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Zeitgeschichte Braune Vögel

Hitler ließ sich, zeigen neue Untersuchungen, von Erkenntnissen seines geheimsten Nachrichtendienstes leiten.
aus DER SPIEGEL 44/1991

Vergebens wartete die schöne Schauspielerin Lida Baarova auf den Geliebten. Als schließlich das Telefon klingelte, ahnte sie, daß das Tete-a-Tete flachfallen würde - am anderen Ende der Strippe: Joseph Goebbels, Hitlers Propagandaminister.

»Ich wäre jetzt lieber bei dir im Bett als auf dieser langweiligen Parteikundgebung«, säuselte der verhinderte Galan. Das Süßholzgeraspel des Nazi-Trommlers ist wortgetreu dokumentiert: Der Berliner Anschluß des Ufa-Stars Baarova ("Die Stunde der Versuchung") wurde auf Befehl Hitlers abgehört - ohne Wissen von Goebbels.

Reichsdeutschlands Luftwaffeninspekteur Erhard Milch hingegen ahnte, daß ständig jemand in seiner Leitung lauerte. »Heil Hitler«, begann der Oberflieger stets seine Telefonate und entbot sodann, ziemlich unfein, Grüße »allen Arschlöchern, die da mithören«.

Gemeint waren die Lauscher eines damals schon hochtechnisierten Nachrichtendienstes, die ausgerechnet Milchs Chef Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe, unterstanden. Die Behörde, der sie dienten, hörte auf einen harmlos klingenden, aber richtungweisenden Tarnnamen: »Forschungsamt«, Dienstkürzel »F. A.«.

Die Göring-Spezialisten suchten alles aufzufangen und auszuwerten, was durch den Äther schwirrte oder durch Leitungen ging - ähnlich wie später der Stasi-Repressionsapparat in der alten DDR oder die weltweit operierende amerikanische National Security Agency (SPIEGEL 8/1989).

F.-A.-Agenten klinkten sich nicht nur ins nationale und internationale Telefonnetz ein. Sie nahmen auch, unbehelligt von gegnerischen Abwehrmaßnahmen, den Fernschreibverkehr auf, lasen Telegramme mit und knackten fast alle Codes fremder Mächte.

Hitlers Kriegsgegner wußten wenig über diesen emsigen Geheimdienst der Nazis. Der »Wissensstand« sei »sehr dürftig«, gab nach dem Krieg der US-Diplomat Robert Murphy zu.

Auch für die Geschichtswissenschaft blieb die Göring-Behörde lange ein weißer Fleck. Die meisten Dokumente wurden gegen Kriegsende vernichtet; Biographien oder Memoiren von NS-Größen enthalten, wenn überhaupt, nur knappe Andeutungen. Eine schmale Darstellung des ehemaligen F.-A.-Abteilungsleiters Ulrich Kittel liegt seit 40 Jahren in den Aktenschränken des Koblenzer Bundesarchivs.

Als erster hat jetzt der rheinische Zeitgeschichtler Günther W. Gellermann, 61, eine umfassendere Beschreibung des geheimsten Nachrichtendienstes der Nationalsozialisten vorgelegt*. Gellermann beschreibt das Amt als krakenhafte Bespitzelungsbehörde, die Feind und Freund des Nazi-Regimes ausspähte. Hitler seien technische Überwachungsmaßnahmen eigentlich »widerwärtig« gewesen, schreibt Gellermann, _(* Günther W. Gellermann: » . . . und ) _(lauschten für Hitler. Geheime ) _(Reichssache: Die Abhörzentralen des ) _(Dritten Reiches«. Bernard & Graefe ) _(Verlag, Bonn; 320 Seiten; 48 Mark. ) dennoch habe er sich von den Protokollen entscheidend leiten lassen.

Nach der Machtübernahme 1933 hatten Geheimdienstexperten ursprünglich die bereits bestehenden militärischen Aufklärungsdienste aus der Reichswehr lösen und eine zentrale Behörde ("Reichsnachrichtenamt") schaffen wollen. Die Reichskanzlei sollte zuständig sein.

Hitler lehnte ab. Mit der »Konkurrenz mehrerer Nachrichtendienste untereinander« habe er wohl gehofft, spekuliert Gellermann, die »Monopolstellung eines Dienstes zu verhindern« und bessere Ergebnisse zu erzielen.

Mit der Organisation eines neuen Amtes beauftragte er den preußischen Ministerpräsidenten Göring, der im Mai 1933 auch Reichsluftfahrtminister wurde. Im Frühjahr nahm das Forschungsamt die Arbeit auf. Von diesem Zeitpunkt an, notiert Gellermann, habe es für die Nazis in Deutschland und europaweit »keine Beachtung des Post- und Fernmeldegeheimnisses mehr« gegeben.

Die 141 großen Fern- und Durchgangsleitungen, von Paris nach Prag, von Amsterdam nach Mailand, von London nach Moskau, konnten ohne besondere Formalitäten »angeschliffen« (Amtsjargon) werden. Einzelüberwachungen im innerdeutschen Telefonverkehr bedurften der Genehmigung - das Plazet gab Göring selbst.

Für ihn war damit das Amt, berichtet sein Biograph Walter Kube, »Informations- und Machtorgan zugleich«. Einerseits ärgerte Göring gern die Gestapo und lehnte deren Abhöranträge oft mit dem Standardargument ab, es sei eine »unklare Auftragsbegründung« geliefert worden. Andererseits spielte er gern den Privatschnüffler.

Wenn Göring erfahren wollte, was seine Spähopfer daheim trieben, ordnete er einfach eine Telefonüberwachung an - etwa bei den Schauspielerinnen Zarah Leander oder Ilse Werner. So bekam der Reichsminister auch mit, daß sein Vetter Herbert Göring ihn despektierlich »Lohengrin« oder »Hermann den Schrecklichen« nannte.

Lauschangriffe auf Behörden- und Militärleitungen sowie auf »Persönlichkeiten aus Staat, Partei und Wehrmacht« waren zunächst verboten; vor allem Kabinettsmitglieder, Gauleiter und Generale durften, zumindest bis 1944, nicht bespitzelt werden. Ausnahmen gestattete in diesen Fällen nicht Göring, sondern Hitler.

Doch sicher, das zeigt der Fall des verliebten Goebbels, konnte sich niemand fühlen. Die Horcher saßen, gut abgeschirmt, in den großen Postdirektionen und ihren Verstärkerämtern. Jeder beobachtete, je nach Auftrag, bis zu 20 Leitungen ("Klinken"), stenografierte mit oder nahm auf Tonbändern auf, die damals noch aus hauchdünnem, magnetisierbarem Stahl gefertigt waren.

Unmittelbar nach Ende eines Gesprächs formulierte der Erfasser, »strengste Objektivität wahrend« (Gellermann), einen Extrakt in indirekter Rede. Per Rohrpost oder auf Telex-Sonderleitungen wurden die Texte ins Forschungsamt übermittelt. Mitarbeiter strafften die Protokolle noch einmal und schrieben dann die wesentlichen Zeilen auf braunem Papier nieder.

Diese »Braunen Blätter«, »Braunen Vögel« oder »Braunen Freunde«, wie sie im internen Sprachgebrauch hießen, besaßen Dokumentencharakter. Sie waren als »Geheime Reichssache«, damals die höchste Geheimhaltungsstufe, deklariert. Wer die Papiere oder deren Inhalt »bewußt oder unbewußt« (Gesetzestext) weitergab, erfüllte den Tatbestand des Landesverrats.

Darauf stand die Todesstrafe. Mindestens ein solcher Fall ist bekannt: Hartmut Plaas, Chef der F.-A.-Abteilung 13 ("Innere Sicherheit"), wurde erschossen. Er hatte offenbar dem zum Widerstand zählenden Admiral Wilhelm Canaris einen Hinweis gegeben, daß einer seiner Mitarbeiter telefonisch überwacht wurde.

Für die Belieferung Hitlers mit den Braunen Blättern war ein besonderer _(* Beim Abhören des Funkverkehrs in ) _(Amsterdam. ) Service eingerichtet. Wie seine Reden mußten auch die F.-A.-Notizen mit einer Spezialschreibmaschine getippt werden, deren Typen 1,2 Zentimenter groß waren - der weitsichtige Hitler wollte aus Eitelkeit keine Brille tragen.

Die Nachrichten, die ihm Görings Lauscher präsentierten, schärften seinen Blick für politische oder militärische Situationen. So ließ er, auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, abgehörte Gespräche zwischen dem tschechoslowakischen Staatspräsidenten Eduard Benesch und dessen Gesandten in London, Jan Masaryk, den Engländern zukommen. Aus dem Protokoll erfuhren die Briten wenig Freundliches über sich.

Masaryk nannte den Londoner Premier Neville Chamberlain einen »wilden Alten«, andere Politiker wurden in dem Gespräch als »Schweine, Lumpen, Bagage, Haderlumpen und Säue« bezeichnet. Ob Hitlers Trick die Briten, wie erhofft, tatsächlich beeinflußte, läßt sich nur schwer ermessen. Chamberlain stimmte bei der Münchener Konferenz 1938 jedenfalls für die Amputation der Tschechoslowakei.

Hilfreich war das F. A. bei Hitlers Entscheidung über das Vorgehen gegen Jugoslawien. Am 25. März 1941 trat Belgrad dem Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan bei, zwei Tage später aber fegte ein Staatsstreich die Regierung Dragisa Cvetkovic weg.

Ein abgehörtes Gespräch zwischen dem neuen Regierungschef General Dusan Simovic und dem jugoslawischen Botschafter in Washington zeigte, daß sich Hitlers Bündnispartner nun lieber mit den USA arrangieren würde. Hitler beschloß, so Gellermann, »nachdem ihm dieses aufgezeichnete Telefongespräch vorgelegt worden war, Jugoslawien sofort anzugreifen«.

Das letzte Braune Blatt handelte von Hitler und Goebbels. Es stammt vom 4. Mai 1945 und faßt zusammen, was die deutschen Lauscher bei britischen Diplomaten aufgeschnappt hatten. Die Meldung des F. A., als eine der wenigen vollständig erhalten, lautete: _____« . . . Während des ganzen Tages suchten sowjetische » _____« Experten in Berlin nach Hitlers und Goebbels Leichnamen, » _____« die angeblich Selbstmord begangen haben sollen. Sie haben » _____« sie nicht gefunden. Viele hier glauben nicht, daß Hitler » _____« überhaupt in Berlin gestorben ist . . . »

Zu diesem Zeitpunkt waren Hitler und Goebbels schon mehrere Tage tot.

* Günther W. Gellermann: » . . . und lauschten für Hitler. GeheimeReichssache: Die Abhörzentralen des Dritten Reiches«. Bernard &Graefe Verlag, Bonn; 320 Seiten; 48 Mark.* Beim Abhören des Funkverkehrs in Amsterdam.

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