitspolitischen Prozeduren zu belästigen, um womöglich ein Prozent Verdächtiger herauszufiltern.« Ein »Restrisiko« müsse halt, »wie überall im Leben«, in Kauf genommen werden.

Hinzu kommt, wie Boedens Sprecher Hans-Gert Lange freimütig einräumt, daß für die Befragung in Gießen »nicht genügend Fachpersonal« zur Verfügung steht. Spezialisten, die »den DDR-Hintergrund kennen« und »nachrichtendienstliche Erfahrung haben«, seien rar. Immerhin wurde die Befragungsgruppe, bisher drei bis fünf Mann stark, auf ein knappes Dutzend Beamte von Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt ausgebaut. Sie können die mehr als 70 000 Übersiedler, die sich dort zum Notaufnahmeverfahren melden, allenfalls grob überprüfen.

So konnte Späher Kriesche, wie wahrscheinlich Hunderte anderer Kundschafter, unbehelligt seine Spur ziehen. Sein Führungsoffizier, Deckname »Thomas«, den er fortan von Zeit zu Zeit in der CSSR traf, gab präzise Order. Kriesche sollte, so seine Angaben, *___die Gründung einer Selbsthilfegruppe ehemaliger ____DDR-Bürger im hessischen Bad Nauheim, wenn möglich, ____verhindern; *___auf einem Meßtischblatt Straßensprengschächte im Raum ____Bad Nauheim und Gießen eintragen; *___als Paketkurier beim Eschborner Ableger des US-Konzerns ____United Parcel Service (UPS) vor allem Kasernen der ____Bundeswehr und der amerikanischen Streitkräfte ____auskundschaften.

Seit langem wissen die westdeutschen Agentenjäger, daß DDR-Späher häufig als Lastwagenfahrer von Speditionen und Umzugsunternehmen die Augen offenhalten müssen. Während seiner Zeit bei UPS, von Ende März bis Anfang Mai 1987, fertigte Kriesche vor allem Aufzeichnungen und Fotos, die er in einer Stahlkassette aufbewahrte. Als er fürchten mußte, daß ihm Mitbewohner auf die Schliche gekommen waren, lieferte er das Material bei den DDR-Grenzbehörden ab und wollte in seine Heimat Annaberg zurückkehren.

Doch da sich ihre Kundschafter normalerweise mehrere Jahre lang in Feindesland bewähren müssen, schickte die Stasi den Spitzel zurück. Als sich Kriesche deshalb mit Fluchtgedanken trug, versäumten die westdeutschen Verfassungsschützer die Gelegenheit, den kleinen Fisch aus dem Agententeich zu angeln.

Auf einer Urlaubsreise will sich Kriesche bei der Bonner Botschaft in Athen offenbart haben. Die setzte ihn in die Bundesrepublik in Marsch: In München, sei ihm versprochen worden, werde er von Verfassungsschützern in Empfang genommen. Doch die ließen sich nicht blicken - es war Wochenende.

Auch ein zweiter Versuch Kriesches, sich zu stellen, ist nach seinen Angaben gescheitert. Ein Beamter des Berliner Verfassungsschutzes habe seine Geschichte zwar angehört, ihm aber geraten, »in die DDR zurückzukehren«.

Die hatte für ihren Späher neue Aufträge außer Landes: Kriesche wurde nach Dänemark geschickt, um bei einem Ingenieur die Baupläne der neuen Brücke bei der Insel Farö auszukundschaften, später mußte er Kurierdienste zwischen Kenia und Prag versehen. Im Frühjahr dieses Jahres beschloß Kriesche, sich von der Stasi und aus der Bundesrepublik abzusetzen - er lebt jetzt in einem südeuropäischen Land, wo er sich »in der Gastronomie eine neue Existenz aufbauen will«. Kriesche: »Ich hatte die Schnauze voll.«

Daß die Verfassungsschützer den Fisch durchs Netz schlüpfen ließen, ist wohl eher dem Ungeschick untergeordneter Bürokraten zuzurechnen. Denn die personalschwache Spionageabwehr ist, wenn sie nicht gerade »Aktiv-Agenten mit Niveau« (Lochte) nachspürt, darauf angewiesen, daß sich die Spitzel selber stellen.

Darauf zielen auch zahlreiche Appelle, die Verfassungsschutz-Chef Boeden an die Maulwürfe unter den DDR-Flüchtlingen richtet: »Wer sich hier nicht offenbart und etwas verschweigt, läuft Gefahr, erpreßt zu werden. Das MfS kennt kein Kündigungsrecht.« Und Hessens Scheicher mahnt Stasi-Schnüffler unter den Neuankömmlingen: »Wenn man die Freiheit gewählt hat, dann soll man es gleich richtig tun, damit kein böser Nachbrenner kommt.«

Kriesche dagegen will nun auf eigene Faust zurechtkommen. Der Ex-Spitzel über seine Erfahrungen mit den westdeutschen Behörden: »Zu denen habe ich kein Vertrauen mehr.«

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