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Günter Gaus Bonner Doppelkopf

Von Günter Gaus
aus DER SPIEGEL 21/1971

Karl Schiller hat die Regierung in Bonn übernommen -- was ist an dieser Behauptung noch falsch, nachdem der agile Herr Professor zum Minister für Wirtschaft und Finanzen ernannt worden ist? Er ist für die Amtszeit der jetzigen Bundesregierung praktisch unabsetzbar geworden, denn Willy Brandt konnte Möller gehen lassen, aber von Schiller kann er sich nun nur noch trennen, um ihm alsbald selbst in den Abschied zu folgen.

Kein christlich-demokratischer Hausherr im Palais Schaumburg ist je von Franz Josef Strauß so abhängig gewesen wie heute Brandt von seinem Schatzkanzler Schiller. Die Bundesrepublik also wird von Karl Schiller regiert. Oder?

Versteht er denn zu regieren«! Er ist nicht mehr der Mann des Wahlkampfes 1969, der gegenüber einer CDU, die wirtschaftspolitisch von ihren Interessenbindungen gelähmt war, wie ein neuer Wundermann, wie ein vollakademischer Erhard auftreten konnte. Der Lack ist ab, Zunächst zu selbstbewußt, um Rückendeckung bei der Basis, der sozialdemokratischen Fraktion, zu suchen, und dann zu oft zu ungeschickt, sich ihrer Hilfe zu versichern, ist Schiller in den vergangenen anderthalb Jahren ein Minister gewesen, der die richtigen Erwägungen mit der Unfähigkeit paarte, sie zu gegebener Zeit durchzusetzen. Am Ende flüchtete er sich dann gern in die Arme Herbert Wehners, der auch nicht immer zum Kompromiß noch bringen konnte, was Karl vorher mit totalem Anspruch vollständig verfehlt hatte.

Jetzt muß Schiller, will er reüssieren, ein Politiker sein, der seine wirtschaftliche Konzeption bewußt abstellt auf die eigene Fraktion und deren unterschiedliche Interessen, auf den Koalitionspartner und dessen unterschiedliche Interessen, auf die Industrie und deren unterschiedliche Interessen, auf die Gewerkschaften und deren unterschiedliche Interessen, auf die und auf jene und auf diese auch noch. Und dabei ist von Helmut Schmidt und dessen besonderem Gewicht im Kabinett noch gar nicht die Rede gewesen.

Dies alles hat der theoretische Kopf nun von Anfang an zu bedenken und in seine Entscheidungen praktikabel einzubeziehen. Er muß also das Gegenteil von dem tun, wozu er neigt: sich selbst für am mächtigsten allein zu halten. Seine wirtschaftspolitischen Absichten werden genausoviel wert sein, wie er Unterstützung dafür findet. Das ist zwar eine Erkenntnis aus dem kleinen Einmaleins -- aber sie zu buchstabieren, hat Schiller bisher eher lästig gefunden.

Willy Brandt blieb allerdings gar keine andere Wahl, als den Wirtschaftsminister zum Mit-Kanzler zu bestellen. An Möllers erkennbarer Starrheit hätten sich Konflikte im Kabinett entzündet, über die der Koalitionspakt wahrscheinlich zerbrochen wäre. Denn darin genau liegt von jetzt an bis zum Ende der Legislaturperiode die Krisenanfälligkeit der Regierung, daß sie theoretisch und auch in den Augen der Wähler mit einschneidender Härte auftreten müßte, dies aber tatsächlich kaum noch kann.

Zu vielschichtig sind die höchst differenzierten wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten einerseits geworden und andererseits die Zwänge, bei der nächsten Wahl wenigstens etwas mehr vorweisen zu können als das, was zwar nicht selbstverständlich ist, aber doch dafür genommen wird, stabiles Geld und prosperierende Wirtschaft. Lavieren und wenig sonst bleibt der Regierung bis 1973 übrig. Hoffentlich wird unter den engsten Mitarbeitern des Bundeskanzlers konsequent die bisherige vollmundige Fixigkeit beim Polit-Planen gegen das ausgetauscht, was jetzt not tut: Zurückhaltung.

Wenn es auch nach der nächsten Wahl bei der Zusammenfassung von Wirtschaft und Finanzen in einem Ressort bleibt, dann werden sich die Gewichte im Kabinett neu austarieren; das beginnt schon jetzt. Außenpolitiker Brandt mußte eilig über Nacht eine Massierung von Kompetenzen verfügen, die sein eigenes Vorrecht, Richtlinien zu setzen, weithin entleert. Karl Schillers Ernennung macht Korst Ehmkes beabsichtigte Kabinettsreform zugunsten des Palais Schaumburg zur Planspielerei. Schwierig wie Schiller ist, birgt auch das notwendige Herstellen des neuen Gleichgewichts zwischen ihm, Brandt und den wichtigsten Ministern schwere Konflikte; nicht Ehmke, nur Brandt kann sie ausräumen. Also eine Dauerkrise in einer doppelköpfigen Regierung? Das muß nicht so sein. Umstände, für die sie nicht verantwortlich zu machen ist, und eigene Fehler haben die Regierung von Brandt und Scheel jetzt in eine Lage gebracht, in der sich Kabinett und Regierungsfraktionen kaum noch darüber täuschen können, was sie zusammenhält und was sie trennen kann: Die politischen Ungereimtheiten des Bündnisses aus SPD und FDP liegen ebenso zutage wie dessen Sinn.

Die Koalition ist 1969 gebildet worden im Aufwind des berechtigten Bedürfnisses nach einer wirklichen Änderung in Bonn und auf der Basis außenpolitischer Gemeinsamkeiten; innenpolitisch, machen wir uns nichts vor, war nicht viel zu verabreden. Das konnte man auch seinerzeit schon erkennen -- aber solchen Einsichten stand der heftige Wunsch nach erneuerten politischen Werten durch Wachablösung gleichrangig zur Seite.

Natürlich hat der noble Irrtum, heutzutage ließen sich noch solide Koalitionen auf Außenpolitik gründen, einen Teil des Fehlverhaltens der Regierung von Anfang an mitverursacht. Brandt und Scheel mochten gemeinsam nach Moskau gehen, um einen richtigen, überfälligen Schritt zu tun -- steuerpolitisch aber führt kein Weg vom Gewerkschaftsflügel der SPD-Fraktion zum FDP-Abgeordneten Kienbaum. Auch scheint der Gefühlsaufschwung, mit dem Brandt und Scheel zur Regierungsmacht gelangten, manche Naivität im Exekutieren der politischen Geschäfte mit sich gebracht zu haben. Diese Zeit der schönen Selbsttäuschung ist vorüber -- solche Einsicht aber kann krisenhemmend sein.

Und natürlich hat die Regierung noch einen starken Verbündeten: die Opposition. Die Geschwindigkeit, mit der Barzel die jeweils gängigsten Allgemeinplätze zu einem Alternativ-Programm erklärt, besagt nur etwas über den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU; sachlich blieb es bisher ohne Belang. Und personalpolitisch schließlich ist es beinahe schon kein Hohn mehr, wenn man vermutet, das Kandidaten-Karussell werde noch einmal bei Kiesinger stehenbleiben. Eine Regierung, die solche Unterstützung hat, darf noch hoffen.

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