»Brauchen 2404 Millionen«
In aller Frühe klingelte Arbeitsminister Norbert Blüm den Finanzchef der Regierung Kohl, Theo Waigel, aus dem Schlaf: Der Kollege wolle sicher nicht in der Zeitung lesen, daß die DDR keine Renten mehr auszahlen könne. Und so schafften es die Bonner Mitte Juli mit einer Blitz-Überweisung im letzten Moment, daß 2,6 Millionen DDR-Rentner im August an ihr Geld kamen.
Der Vorfall zeigt, wie chaotisch der deutsch-deutsche Einigungsprozeß verläuft: Mühsam werden immer neue Löcher gestopft, die Koordination zwischen Ost und West klappt nirgends. Die Aktion Einheit ist nicht mehr unter Kontrolle.
Mit wenigen lockeren Zeilen hatte der Parlamentarische Staatssekretär im DDR-Ministerium für Arbeit und Soziales, Alwin Ziel, den Kollegen im West-Ressort am 19. Juli mitgeteilt: Damit die Rentenzahlungen zum 25. Juli »pünktlich erfolgen können«, brauchen wir »2404 Millionen D-Mark spätestens zum 23.7.« auf das Konto des DDR-Finanzministers.
Aufgeschreckt alarmierten die Bonner Sozialministerialen ihren in Finnland urlaubenden Chef Norbert Blüm. Dessen zuständiger Staatssekretär, Bernhard Jagoda, saß derweil in Ost-Berlin mit dem Absender des Notbriefes zusammen und sprach über den Einigungsvertrag. Die Rentenlücke erwähnte Ziel mit keinem Wort. Warum auch, er hatte das Wesentliche ja geschrieben.
Jagoda war noch ahnungslos, als Blüm sich im Luftwaffenjet auf den Rücksturz nach Bonn begab. Um 22.30 Uhr, knapp zwölf Stunden nach Briefeingang, tagte der Krisenstab des Arbeitsministeriums bis nachts um drei. Ergebnis: Die Sozialkassen waren leer. Neue Gelder mußten her.
Am frühen Morgen stimmte Waigel - was blieb ihm übrig - zu, Betriebsmittelkredite, die für ganz andere Zwecke eingeplant waren, ausnahmsweise in die DDR-Rentenversicherung umzuleiten.
Allerdings war die Operation keine Ausnahme, wie Blüm an jenem Morgen von DDR-Staatssekretär Fritz-Klaus Kochan erfuhr. Schon die Juli-Renten waren aus Krediten und Einnahmen bezahlt worden, die eigentlich der Arbeitslosenversicherung dienen sollten. Zwei Milliarden wurden damals schon abgezweigt, weil für die Rentenkasse kalkulierte Beiträge nicht flossen. Viele Betriebe zahlten nicht oder verspätet. Nicht einmal Finanzminister Walter Romberg habe die Beiträge für die Staatsbediensteten ordnungsgemäß abgeführt; das bißchen, das eingezahlt wurde, sei bei den Finanzämtern hängengeblieben oder »wer weiß, wohin« geflossen.
Blüm verdutzt: »Da wird nichts kontrolliert, gar nichts!«
Er verlangte, die seit August überwiesenen 2,4 Milliarden müßten zurückgezahlt werden, die Schludereien aufhören; die DDR habe sich ab sofort in Geldsachen so korrekt zu verhalten wie ein ehrbarer Kaufmann.
Kochan nickte - wissend, daß die Auflagen im DDR-Chaos kaum erfüllt werden können. Bis heute ist zum Beispiel nicht geklärt, wo die Sozialversicherungseinnahmen von Juli geblieben sind.
Um 14.00 Uhr kam die Zahlungsanweisung aus dem Bonner Arbeitsministerium, 15.30 Uhr war das Geld in der Ost-Berliner Staatskasse. Um 19.00 Uhr flog Norbert Blüm ins Ferienquartier zurück.
Seine Fachleute errechneten seitdem, daß die DDR-Sozialversicherung noch in diesem Jahr weitere 10 bis 17 Milliarden Mark für die Arbeitslosenunterstützung braucht.