ERNTE Brot aus dem Osten
Hast du kein Brot, schmeckt die Mahlzeit bitter«, lautet ein altes russisches Sprichwort -- und es gilt offenbar noch heute:
Ohne Brot ist ein russisches Essen unvollständig, jeder Bürger verbraucht jeden Tag 390 Gramm (Bundesrepublik: 75 Gramm).
Doch künftig sollen die Sowjet-Bürger sparsamer mit dem Brot umgehen. »Brot ist das Produkt aller Produkte. Eine sorgsame Haltung zum Brot ist eine gute Volkstradition«, mahnt ein Sowjet-Poster: »vergeudetes Brot ist das größte Vergehen gegen unsere Ethik«, predigt eine andere Maßhalteparole.
Denn demnächst wird es möglicherweise weniger Brot für die Bürger geben: Statt der geplanten 195 Millionen Tonnen Getreide werden die Landmänner der Sowjet-Union in diesem Jahr kaum mehr als 170 Millionen Tonnen einfahren -- zehn Millionen weniger noch als im vorigen Jahr.
Ein schneearmer und kalter Winter in den Kornkammern Zentralrußlands. der Ukraine und des nördlichen Kaukasus zerstörte einen Teil der letzten Herbstsaat, und ein langer heißer Sommer ließ die Sommeraussaat vorzeitig ausreifen und teilweise verfaulen. Folge: Das Ernteergehnis im europäischen Rußland ist, wie sowjetische Landwirtschafts-Funktionäre selbst einräumen, »nicht sehr ermutigend«.
Doch jenseits des Ural, in den Neulandgebieten Kasachstans und in Westsibirien. besitzen die Sowjets noch zwei Kornkammern -- 30 Millionen Hektar groß. Und auf diese Gebiete setzten sie folglich ihre Getreide-Hoffnungen. Die »Prawda« unterstrich es auf ihrer Titelseite, KPdSU-Chef Breschnew brach seinen Krim-Urlaub ab und reiste selbst nach Osten, um seine Bauern anzuspornen.
Denn Westsibirien und Kasachstan leiden unter extremen Witterungsbedingungen, und so muß man für die Ernte laut Regierungs-»Iswestija« mit 10 bis 15 Schönwettertagen auskommen.
Als Breschnew, selbst Bewässerungs-Fachmann und von 1955 bis 1956 erfolgreicher Ernte-Parteichef von Kasachstan, in der Kornkammer eintraf, waren seine Bauern arg im Rückstand: Erst ein Viertel der Ernte war eingebracht, mit fast zwei Wochen Verspätung.
Wohl wogten die Ähren in manchen Gebieten voller als im Vorjahr, doch das Brot aus dem Osten ist in Gefahr: Viel zuviel Zeit verstreicht zwischen Mähen und Dreschen (so die »Prawda"), und mit dem ersten Frost ist schon im Oktober zu rechnen. Die »Iswestija« klagte, ein Teil der Ernte sei feucht, weil sie zu lange auf dem Dreschboden liegen bleibe.
Die Gründe für den Zeitverlust: Tausende von Tonnen Getreide wurden nicht gemäht und gedroschen, weil die Erntemaschinen nicht intakt waren und nicht mit voller Kapazität arbeiten konnten. 15 von 100 Transportfahrzeugen stehen regelmäßig still, weil Ersatzteile fehlen; 60 Prozent der Lkw in Westsibirien sind reparaturbedürftig.
Und die aus anderen Teilen der Sowjet-Union zur Schnell-Ernte abgezogenen Hilfs-Laster waren auch nur bedingt erntebereit: Als der Fahrer Wladimir Marakuscha in Kasachstan bei Musik den ersten von 68 Elfeinhalb-Tonnen-Lastern aus Georgien vom Zug fahren wollte, sprang der Lkw nicht an. Auch die übrigen 67 Fahrzeuge streikten: Bei 48 Wagen fehlte die Verteilerkappe, bei 20 der Rotor -- gestohlen auf der Reise an die Ernte-Front. Ersatzteile gab es nicht, die Laster wurden per Kran vom Zug gehoben und stehen noch immer an einer Straße bei Kurgaldschinski.
Einsatzbereit dagegen waren 12 000 Bauern und 18 000 Studenten, die aus der Ukraine und dem Kaukasus nach Kasachstan abkommandiert wurden. obwohl in ihrer Heimat die Ernte auch noch nicht ganz abgeschlossen ist. Tausende Soldaten rückten ins Erntefeld.
Doch viele von ihnen konnten nicht optimal eingesetzt werden. Die »Prawda« schimpfte, daß Kolchosen ihr Getreidesoll vielfach nicht an den Staat ablieferten, sondern lieber für schlechte Zeiten hamsterten.
Am knappen und damit schwarz absetzbaren Korn wollen auch Buchhalter, Chauffeure und leitende Angestellte von Staatsbetrieben verdienen. Am 19. August nannte die »Kasachstanskaja prawda« die Missetäter, darunter die Brüder Usseinow. Sie hatten über fünf Tonnen Getreide aus dem »Dschambul«-Kolchos gestohlen und auf eigene Rechnung verkauft. Die Genossen Jessenbekow, Achmettschijew und Fersidi hatten über drei Tonnen für 108 Rubel (432 Mark) verscherbelt -- Strafe: Freiheitsentzug zwischen 12 und 30 Monaten.
Gleichwohl zeigten sich die Kreml-Chefs und ihre Bläter mit den bisherigen Ergebnissen des Großeinsatzes von Mensch und Maschinen nicht unzufrieden. »Das ganze Land hilft, das Brot des Ostens einzubringen«, leitartikelten die Staatsblätter. »So viel Technik gab es noch nie«, jubelte die »Prawda«. Die Ernte aus der östlichen Kornkammer werde »besser als im vorigen Jahr« ausfallen.
Mit welchem Ernteerfolg die Sowjets tatsächlich rechnen, läßt sich allerdings besser anderswo ablesen: an den Appellen zum sparsamen Brot-Konsum und am Umfang des Getreidehandels mit dem Westen.
Allein in USA kaufte die Sowjetregierung 12 Millionen Tonnen Weizen und Futtergetreide im Wert von 750 Millionen Dollar. Kanada lieferte 5,5 Millionen Tonnen, und auch die Franzosen möchten noch eine Million Tonnen Überschuß-Getreide bei den Sowjets absetzen.
So viel Getreide hat die Sowjet-Union nie zuvor einkaufen müssen.