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Bonn: »Radnabe der Allianz«

Die Bundesrepublik, ehedem als Wirtschaftsriese mit politischem Zwergwuchs eingestuft, sieht sich in die Rolle einer Führungsmacht gedrängt. Die weltweiten Krisen, Inflation und Energiemangel, wurden von der Bundesregierung bislang am besten gemanagt. Die USA und die UdSSR erwarten von Bonn weltpolitisches Engagement.
aus DER SPIEGEL 1/1975

Der Finanzminister der Wirtschaftsgroßmacht Bundesrepublik Deutschland muß nächste Woche in Washington große Politik machen. Der amerikanische Finanzchef William Simon wird seinen Gast Hans Apel an die globale Verantwortung Westdeutschlands erinnern und ihm dafür zehn Milliarden Mark abverlangen.

US-Außenminister Henry Kissinger hat den Industriestaaten vorgeschlagen, einen 25 Milliarden Dollar schweren Selbsthilfefonds einzurichten, aus dem jenen Industriestaaten geholfen werden soll, die durch die hohen Ölpreise in Zahlungsbilanznöte geraten sind. Bonn soll laut Kissinger den Devisentopf zu 15 Prozent füllen. Nur die Vereinigten Staaten wollen eine höhere Quote einzahlen.

Der Preis weist den Stellenwert aus, den die Bundesrepublik heute hat. Ohne Bonn geht vieles nicht mehr, keine weltwirtschaftlich bedeutsame Entscheidung der Industriestaaten kann fallen, ohne daß die Bundesrepublik aktiv eingreift und zustimmt. Europas Gemeinschaftseinrichtungen brächen in sich zusammen, wenn nicht Westdeutschland die Mühseligen und Beladenen stützen würde. Der Ostblock erwartet von der Bundesrepublik, daß sie einen wesentlichen Beitrag zu seiner ökonomischen Entwicklung leistet.

Ihre wirtschaftliche Kraft zwingt die Bundesrepublik zunehmend in eine Rolle, die ihre Politiker eigentlich nie spielen wollten, in die Rolle einer Weltmacht. Und sie tun sich schwer, aus dem behaglichen Refugium machtpolitischer Enthaltsamkeit sich in die neue Realität zu finden. Für Haushaltsminister Apel bedeutet »Weltmachtstelllung« schlicht »für andere zahlen. Darauf reduziert es sich, alles andere ist Schmus«.

Das deutsche Dilemma beschrieb das englische Wochenblatt »The Economist": »Aus historischen Gründen würden die Deutschen lieber im Gleichschritt marschieren, als ihren EG-Partnern davonzueilen, aber der ökonomische Erfolg macht diesen Wunsch ständig zunichte.«

Erstmals hat sich Kanzler Schmidt. wenn auch zögernd, frei gemacht von jenem deutschen Komplex, dem die Tugend der Tüchtigkeit als politische Not erscheint. Als erster Bonner Regierungschef reiste er mit dem erklärten Ziel nach Washington, »als ehrlicher Makler« (Schmidt) zwischen den USA und Frankreich zu vermitteln, die sieh über die Energiepolitik des Westens zerstritten hatten. Während die Amerikaner ein Kartell der Ölverbraucher-Länder aufrichten wollten, drängte Frankreich auf eine gemeinsame Konferenz von Produzenten und Konsumenten.

Mit Erfolg präsentierte Makler Schmidt den wenig später auf Martinique von Amerikas Präsidenten Gerald Ford und Frankreichs Staatsoberhaupt Giscard angenommenen Drei-Stufen-Plan, wonach sich zunächst Experten der Ölverbraucher und -produzenten auf einer Vorkonferenz treffen, bevor sich die Konsumenten untereinander abstimmen und sich schließlich mit den Öl-Mächtigen auf einer Hauptkonferenz auseinandersetzen.

Auch in Europa wurde der deutsche Kanzler als Vermittler aktiv. Beim Kamingespräch mit Englands Premier Harold Wilson schlug Schmidt dem Briten vor, die Differenzen zwischen London und Paris vor dem Europa-Gipfel in einem Treffen mit Valéry Giscard d'Estaing auszuräumen. Zw. rück in Bonn, rief Schmidt bei seinem Freund Valéry an und riet ihm, den Engländer zu empfangen. Den positiven Bescheid Giscards gab Schmidt über Telephon nach London weiter, und prompt flog Wilson nach Frankreich.

Selbstsicher trat Schmidt auch vor dem Labour-Parteitag in London auf und gab den integrationsfeindlichen britischen Sozialisten eine geschickt verpackte Lektion über die Notwendigkeit europäischer Solidarität. Das englische Wirtschaftsblatt »Financial Times« nannte den Auftritt des Kanzlers »meisterhaft«, und der liberale »Guardian« lobte, Schmidt habe vor den Labour-Delegierten »in einer halben Stunde mehr Vernünftiges über die EG gesagt, als die leidenschaftlichen Europa-Advokaten -- Gegner und Befürworter -- in einem Jahr zuwege gebracht haben«.

Was es wert ist, der Welt größter Schmidt zu sein, erfuhr der Kanzler auch bei seinem Antrittsbesuch in Moskau. KP-Chef Leonid Breschnew zog ihn wie nur wenige westliche Besucher zuvor -- ins Vertrauen. Der mächtigste Sowjet sprach mit dem erstaunten Gast 40 Minuten lang über Fragen der Weltpolitik und besonders über sein Leid mit den bösen Chinesen.

Schmidts Aufstieg zum international anerkannten Staatsmann scheint angesichts der Erwartungen, die alle Welt mit dem Namen Deutschland verbindet, fast zwangsläufig. Der Kommentator Rüdiger Altmann spottet: »Jeder deutsche Bundeskanzler, der einigermaßen in den Hosen stehen kann, bekommt ein internationales Prestige.«

Das amerikanische Nachrichtenmagazin »Newsweek« ist da etwas feiner. Schon Willy Brandt, schreibt das Blatt in seiner Neujahrs-Nummer, sei »in einer Welt der 40-Watt-Führer ... eine leuchtende Ausnahme gewesen«, aber sein Nachfolger Schmidt habe sich »in vieler Hinsicht als ein noch eindrucksvollerer Führer erwiesen«.

Gleichwohl herrscht in den USA der Eindruck vor, die westdeutsche Führung trete immer noch zu vorsichtig auf. Nach dem Urteil eines hohen Beamten im Washingtoner Außenministerium ist die Bundesrepublik nach den USA eindeutig »die stärkste westliche Macht«. Der US-Spitzendiplomat verlangt, daß Westdeutschland eine »weit größere Rolle als bisher« bei der Unterstützung schwächerer europäischer Länder spielt -- etwa bei der Militärhilfe für die Türkei.

»Die Bundesrepublik muß endlich die Verantwortung annehmen.«

Eine Osteuropa-Expertin aus dem State Department erklärt die Bundesrepublik zur »Schlüsselmacht in der zweiten Linie. Niemand kann es sich mehr leisten, die Deutschen gegen sich aufzubringen«. Nach Ansicht des ehemaligen US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey muß die Bonner Spitze »eine starke Führerrolle innerhalb der Nato spielen, um anderen Nationen den Weg zu zeigen, wie sie mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten fertig werden können«.

Sicher scheint, daß die Deutschen von ihrem Macht-Trauma, das sie 1945 befiel, stärker blockiert sind als ihre einstigen Opfer. Die Sowjets empfahlen westdeutschen Politikern und Industriellen schon vor Jahren, sich ihrer mächtigen Position bewußt zu werden. So riet ein hoher Mitarbeiter des sowjetischen Außenministeriums deutschen Gesprächspartnern im Dezember 1970: »Die Bundesrepublik muß endlich die Verantwortung annehmen, die sich daraus ergibt, daß sie der ökonomisch stärkste, politisch stabilste und militärisch bedeutendste Staat Westeuropas ist.«

Mehr noch als amerikanische und russische Anerkennung bestätigt das Mißbehagen des Nachbarn Frankreich die führende Rolle der Bundesrepublik. Vor allem der schneidige Kanzler Schmidt irritiert die Franzosen. Die Pariser Tageszeitung »Le Figaro": »Man hat einfach Angst vor ihm.« Das von Schmidt regierte Deutschland sieht mancher bei den Nachbarn im Westen als »vollgefressen, mächtig, von »Realpolitik« besessen«, so das Nachrichtenmagazin »Le Point«.

Andere EG- und Nato-Partner sind so empfindlich längst nicht mehr. Luxemburgs Ministerpräsident Gaston Thorn meinte nach dem Pariser Europa-Gipfel im vergangenen Dezember: »Wenn die Neun zusammenkommen, wartet man auf das Wort der Deutschen. Der Kanzler spricht das Hauptwort.« Der ehemalige niederländische Außenminister und jetzige Nato-Generalsekretär Joseph Luns rief die Bundesrepublik vor dem Nato-Rat auf, ihr Schwergewicht »stärker zur Geltung zu bringen«. Ein hoher Nato-Diplomat über die Reaktion der Zuhörer: »Keiner der Alliierten ist darauf erblaßt, keiner war empört.«

Selbst in der Uno« der die Bundesrepublik erst seit September 1973 angehört, hat Bonn bereits heute ein besonderes Gewicht. Als beispielsweise die drei ständigen Sicherheitsrats-Mitglieder aus dem Westen -- England, Frankreich und die USA -- vor einer Vollversammlungs-Debatte über den Ausschluß Südafrikas aus der Uno berieten, zogen sie nur noch eine weitere Macht ins Vertrauen: Sie luden Bonns UN-Vertreter Rüdiger von Wechmar hinzu.

Immer häufiger wird Bonn gedrängt, baldmöglichst für einen der frei werdenden Sitze im UN-Sicherheitsrat zu kandidieren. Außenminister Hans-Dietrich Genscher aber mag nicht so recht, weil er fürchtet, daß die Bundesrepublik so ständig in globale Konflikte hineingezogen wird.

Die Angst des Außenministers steht für die vieler westdeutscher Politiker, Unternehmer und Intellektueller, die sich bewußt sind, daß es bequemer wäre, ein

gutgenährter politischer Zwerg mit 88 Milliarden Mark Gold und Devisen im Keller zu bleiben.

Die Verleugnung der Macht, die kennzeichnend für die Nachkriegsdeutschen ist, entspricht genau der Rolle, die den Bundesbürgern für Jahrzehnte von den Alliierten zugewiesen worden war: Wohlstand als Lohn für Antikommunismus und Unterordnung in den westlichen Bündnis-Systemen. Sebastian Haffner beschrieb das deutsche Syndrom der ersten 20 Jahre Bundesrepublik: »Es ist ein nie verleugnetes Hauptziel ihrer Außenpolitik gewesen, ihre Identität in einer westlichen Einheit zu verlieren und insbesondere in einem vereinigten Westeuropa aufzugehen.«

Volle außenpolitische Handlungsfähigkeit erlangte die zweite deutsche Republik erst nach mehr als zwanzig Jahren durch ihre 1969 von Willy Brandt eingeleitete neue Ost- und Deutschlandpolitik.

Mit der Entspannung gegenüber der Sowjet-Union und ihren osteuropäischen Verbündeten, mit dem De-facto-Verzicht auf die Wiedervereinigung als erklärtes Ziel der Bonner Politik und mit der relativen Sicherung West-Berlins durch das Viermächteabkommen gewann Bonn erstmals den Spielraum für eine eigenständige Außenpolitik -- auch gegenüber seinen westlichen Verbündeten.

Es ist einigermaßen merkwürdig, daß ein Nationalkonservativer wie der CDU/CSU-Oppositionsführer Karl Carstens diese Politik wachsender Handlungsfähigkeit bis heute als Politik des Ausverkaufs apostrophiert. Entgegen den ständigen Unkenrufen der Opposition verstanden es die sozialliberalen Regenten, das Bündnis zur Supermacht USA intakt zu halten, ja, noch zu verbessern. Ihnen gelang sogar das Kunststück. für Amerikaner wie Sowjets stärkster und wichtigster Partner im kapitalistischen Europa zu werden.

Begünstigt wurde der Aufstieg der Westdeutschen vom politischen wie ökonomischen Machtverfall ihrer europäischen Nachbarn, allen voran Italien und England. Selbst Frankreich, das lange Zeit die Führungsrolle in Europa beanspruchte, ist heute nur noch der Stärkste unter den Schwachen.

Während ungelöste soziale Gegensätze Englands und Italiens Wirtschaft ruinieren, während die drastisch gestiegenen Ölpreise Frankreichs und Dänemarks Zahlungsbilanzen völlig aus dem Gleichgewicht brachten, während selbst das einst als kommende Weltmacht angesagte Japan mit schweren gesellschaftlichen Konflikten und Inflationsraten von 26 Prozent fertig werden muß, trotzten die Deutschen bislang allen Schwierigkeiten mit einer Wirtschaftspolitik nach dem ökonomischen Lehrbuch. Das westdeutsche Krisen-Management des Trios Helmut Schmidt, seines Finanzministers Hans Apel und seines Wirtschaftsministers Hans Friderichs sucht vergebens seinesgleichen in anderen Ländern.

Gewiß: Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik wurde von der rigorosen Stabilitätspolitik, die ihr Bonn vor eineinhalb Jahren verschrieben hatte. schwer durchgeschüttelt. Rund eine Million Arbeitslose sind gegenwärtig registriert, so viele wie seit fünfzehn Jahren nicht mehr; mit rund 8000 Konkursen wurde das Jahr 1974 zum Pleiten-Rekordjahr. Und das Wirtschaftswachstum erreichte im vergangenen Jahr nur 0,5 Prozent, weniger als in Italien und Frankreich. Die Stabilitätspolitik bescherte den Sozialliberalen ein Abonnement auf Wahlniederlagen. Dennoch: Gerade durch diese Politik gewann die Bundesregierung international an Einfluß und Ansehen:

* Mit 6,5 Prozent Steigerung der Lebenshaltungskosten im November hat Westdeutschland die niedrigste Inflationsrate der westlichen Welt;

* mit Durchschnittseinkommen von 1731 Mark im Monat rangieren die deutschen Bürger hinter den US-Amerikanern, den Schweden und Schweizern an vierter Stelle; > mit 88 Milliarden Mark Gold- und Devisen-Reserven hat die Bundesrepublik den größten Spartopf aller Nationen.

Resümee der Londoner »Financial Times": »Die westdeutsche Wirtschaft sieht jetzt aus wie ein Bodybuilder an einem Strand voller Schwächlinge.«

Der seit 1972 stark wachsende Handel mit den Ostblockstaaten bietet Westdeutschland auf längere Sicht die Chance, Export-Rückgänge bei einer möglichen Rezession im Westen zu neutralisieren. Zwar ist der Anteil des Osthandels am westdeutschen Export mit sechs Prozent noch gering. Aber die Verkaufszuwächse sind beträchtlich -- trotz hoher Preise der bundesdeutschen Fabrikanten.

Gelegentlich beschweren sich die Handelspartner im Osten über die Rechnungen. So fragten polnische Technokraten unlängst Wirtschaftsminister Friderichs, warum die Bundesrepublik ihre Maschinen um zehn Prozent teurer anböte als die Konkurrenz. Der Minister verblüffte seine Gesprächspartner: »Kauft doch bei den anderen, wenn wir zu teuer sind. Die Franzosen sind glücklich, wenn ihr bei ihnen kauft.«

Dann wollte Friderichs wissen, warum die Polen dennoch die westdeutschen Produkte bevorzugen. Antwort: »Ihr liefert pünktlich, und eure Anlagen sind in Ordnung. Und wenn eine Reparatur notwendig ist, sind binnen 24 Stunden eure Montagetrupps mit dem Flugzeug da, und die Anlage läuft wieder. Bei den anderen steht sie dann acht oder vierzehn Tage still.« Friderichs: »Das kostet eben zehn Prozent Zuschlag.«

Beim Schah von Persien schon wieder im Plus.

Das Volumen des Handels mit der Sowjet-Union stieg allein im vergangenen Jahr um 63 Prozent. Die Russen sind so erpicht auf Röhren, Kraftwerke und Maschinen aus westdeutschen Fabriken, daß sie entgegen ihren Gepflogenheiten beträchtliche Schulden in Kauf nehmen. Die Höhe der sowjetischen Verbindlichkeiten bei Banken in Düsseldorf und Frankfurt ist mit mehr als sechs Milliarden Mark -- bei steigender Tendenz -- so brisant, daß sie in Bonn für geheim erklärt wurde. Ebenso angesehen wie im Ostblock sind deutsche Waren bei den derzeit besten Kunden, den neureichen Öl-Förderländern. Die Öl-Potentaten bestellten 1974 rund 60 Prozent mehr in der Bundesrepublik als im Vorjahr, weitere Steigerungen sind zu erwarten: Als Wirtschaftsminister Friderichs im vergangenen November an der Spitze einer Industriellen-Delegation mit saudi-arabischen Politikern Gemeinschafts-Projekte besprach, erklärten ihm die Araber, die deutsche Delegation sei zwar schon die einunddreißigste, die 1974 in Riad vorgesprochen habe. Aber, abgesehen von den Amerikanern, schätzte der Öl-Staat die deutsche Industrie als seinen wichtigsten Partner. Persiens Schah Resa kaufte bei den Westdeutschen 1974 so viel, daß die Bundesrepublik trotz der teuren Energielieferungen inzwischen wieder, wie vor der 300prozentigen Ölteuerung, mehr Geld vom Iran erhält, als sie an den Iran überweisen muß. Lob der Nato

für die Bundeswehr.

Bei all diesen Erfolgen erweist sich die Bundesrepublik als musterhafter Partner im Nato-Bündnis. Mit 238 Dollar je Kopf der Bevölkerung gibt die Bundesrepublik nach den USA (397 Dollar) das meiste Geld für ihre Soldaten aus,

Als einzige europäische Nato-Streitmacht erhielt Bonns Armee in diesem Jahr vom Bündnis das Zeugnis, ihr Kampfwert habe sich »durch qualitative Verbesserungen beachtlich erhöht«. Außer den Streitkräften der USA und Großbritanniens seien im Nordatlantik-Pakt allein die Truppen der Bundesrepublik ohne Einschränkung, diejenigen aller anderen Mitgliedstaaten nur begrenzt tauglich.

Und trotzdem ist die Bundeswehr den Amerikanern noch immer nicht hoch genug gerüstet. Bei seinem jüngsten Besuch in Bonn drängte US-Verteidigungsminister James Schlesinger darauf, die schwarz-rot-goldenen Heerscharen von derzeit knapp 500 000 auf 600 000 Mann aufzustocken. Die Bonner Sozialliberalen blockten das Ansinnen Schlesingers mit dem Hinweis ab, eine solche Verstärkung sei politisch nicht zu vertreten und wirtschaftlich nicht zu verkraften:

Dennoch ist die Bundesrepublik der einzige westeuropäische Staat, der aufrüstet. Während ihre Wehr bis September 1973 noch 462 000 Mann in den Kasernen hatte, befehligte Verteidigungsminister Leber zum Jahresende 1974 nahezu 495 000 Soldaten. Zum erstenmal seit ihrem Bestehen hat die Bundeswehr damit ihre Friedens-Sollstiirke erreicht.

Überdies kann sich die Bundesrepublik wegen ihrer Finanzkraft die Armee mit den modernsten Waffen in Europa leisten. Bei ihrer Herbsttagung im Dezember 1974 rühmte die Nato vor allem die Qualität der Panzer- und Tiefflieger-Abwehr und die Luftbeweglichkeit.

Beinahe heimlich werden auch immer mehr Waffen angeschafft. So wollen Bundeswehr-Obere die Zahl der Panzer heraufsetzen. Von dem Kampfpanzer Leopard, von dem die Bundeswehr schon mehr als 2000 angeschafft hat, kauft das Verteidigungsministerium zusätzlich 215 Exemplare -- ohne daß die amerikanischen M-48-Panzer. die der Leopard ersetzen soll, ausgemustert werden. US-Verteidigungsminister Schlesinger kam darob ins Schwärmen: »Bonn ist die Radnabe der Allianz.«

Wenn es nach den Amerikanern geht, soll die Bundeswehr demnächst so ausstaffiert werden, daß östliche Panzerheere im ständigen Krieg der Computer nur noch wenige Erfolgschancen hätten. Spitzenleute des US-Verteidigungsministeriums empfehlen ein fast fertig entwickeltes Waffensystem von elektronisch gesteuerten Mini-Raketen. sogenannten accurate guided weapons (genau gesteuerte Waffen), die bis zu einer Entfernung von 28 Kilometern untertassengroße Ziele mit absoluter Sicherheit treffen können.

Diese Waffe könnte nach amerikanischer Einschätzung jede Panzeroffensive aus dem Osten stoppen und die Verteidigungskraft der Bundeswehr so stärken, daß sie einen konventionellen Angriff mit großer Aussieht auf Erfolg abschlagen kann. Ein westdeutscher Strategie-Experte: »Unsere Fähigkeit. uns notfalls außerhalb des Bündnisses selbst zu sichern, nähme zu. Wir wären weniger erpreßbar.«

Im Vergleich zur Bundeswehr geraten die Armeen der Verbündeten zunehmend ins Hintertreffen -- zumal immer mehr westeuropäische Staaten. vor allem Großbritannien, Italien und Dänemark, versuchen, wegen Geldmangels ihre Verteidigungskosten zu senken. Italien etwa zog im Herbst 1974 rund 60 000 Wehrpflichtige gar nicht erst ein, weil das Geld für den Sold fehlte. Sogar die wirtschaftlich kräftigen Holländer und Belgier stecken zurück. Ein Fachmann aus dem Verteidigungsministerium weiß: »Die haben alle den Gedanken im Hinterkopf: Die Bundeswehr wird"s schon machen.«

Dabei ist den Nachbarn der Aufstieg der Bundesrepublik zur Nummer zwei im Nato-Bündnis. zur Führungsmacht in Europa und zum Schwergewicht mit weltweitem Einfluß noch immer ein wenig rätselhaft, ja auch unheimlich. Die Deutschen aber sind so ganz anders als die Hurra-Generationen ihrer Väter und Großväter: Hinter der Fassade des Bewußtseins, das Wohlfahrt und Wohlstand schuf, nistet Angstbereitschaft, die bei ungünstigen Nachrichten sogleich hochvirulent wird.

Die demoskopische Mehrheit der Bundesbürger zieht derzeit die Opposition, die nicht weiß, was sie will, einer Regierung vor, von der sonst alle Welt weiß, was sie kann. Während in Deutschland der Zweifel grassiert, ob nicht doch alles falsch war, sind sich führende Politiker und Wissenschaftler im Ausland darin einig, daß die Bundesrepublik die besten Mechanismen der Krisenbewältigung entwickelt hat:

* In der Wirtschaftspolitik setzte liberaler Wettbewerb im Innern und freier Handel mit dem Ausland die deutschen Unternehmer schon sehr früh einem hohen Leistungsdruck aus. Durch dauernde Zollsenkungen und häufige Aufwertungen der Mark wurde die deutsche Industrie wie kaum eine andere in der Welt gezwungen, im harten internationalen Konkurrenzkampf zu bestehen.

* In der Industrie sorgte der Anpassungsdruck für modernste Produktionsbedingungen. Das Potential fähiger Facharbeiter wurde noch verstärkt durch den Zustrom von Millionen gut ausgebildeter Flüchtlinge, deren Schaffensdrang der Wirtschaft zusätzliche Impulse verlieh. > In der Gesellschaft vollzog sich eine Entwicklung, die, mehr als in anderen europäischen Ländern, zum Abbau überkommener Sozialschranken beitrug. Eine Politik sozialer Sicherungen und ein hohes Wirtschaftswachstum verringerten die Klassengegensätze mehr als anderswo. Die Gewerkschaften ordneten sich kampflos -- anders als etwa in Italien, Frankreich und England -- in das neokapitalistische System ein und erhöhten seine innere Stabilität. »Eine Mischung aus Heinemann und Abs ist das Richtige.«

Über zwanzig Jahre währende Prosperität ließ alle radikalen Parteien bedeutungslos werden und sicherte der zweiten deutschen Republik ein relativ stoßfestes parlamentarisches Regierungssystem. Keine andere westeuropäische Regierung sitzt -- trotz aller innenpolitischen Schwierigkeiten -- heute so test im Sattel wie die Bonner.

Keine andere westliche Regierung wagte es, ihren Wählern eine so drastische Stabilitätspolitik zuzumuten, wie sie die Bonner Koalition im Mai 1973 verordnete. Und in den meisten anderen Staaten hätten die Gewerkschaften Investitionsprämien, wie sie Anfang Dezember zugunsten der Unternehmer zwecks Konjunkturankurbelung beschlossen wurden, aufs erbittertste bekämpft. Regierungssprecher Armin Grünewald urteilt: »Was man hierzulande an ökonomisch Vernünftigem alles durchsetzen kann, ist doch allerhand. Woanders hätte das ganz fürchterliche Emotionen hervorgerufen.«

Das exemplarische Wohlverhalten der Bundesdeutschen beruht freilich nicht nur auf der Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen oder dem Geschick ihrer politischen Führung, sondern auch auf der Konfliktscheu und dem in Krisen gehärteten Harmoniebedürfnis des deutschen Menschen, In seinem Buch »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« spricht der Soziologie-Professor Ralf Dahrendorf von »jener verstellten Haltung zu sozialen Konflikten, die die deutsche Gesellschaft durchgehend bestimmt«. Der Publizist Rüdiger Altmann räsoniert: »Stabilität ist in Deutschland eine metapolitische Sehnsucht. Für die Deutschen ist eine Mischung aus Heinemann und Abs das Richtige.« Dem Berliner Politologen Richard Löwenthal erschien daher die Bundesrepublik als ein »hochtechnisiertes Biedermeier«.

Was Wunder, daß angesichts des vorherrschenden Sekuritätsstrebens das wachsende internationale Gewicht der Bundesrepublik nicht zu einem Thema werden konnte. Den Westdeutschen wurde es allerdings auch schwergemacht, ein Gespür für die Bedeutung ihres Staates zu entwickeln. Denn solange die Wiedervereinigungs-Ideologie die herrschende Doktrin war und die Republik von ihren Bürgern nur als Übergang zu einem gesamtdeutschen Nationalstaat angesehen wurde, so lange konnten sich die Bundesdeutschen weder mit ihrem Gemeinwesen identifizieren noch für seinen internationalen Rang interessieren.

Mit einer realitätsgerechten Selbstbeurteilung hatten die Deutschen laut Entwicklungshilfeminister Bahr »immer schon Schwierigkeiten gehabt«. Bahr: »Sie haben sich entweder überschätzt oder unterschätzt«

Diejenigen, die um die Spitzenposition der Bundesrepublik längst wußten, hielten sich wohlweislich zurück, das Thema im innenpolitischen Machtkampf auszuschlachten. Der Politik-Professor Werner Kaltefleiter, Leiter des CDU-nahen Sozialwissenschaftlichen Forschungs-Instituts, stellte fest: »Alle Parteien haben darauf verzichtet, die Großmachtrolle zu ideologisieren. Allen war bewußt, daß kein Bereich so zur innenpolitischen Emotionalisierung geeignet ist wie die Außenpolitik.«

Möglich auch, daß die Regierung das heikle Thema umschiffte, weil sie mutmaßte, daß beim Wählervolk mit Großmachtansprüchen wenig zu gewinnen ist: Allzu schmerzhaft haben die Deutschen erfahren müssen, welches fatale Ende der Griff nach der Weltmacht haben kann. Der ehemalige Stellvertreter im US-Außenministerium, George Ball, beobachtete »eine gewisse, aus der Nachkriegszeit stammende Zurückhaltung bei den Deutschen, Führung zu übernehmen«. »Die Europäer mit Grazie zur Solidarität zwingen.«

Das britische Wirtschaftsmagazin »Economist« wunderte sich über »das Fehlen eines politischen Willens, auch nur irgend etwas mit der Macht anzufangen«. Mit wachsender Kraft jedoch. das ist absehbar, wird die ehedem bedeutungslose Residenz am Rhein -- ob sie will oder nicht -- einen ihrer Stärke gemäßen Part im politischen Kräftespiel übernehmen müssen. Nicht mehr lange, so meint SPD-MdB Erhard Eppler. sechs Jahre lang Entwicklungshilfeminister in Bonn, kann es sich die Bundesrepublik leisten, als »Großmacht ohne Gesamtkonzept« zu gelten.

Zumindest in Europa beginnen deutsche Politiker allmählich, sich in die Rolle des Führenden einzuleben -- wobei es nach dem Urteil von Luxemburgs Ministerpräsident Thorn »erklärtes Ziel Bonns zu sein scheint, diese Vormachtstellung zu verschleiern, um Frankreich den Eindruck zu vermitteln, Paris spiele in Europa noch die erste Geige«.

Guido Brunner, bis vor zwei Monaten Planungschef im Bonner Auswärtigen Amt und jetzt EG-Kommissar in Brüssel, skizziert die Bonner Aufgaben in Europa: »Die Bundesrepublik muß über den Schatten ihres Provinzialismus springen und versuchen, der Föderator Europas zu werden, ohne die anderen es merken zu lassen. Wir müssen die Europäer mit Grazie und Eleganz zur Solidarität zwingen.«

Helmut Schmidts Konzept zielt auf Überredung und, wo nötig, auf flankierenden Druck. Da der ökonomisch stärkste Staat des Kontinents nur in einem prosperierenden Europa seinen Wohlstand sichern kann, will Helmut Schmidt auch zahlen, gleichzeitig aber seine Finanzmacht einsetzen, um die ökonomisch weniger disziplinierten Partner zu wirtschaftspolitischem Wohlverhalten nach Bonner Rezept zu zwingen. Ein Bonner Staatssekretär: »Wir müssen unsere wirtschaftliche Stärke kalt einsetzen, damit sich in Europa keine balkanisierten Randzonen hilden.«

Die Fixierung der westdeutschen Außenpolitik auf Europa und die Ost-West-Entspannung ist notwendig, wenngleich nicht ausreichend. Eppler fordert eine Bonner Konzeption für den Nord-Süd-Konflikt, vor allem eine klar definierte Politik gegenüber Afrika, Asien und Lateinamerika. Eppler: »Was wir noch brauchen, ist die ostpolitische Leistung Willy Brandts in Richtung Süden.« Hier habe Frankreich beispielsweise eine sehr viel stärkere Position als die Bundesrepublik. Auch ein hoher AA-Beamter sprach besorgt: »Es darf nicht dazu kommen, daß wir die europäischen Landratsämter besetzen und die anderen die europäische Außenpolitik machen.« Eppler-Nachfolger Egon Bahr hat erfahren: »Der Erwartungshorizont in der Dritten Welt liegt höher als das, was wir gegenwärtig bieten.«

Das freilich zwingt die Bundesrepublik aus der jahrzehntelangen Verkäufer-Mentalität einer Händlernation heraus und fordert ihr lästige Parteinahme in heiklen Konflikten ab.

Schon nimmt in der Auseinandersetzung zwischen Arabern und Israelis der Druck auf Bonn ständig zu, sich für eine Seite zu entscheiden. Israels Regierungschef Jizchak Rabin erwartet, daß die Bundesregierung die europäischen Staaten davon abhält, Israel fallenzulassen, wie Frankreich es wünscht. Rabin zum SPIEGEL: »Die europäische Tragödie kann nur von der Bundesrepublik verhindert werden,«

Abd el-Salam Dschallud, Premier des ölreichen Libyen, dagegen fordert die Deutschen auf, dem französischen Beispiel in Nahost zu folgen: »Was Frankreich sich leisten kann, kann die Bundesrepublik sich schon lange leisten.«

Immer stärker auch wird der Druck der westlichen Supermacht USA auf die Bundesrepublik, den Weltpolizisten als Hilfssheriff zu unterstützen und Nachschublieferungen von ihrem Territorium nach Israel zuzulassen. Ohnehin mehren sich in den Vereinigten Staaten die Stimmen, die nach einer Achse Bonn-Washington unter Umgehung der anderen Europäer rufen.

C. Fred Bergsten etwa, Wissenschaftler am Washingtoner

Brookings-Institut. einer Denkfabrik, in der auch die US-Regierung Konzepte ausarbeiten läßt, fordert ein deutsch-amerikanisches »joint

leadership«, eine »Bigemonie«. Darin könnten die beiden wirtschaftlichen Großmächte ihre Potenzen zusammenwerfen und der Welt ihre Wirtschaftspolitik aufzwingen.

Die wachsende Intimität zwischen Bonn und Washington birgt jedoch die Gefahr, daß die Bundesrepublik immer mehr für die Aktionen der Imperialmacht USA mithaften muß. Ex-Entwicklungshelfer Eppler warnt: »Wir werden als das Land angesehen, das den USA am nächsten steht. Es kann uns passieren, daß wir schnell zu einem Spezial-Buhmann der Entwicklungsländer werden.«

Für die Bundesrepublik wäre diese Rolle allein deshalb gefahrvoll, weil ihre Industrie nahezu total abhängig ist von Rohstoffimporten, die vor allem aus der Dritten Welt kommen. Gegenwärtig sorgen sich Helmut Schmidt und sein Außenminister Genscher freilich vor allem um einen Nahost-Krieg im Frühjahr. Denn der fünfte Waffengang zwischen Juden und Arabern könnte einen neuen Ölboykott auslösen und die ohnehin stark gefährdete Weltkonjunktur weiter erschüttern. Betroffen wäre dann vor allem die Bundesrepublik, in der jeder sechste Arbeitnehmer vom Export lebt. Von den nouveaux riches zu den nouveaux boches?

Schon jetzt deutet sich ein Rückgang der hohen Export-Überschüsse an. Die Automobil-Industrie etwa, die fast 60 Prozent ihrer Fahrzeuge im Ausland verkauft, meldete für den November einen Export-Rückgang von 32 Prozent, im Dezember gingen gar über 40 Prozent weniger Aufträge ein.

Denkbar auch, daß die Ölscheichs bei einem weiteren Krieg um Israel erneut den Preis für ihren begehrten Rohstoff heraufsetzen und dadurch zahlreiche Industrie- und Entwicklungsländer, die jetzt schon von der Geduld ihrer Gläubiger leben, vollends zahlungsunfähig werden. Folge: Die Zollschranken könnten heruntergehen. Westdeutschland wäre über Nacht lebenswichtiger Exportmärkte beraubt.

Anders als die Supermacht USA, die ohne Rohstoff-Einfuhren und Warenausfuhren überleben könnte, anders auch als Rußland und China ist der westdeutsche Staat eine Macht, deren Stärke und Einfluß vom Wohlbefinden ihrer Umwelt abhängen: Zerfällt Europa und stürzen die Industriestaaten in eine schwere Krise, fällt die Bundesrepublik ganz rasch vom Sockel.

Anders als die USA, die es sich leisten konnten, als Imperialmacht in die Rolle des häßlichen Amerikaners zu geraten, muß die Bundesrepublik, will sie ihre Position halten, sich vor dem Abbild des »ugly German« hüten. Denn noch ist bei den europäischen Nachbarn trotz aller Partnerschaft in den letzten zwei Jahrzehnten nicht ganz vergessen, was die Großmacht Deutschland im Reichswahn zweimal über sie gebracht hat.

Kanzler Schmidt, der selbst gelegentlich nicht frei von der Neigung ist, Bonns Kraft deftig herauszustreichen. fürchtet die Gefahr, die neuen Deutschen könnten das Ausland wieder an die »herrlichen Zeiten« eines Wilhelm II. erinnern. Sein Vertrauter, Pressestaatssekretär Klaus Bölling, hält die Warnung für angebracht: »Wir dürfen im Ausland nicht mit dem Federbusch auf dem Helm herummarschieren.«

Erhard Eppler fürchtet, daß die Deutschen schon jetzt wieder zum Nationalismus neigen, wenn andere etwas von ihnen wollen: »Wir müssen aufpassen, daß die nouveaux riches nicht zu den nouveaux boches werden.«

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