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STUDENTEN / VDS Botschafter abberufen

aus DER SPIEGEL 19/1968

In Kanzler Kiesingers Bundeswehr-Sondermaschine klebte ein kleines, schwarzrotgold umrandetes Plakat: »Treibt Bonn den Notstand aus! 11. Mai Sternmarsch auf Bonn.«

Es war das Werk der Studenten: Vertreter des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) hatten den Marschbefehl an der Kabinenwand der Luftwaffen-Convair 1204 angeschlagen, als sie am Montagmittag letzter Woche in unverhoffter Gemeinsamkeit mit Kanzler-Staatssekretär Carstens, Regierungssprecher Ahlers und Kiesingers persönlichem Referenten Neusel nach Stuttgart flogen.

Staatssekretär Carstens übersah die rebellische Aufforderung geflissentlich. Und des Kanzlers Fliegersoldaten mochten es nicht riskieren, sich an der frechen Annonce zu vergreifen. Denn ihre unbotmäßigen Passagiere flogen als Gäste der Regierung, gegen die sie am 11. Mai marschieren wollen.

In Stuttgart erwartete Kurt Georg Kiesinger die jugendliche Abordnung zum ersten speak-in der Spitzen des Bonner Establishment und der studentischen Rebellion.

Den Entschluß. mit Vertretern der aufrührerischen Studentenschaft zu diskutieren, hatte der Kanzler schon bald nach den Oster-Unruhen gefaßt.

* Er sah die Notwendigkeit ein, »den Gruppen, die in den etablierten Parteien keine politische Heimat finden, eine Chance zu geben, sich zu Gehör zu bringen«;

* er wollte versuchen, den jugendlichüberschwenglichen Studenten »den Unterschied zwischen politischem Bekennertum und politischer Praxis klarzumachen«.

So folgte er dem Rat seines Regierungshelfers Conrad Ahlers, die Vorsitzenden des VDS, des immer heftiger politisierenden Interessenverbandes der deutschen Studenten, zum Gespräch zu bitten. VDS-Chef Christoph Ehmann, von Ahlers telephonisch eingeladen, akzeptierte sofort. Er war auch bereit, am Montag nach der Wahl mit seinen Vorstandskollegen nach Stuttgart zu reisen, wo Wahlkämpfer Kiesinger am Vormittag mit seinen schwäbischen Parteifreunden die baden-württembergischen Wahlergebnisse analysierte.

Das von Ahlers ersonnene Angebot, in einer Bundeswehr-Maschine zusammen mit Kanzler-Beratern von Bonn nach Stuttgart geflogen zu werden, nahm der VDS an. »Denn das«, so Ehmann mannhaft, »korrumpiert uns nicht.«

Nach der Landung in Stuttgart fuhren Ehmann und seine Kollegen Björn Paetzold, Volker Gerhardt, Jürgen Kegler und Fritz Fliszar in drei Taxis mit der Kanzler-Crew zur Villa Stafflenbergstraße 51, dem Gästehaus des nord-württembergischen CDU-Chefs, Papierfabrikanten und Kiesinger-Freundes Klaus Scheufelen.

Bei schwäbischen Laugenbrezeln, Kaffee und Tee eröffnete Kiesinger die Konfrontation mit einer politischen Betrachtung der Oster-Unruhen. Es müsse doch gefragt werden, ob diese Unruhen nicht zum Wahlerfolg der NPD beigetragen hätten. Ehmann erwiderte: »Diesen Vorwurf wollen wir uns nicht machen lassen. Es geht doch eher um die Frage, woher denn überhaupt die Unruhen gekommen sind.«

Kiesinger setzte das Gespräch mit väterlich wohlwollenden Fragen fort. Aber auch gegen solchen »Paternalismus« verwahrten sich Ehmann und

* Im Gästehaus des nord-württembergischen CDU-vorsitzenden Klaus Scheufelen mit Regierungssprecher Conrad Ahlers (3. v. r.) und Staatssekretär Karl Carstens (r.).

Genossen: Die Bundesregierung habe genügend Zeit gehabt, sich über die Auffassungen der Studenten zu informieren.

Als der Kanzler vor den politischen Ideen Rudi Dutschkes warnte und hinzufügte, er würde auswandern, wenn solche Vorstellungen in Deutschland jemals zur Realität gediehen, unterbrach ihn der stellvertretende VDS-Vorsitzende Paetzoldt: »Herr Bundeskanzler, das ist Ihr Problem. Das interessiert uns nicht.«

Kiesinger konstatierte untertreibend »eine gewisse Verranntheit« seiner Kontrahenten. Er hielt ihnen ihren »moralischen Rigorismus« vor. Politiker müßten nun einmal auch pragmatisch vorgehen.

Die Studenten hingegen vermißten die »moralische Basis« der deutschen Außenpolitik und verlangten vom Kanzler nur, den deutschen Botschafter aus Athen abzuberufen, das feudalistische Regime des Schuhs von Persien zu verurteilen und die Beziehungen zu Südkorea abzubrechen.

Beim Uralt-Thema Vietnam zeigte sich ein Schimmer von Übereinstimmung. Der Kanzler wies seine Gesprächspartner darauf hin, daß er sich in diesem Punkt bisher sehr neutral verhalten und es -- im Gegensatz zu Vorgänger Ludwig Erhard -- abgelehnt habe, den USA öffentlich moralische Unterstützung zu geben. Die Studenten erkannten das an.

Beim Thema Springer hingegen redeten Regenten und Rebellen flott aneinander vorbei. Dem Vorwurf der Studenten, der Springer-Konzern manipuliere Meinungen, begegnete Presse-Mann Ahlers mit der Feststellung, manipuliert werde keineswegs bloß bei Springer. Und der Kanzler vertröstete die Frager mit dem Versprechen, er wolle den in Kürze zu erwartenden Bericht der Presse-Kommission des Kartellamtspräsidenten Günther über die Konzentration auf dein Zeitungsmarkt »ernsthaft prüfen«.

Auf das Vorgehen der Polizei bei den Anti-Springer-Demonstrationen angesprochen, fragte Kiesinger zurück: »Was erwarten Sie denn von der Polizei, wenn etwa die NPD versuchen sollte, die Auslieferung unliebsamer Druckerzeugnisse -- etwa des SPIEGEL -- zu verhindern?« Student Ehmann: »Auch in einem solchen Fall müßte die Polizei nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel vorgehen.«

VDS-Paetzoldt nach dem Gespräch: »Wir sind nicht mit großen Hoffnungen hingegangen. Aber es ist immerhin Verständnis für manche Position des anderen geweckt worden.

Als Studenten-Mannschaft und Kanzler-Crew am Montagabend gemeinsam mit dem Regierungschef in die Bundeshauptstadt zurückflogen, klebte der Aufruf zum Marsch auf Bonn noch immer an der Kabinenwand des Bundeswehrflugzeugs. Kanzler Kiesinger setzte sich direkt darunter.

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