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BONN-VERBÜNDETER ODER FEIND?

aus DER SPIEGEL 30/1963

Das Unterhaus in London erörterte Anfang Juli die von den USA vorgeschlagene multilaterale Atomflotte der Nato, wobei immer wieder durchklang, was britische Politiker aller Parteien eint das zwei Jahrzehnte nach dem letzten Krieg noch wuchernde Mißtrauen gegenüber den Deutschen.

EDWARD HEATH, Lordsiegelbewahrer: Wir wollen den Verbündeten, die es wünschen, einen Anteil an den Entscheidungen beim Einsatz von Atomwaffen geben, zu dem ihr Beitrag zur Allianz sie berechtigt. Dieses Problem ist zum Teil daraus entstanden, daß andere Mitglieder des Bündnisses stärker und wohlhabender geworden sind.

WILLIAM WARBEY, Abgeordneter der Labour-Partei: Der Herr Kollege spricht immer wieder von Europa. Wenn er so spricht, dann muß er wissen, daß es kein internationales Konzept Europas gibt. Wir können im Augenblick doch nur von Nationalstaaten sprechen. Wenn also de Herr Kollege »Europa« sagt, meint er dann Deutschland?

HEATH: Ich meine nicht nur Deutschland. Ich meine Westeuropa. Und wenn der verehrte Herr Kollege seine Freunde in Osteuropa dazu bringen könnte, diese allgemeinen Grundsätze zu akzeptieren, so würde das niemand mehr begrüßen als ich.

PATRICK GORDON WALKER, Abgeordneter der Labour-Partei: Wir auf unserer Seite sind entschieden dagegen, daß Deutschland Kernwaffen kontrolliert. Ich meine, das ist die gemeinsame Politik Großbritanniens, der Sowjet-Union und der Vereinigten Staaten. Keiner von ihnen wünscht, daß Deutschland in den Besitz von Kernwaffen gelangt. Wir haben aus vielen Gründen die Pläne einer multilateralen Streitmacht kritisiert. Aber es genügt nicht zu sagen: »Wir wollen nicht, daß Deutschland Kernwaffen erhält.« Wir leben in einer Welt, in der wir Briten nicht alles beherrschen. Wir müssen eine Politik verfolgen, die auch zur Verwirklichung unserer Ziele hinführt.

SIR CYRIL OSBORNE, konservativer Abgeordneter: Ich muß das Haus nachdrücklich darauf hinweisen, daß sich die sowjetischen Führer und das sowjetische Volk einem solchen Plan (Aufbau einer multilateralen Atomflotte mit deutscher Beteiligung) scharf widersetzen. Die trauen keinem Deutschen mit einem Gewehr in der Hand. Sie haben guten Grund dazu, denn im letzten Krieg verloren sie zwanzig Millionen Menschen, weil die Deutschen in ihr Land einfielen. Die Russen fürchten, daß Deutschland in der Nato mächtiger wird als Großbritannien. Sie erklären, Frankreich werde sich aus der Nato zurückziehen, Deutschland Seinen Platz einnehmen und dann das mächtigste Land Europas werden. Wenn ich in freundschaftlichen Unterhaltungen mit sowjetischen Politikern ihre Bedenken zu entkräften suchte, erwiderten sie nur, das letzte Mal sei Hitler in ihr Land eingefallen, vor Hitler der Kaiser, vor ihm Bismarck, vor Bismarck dann Friedrich der Große und vor jenem die deutschen Ritter*. Sie trauen den Deutschen nicht.

HAROLD WILSON, Abgeordneter der Labour-Partei: Ich habe davon gesprochen, daß die Russen über die Bewaffnung Deutschlands wie besessen sind. Ich glaube, das ist kein zu starkes Wort. Ich glaube nicht, daß man das Wort »Haß-Liebe« gebrauchen sollte. Auf jeden Fall ist die russische Haltung

gegenüber den Deutschen eine Mischung aus Respekt und Haß. Immerhin wurde so ungefähr alles, was im zaristischen Rußland Erfolg hatte, von der Eisenbahn bis zu Baumwollspinnereien, von Deutschen kontrolliert oder verwaltet.

(Zwischenruf. »Und von Schotten!")

WILSON: Ja, und von den Schotten. Das gebe ich zu. Aber die Russen haben nur Respekt vor den Schotten, sie hassen sie nicht. Seit jenen Zeiten haben die Russen eine ungeheure Achtung vor den technischen Leistungen der Deutschen. Diese Tatsache und der Zweite Weltkrieg, in dem zwanzig Millionen Russen starben, haben eine Lage geschaffen, in der man wohl mit Recht das Wort »Zwangsvorstellung« gebrauchen kann. Wir hätten dieselbe Zwangsvorstellung, wenn wir unter den Deutschen so gelitten hätten wie die Russen. Daher würde jeder Plan, die Deutschen mit Kernwaffen auszurüsten ... ein ebenso schicksalhafter Meilenstein auf dem Weg zum dritten Weltkrieg sein, wie es Hitlers Einmarsch ins Rheinland auf dem Weg zum letzten Krieg gewesen ist.

JO GRIMOND, Abgeordneter der Liberalen Partei: Ich bedaure die Zwangsvorstellungen, die hier in der Frage herrschen, ob die Deutschen strategische Kernwaffen bekommen werden. Ich bin fassungslos, daß in dieser Debatte anscheinend allgemein vorausgesetzt wird, daß die Deutschen sich geradezu umbringen, um die Kontrolle über strategische Kernwaffen zu bekommen. Ich kann das nicht finden. Wenn sie an der Kontrolle von Kernwaffen interessiert sind, dann liegt ihnen meiner Meinung nach sehr viel mehr an einer Kontrolle sogenannter taktischer Kernwaffen: Sie machen sich viele Gedanken über die Verteidigung Deutschlands mit konventionellen Kriegsmitteln und taktischen Kernwaffen. Und das kann ich sehr wohl verstehen. Wir sollten daher nicht immer wieder die Frage der Kontrolle strategischer Kernwaffen durch die Deutschen aufwerfen. Wenn wir das tun, erschweren wir nur den vernünftigen deutschen Politikern, die Sache in angemessenen Proportionen zu halten.

JOHN HYND, Abgeordneter der Labour-Partei: Wir müssen ein für allemal klarmachen, ob wir Deutschland als Verbündeten oder als Feind akzeptieren wollen. Wenn es als Feind betrachtet werden soll, dann müßte es aus der Nato ausgeschlossen werden. Wenn wir es aber für einen Verbündeten halten, warum behandeln wir es dann nicht so? Es ist sinnlos, Deutschland einerseits davon zu überzeugen, wir würden es als Verbündeten akzeptieren, und ihm andererseits zu bedeuten, wir mißtrauten ihm. Ich frage mich oft, warum diese deutschfeindliche Propaganda so hartnäckig verbreitet wird.

* Tatsächlich haben die Truppen Friedrichs des Großen, der zweimal mit Rußland verbündet war, niemals russischen Boden betreten; die Grenadiere des Rußland-Verbündeten Bismarck gerieten nur einmal, 1863, mit russischen Truppen in Tuchfühlung, als sie gemeinsam einen Aufstand in Polen niederschlugen.

Labour-Chef Wilson

»Die Russen sind wie besessen ...

Liberalen-Chef Grimond

... von der Bewaffnung Deutschlands«

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