ITALIEN / MESINA Braver Junge
Italien hat einen neuen Giuliano: den Sardinier Graziano ("Grazianedo") Mesina, 25. Auf den Kopf des Banditen sind 10 Millionen Lire (64 000 Mark) Belohnung ausgesetzt.
Wie einst Giuliano auf Sizilien wird jetzt Mesina auf Sardinien von seinen Landsleuten beschützt. In Spottliedern auf die Polizei besingt Sardiniens Jugend seine Heldentaten ("Nie sollen sie dich bekommen"). Jede Woche treffen bei Mesinas Angehörigen 30 bis 50 Briefe für ihn ein -- größtenteils von Verehrerinnen.
Um Graziano Mesina zu fangen, sind in der sardinischen Provinz Nuoro 3000 Carabinieri und »Blaumützen« (Spezialeinheiten für die Bandenbekämpfung) eingesetzt. Mindestens einmal pro Woche durchkämmen sie in Grollrazzien ganze Dörfer und Stadtteile Haus für Haus.
Dem flüchtigen Banditen und seinen Kumpanen schreibt die Polizei einen großen Teil der Verbrechen zu, die auf Sardinien, und speziell in der Provinz Nuoro. begangen werden: seit Beginn des Jahres 28 Morde, 20 Mordversuche, 16 Entführungen und 22 Raubüberfälle. Sieben Polizisten fielen im Kampf mit den Räubern.
Graziano hat gelobt, daß man ihn nur tot bekommen werde. Fünfmal brach er aus Polizeigefängnissen und Zuchthäusern aus. Allein im August kämpfte er sich dreimal den Weg mit Handgranaten frei, nachdem die Polizei ihn schon umzingelt hatte.
Sein Steckbrief hängt an allen Straßenecken Sardiniens. Doch Graziano trifft sich regelmäßig mit seinem Anwalt und seiner Braut. In Cagliaris Großkaufhaus Rinascente kaufte er Socken und Unterwäsche ein. In Nuoro spazierte er am Sonntagvormittag an der Carabinieri-Kaserne vorbei.
Von seinen Landsleuten hat Mesina trotz der hohen Belohnung kaum etwas zu fürchten. »Bei uns verweigert ihm niemand ein Stück Brot«, sagte sein Bruder Piedro. »Alle hier wissen. daß Graziano ein braver Junge ist, der schuldlos zum Banditen wurde.«
Mit 16 Jahren stahl der brave Junge drei Schweine und verschenkte sie an arme Hirten. Als 18jähriger schoß er mit einer Pistole Gaslaternen aus. Wegen unerlaubten Waffenbesitzes mußte er drei Monate ins Gefängnis.
Als er herauskam, waren zwei seiner Brüder verhaftet. Die Polizei fand auf ihren Äckern die Leiche eines Großgrundbesitzers« der einige Wochen vorher entführt und erpreßt worden war.
Grazinun vermutete im feindlichen Familien-Klan Muscau den wirklichen Mörder. In einer Café-Bar schoß er einen Muscau-Hirten nieder. Er wurde verhaftet, konnte aber entkommen.
Sein Bruder Antonio sammelte indessen Beweise gegen die Muscaus und erreichte -- nach zwei Jahren -- die Freilassung der beiden Brüder, an deren Stelle nun zwei -- flüchtige -- Muscaus angeklagt wurden.
Kaum waren die entlassenen Mesinas wieder zu Hause, wurde Antonio entführt. Man fand ihn einige Tage später tot mit herausgerissener Zunge. In seinen Taschen steckten die Pässe eines englischen Ehepaars, das kurz zuvor in der Nähe ermordet worden war.
Um diese »neue Schandtat der Muscaus« zu rächen, fuhr Graziano nach Orgosolo und jagte -- wieder in einer Café-Bar -- einem Muscau-Bruder eine MPi-Salve in die Brust.
»So tötet man räudige Hunde«, rief er den Anwesenden zu. Er wurde verhaftet, konnte aber wieder fliehen, wurde noch dreimal verhaftet und brach jedesmal wieder aus, zuletzt am 11. September 1966 aus dem Zuchthaus San Sebastiano in Sassari, aus dem vorher noch nie ein Häftling ausgebrochen war.
Der Polizei, die ihn nun unentwegt jagte, liefert er immer neue Feuergefechte. Sein Freund fiel bei einem dieser Scharmützel. Mesina schickte ihm einen Strauß roter Rosen aufs Grab und schwor, daß er sich fortan auch an der Polizei rächen werde.
Dem sardinischen Fremdenverkehr will der Handgranater nicht schaden. In einem Leserbrief an die Zeitung »La Nuova Sardegna« schrieb er: »Ich würde niemals Touristen anrühren. Sie können ohne Angst nach Orgosolo kommen ... Ich räche mich nur an denen, die mir Böses angetan haben.«