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TSCHECHIEN Brief an den Papi

Korruptionsskandale, Demonstrationen, eine gescheiterte Regierung: Prag steckt in der Krise. Stürzt nach Premier Klaus auch Präsident Havel?
aus DER SPIEGEL 50/1997

Der Liedermacher Jaroslav Hutka trat 1989 als einer der ersten prominenten Rückkehrer aus dem Exil vor einer halben Million regimekritischer Landsleute auf. »Groß ist die Erde, doch am größten ist die menschliche Freiheit«, sang der Bohemien damals in Prag mit weicher Stimme und rettete so die gewaltlose, »die samtene Revolution« vor der aufgebrachten Menge, wie ihm Dissidentenfreund Václav Havel später dankte.

Acht Jahre nach der Wende sorgt sich Hutka zwischen Zigarettenkippen, Gitarren und einem verstaubten PC in seinem Kelleratelier erneut um die Stimmung im Lande. »Wir befinden uns im Chaos«, sagt er, »die Menschen fühlen sich verraten.« Mit »gefährlichen Unruhen« rechnet Josef Lux, Chef der christlich-demokratischen Volkspartei KDU-CSL. Auslöser solch unheilvoller Erwartungen ist Ministerpräsident Václav Klaus, der fünf Jahre lang fast unangefochten regierte und - vor allem im Westen - als Garant für eine wirtschaftlich erfolgreiche Entwicklung galt.

Zunächst hatte Koalitionspartner Lux dem Regierungschef die Gefolgschaft gekündigt, mehrere Minister der von Klaus geleiteten Demokratischen Bürgerpartei ODS zogen nach. Am Sonntag vor einer Woche reichte der Regierungschef widerwillig seinen Rücktritt ein - Ende einer Ära?

Zum Stolperstein für den stets selbstherrlich auftretenden neoliberalen Ökonomen war eine Spendenaffäre geworden. Auf einem ODS-Geheimkonto in der Schweiz waren 170 Millionen Kronen (8,8 Millionen Mark) von Lobbyisten eingegangen. Außerdem hatte ein anonymer Sponsor auf die tschechischen Konten der Partei 7,5 Millionen Kronen (400 000 Mark) überwiesen. Diese Spende stammt vom ehemaligen Tennisprofi Milan Xrejber, einem Aktionär des Unternehmens Moravia Steel. Die Firma hatte zu günstigen Bedingungen den Zuschlag bei der Privatisierung der nordmährischen Stahlhütte Trinec bekommen. Der Korruptionsvorwurf drängte sich auf, obwohl der Premier jedes Wissen um die Spenden heftig bestritt.

Nach einer elfstündigen ODS-Sitzung am vorletzten Samstag verbarg er seine Genugtuung kaum, als fanatische Getreue seine abtrünnigen Mitstreiter, Ex-Innenminister Jan Ruml und Finanzminister Ivan Pilip, beim Verlassen des Parteihauptquartiers anpöbelten, bespuckten und mit Coca-Cola begossen.

Statt zu beruhigen, winkte Klaus seinen Fans aus dem Fenster zu. Tags darauf ließ der ODS-Chef seine Frau Livia bei einer Kundgebung auf dem Wenzelsplatz einen Brief des Sohnes Jan an seinen »Papi« verlesen, wonach die »Gegner nur nicht verkraften können, daß du gescheiter und besser bist als sie«.

»Angeekelt« zeigte sich Dichterpräsident Havel, den Klaus nie als Partner, sondern stets als Rivalen betrachtet hatte. Der Staatschef führte Gespräche über die Möglichkeit, die bisherige Regierungskoalition fortzusetzen. Aber Klaus will aus der Politik nicht weichen. Er kündigte sogar an, er sei beim ODS-Sonderparteitag am kommenden Wochenende zu einer neuerlichen Kandidatur als Parteichef gezwungen, weil er sonst »Hunderttausende von Menschen« enttäuschen würde.

Dabei verbuchte der missionarische Marktradikale, ein Verehrer Margaret Thatchers, zuletzt Mißerfolg um Mißerfolg. »Entgegen der im Westen verbreiteten Meinung, die Reformen in Tschechien seien lediglich ins Stocken geraten, waren sie von Beginn an falsch angelegt«, argumentiert Milan Matejka vom Zentrum für Managementstudien in Prag.

In seinem blinden Glauben an die alleinseligmachenden Kräfte des Marktes hatte Klaus alle Warnzeichen ignoriert. So entwickelte sich vor allem die Kupon-Privatisierung, die Ausgabe von Anteilscheinen für ehemalige Staatsbetriebe an breite Bevölkerungsschichten, zum Desaster. Gewiefte Fondsmanager übertölpelten Hunderttausende Kleinaktionäre und plünderten die Substanz von Betrieben aus. Zurück blieben Unternehmen ohne verantwortliche Eigentümer, oftmals landeten die privatisierten Firmen postwendend wieder im Besitz staatlicher Banken.

Vergebens mahnte etwa Ex-Vizepremier Pavel Rychetský, die Transaktionen seien fast jeder rechtlichen Überprüfung entzogen. Insidergeschäfte und Durchstechereien wurden zur Norm. »Fast jede Privatisierung war mit dubiosen Zahlungen verbunden«, sagt Matejka, »da wird es noch viele Skandale aufzudecken geben.«

Auch der britische Investor James Wolf hält die bislang bekannt gewordenen ODS-Spenden nur für die »Spitze eines Eisbergs«. Er bot im Frühjahr 27 Millionen Dollar für den Kauf des Kristallglasherstellers Crystalex. Den Zuschlag erhielt jedoch die tschechische Firma Porcela Plus, die zwar nur 10 Millionen offerierte, aber, so behauptet Wolf, über eine Holding die ODS unterstützte.

Mehr als 20 Millionen Dollar an Provisionszahlungen sollen allein beim Verkauf der staatlichen Telefongesellschaft und der Lizenzvergabe für das Mobiltelefonnetz geflossen sein.

»Ein sehr ungesundes Klima« ortet da der einflußreiche Unternehmer Jiri Lobkowicz, immerhin sei »der Topf voller Würmer jetzt aufgemacht«. In ihm tummelte sich offenbar auch der ehemalige ODS-Vize, Petr Cermák, dem ein berüchtigter Spekulant Weltreisen und Luxushotelnächte finanzierte.

Kursmanipulationen und »massiver Diebstahl« prägten die Prager Börse, kritisiert der New Yorker Investmentfondsmanager Howard Golden. Erst als sich wichtige ausländische Anleger in diesem Jahr nach Polen und Ungarn verabschiedeten, gab Premier Klaus seinen Widerstand gegen eine Kontrollbehörde für den Wertpapierhandel auf.

Deregulierung, das von Klaus propagierte Erfolgsrezept, führte nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch in der Touristikbranche zum Chaos. Da von Reiseveranstaltern seit 1996 keinerlei Qualifikation mehr verlangt wird, entwickelte sich die Branche zum Dorado für Abenteurer. Allein im vergangenen Sommer gingen 21 Reisebüros pleite, mehr als 30 000 Urlauber waren betroffen.

Nach dem volkswirtschaftlichen Einbruch im Frühjahr und der anhaltenden Abwertung der Krone schwindet nunmehr die ohnehin schwach entwickelte Mittelschicht. Junge Ärzte verdienen nicht einmal 300 Mark. »Wir können uns nicht vorstellen, bei diesem Einkommen ein Kind zu bekommen«, resigniert ein junges Prager Arztehepaar.

Tschechiens große Betriebe beginnen erst jetzt, radikal zu rationalisieren. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg binnen eines halben Jahres um fast die Hälfte. Die Löhne in der Industrie wurden eingefroren oder gesenkt.

Bei solch einer Bilanz wird leicht verständlich, warum Klaus schon vor dem Spendenskandal in Umfragen ein Drittel seiner bisherigen Wähler verloren hatte. Seine Popularität fiel weit hinter die der oppositionellen Sozialdemokraten von MiloX Zeman zurück.

Dennoch könnte der Taktiker Klaus sich am kommenden Wochenende als Parteichef halten, da vor allem Delegierte aus den ländlichen Regionen auf ihn eingeschworen sind. So manche verehren ihn fast wie einen Sektenführer.

Sollte er sich durchsetzen, will Lobkowicz gemeinsam mit zahlreichen anderen Parteimitgliedern die ODS verlassen und sich am Aufbau einer neuen bürgerlichen Alternative beteiligen. Möglicherweise wäre dann der Weg frei für ein von Präsident Havel favorisiertes »Expertenkabinett« und baldige Neuwahlen. Nach dem gegenwärtigen Stand dürften die Sozialdemokraten siegen, sie liegen bei Meinungsumfragen um die 30 Prozent und damit klar vor der ODS (20 Prozent).

»Nur ohne Klaus gibt es eine Chance für die Fortführung der Koalition«, hat sich KDU-CSL-Chef Lux festgelegt.

TomáX Jezek, Chef der Prager Börse, geht mit seinem Jugendfreund ins Gericht: »Klaus ist kein Demokrat, sondern ein narzißtischer Autokrat. Für ihn gelten nur seine Regeln.« Im Leben von Klaus, so Jezek, »gibt es nur Herrschen und Siegen, nicht Zusammenarbeit. Er ist bereit, jeden Preis zu bezahlen, um der Erste zu sein«.

In einem Brief an alle Parteimitglieder empfahl Klaus vergangene Woche ausdrücklich den Gang in die Opposition, eine Übergangsregierung solle bis zu Neuwahlen im Frühjahr amtieren.

Erstes prominentes Opfer dieser Strategie könnte der Staatspräsident werden. Listig ließ Klaus den ODS-Parteitag zeitgleich mit dem EU-Gipfel in Luxemburg ansetzen, bei dem die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Tschechien offiziell beschlossen werden soll.

Statt des Premiers muß deshalb der Präsident anreisen, der seit seiner Lungenoperation gesundheitlich angeschlagen ist. TV-Bilder vom kämpferischen Klaus und dem geschwächten Havel, so das Kalkül, könnten helfen, die Wiederwahl des populären Präsidenten am 20. Januar in beiden Häusern des Parlaments zu torpedieren.

H. P. Martin

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