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Artikel 48 / 87

»Brüderlichkeit an der Schwelle des Todes«

Von Helmut Sorge und Dieter Wild
aus DER SPIEGEL 15/1979

SPIEGEL: Herr Minister, können Sie uns sagen, wie viele Unglückliche in Frankreich bisher auf der Guillotine endeten?

PEYREFITTE: Während der Revolution wurden offenbar zwischen 2500 und 3000 aus politischen Gründen Verurteilte hingerichtet. Bis 1825 gibt es keine offiziellen Zahlen. Man kann aber einen Durchschnitt von 90 bis 100 Hinrichtungen im Jahr annehmen und würde damit auf eine Zahl von ungefähr 2850 kommen. Von 1826 bis 1979 wurden 2149 Verbrecher hingerichtet. Im Jahr 1826 allein 111

SPIEGEL: ... eine stolze Zahl.

PEYREFITTE: Aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist diese Zahl gesunken. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Abgeordnetenkammer beschlossen, die Todesstrafe nicht mehr anzuwenden, indem sie die Mittel für die Guillotine aus dem Haushalt strich.

SPIEGEL: Aber dabei ist es, wie man weiß, nicht geblieben.

PEYREFITTE: Ein abscheuliches Verbrechen, das im Jahr darauf begangen wurde, hat die Abgeordnetenkammer 1908 veranlaßt, die Todesstrafe wieder einzuführen, und seither blieb die Guillotine regelmäßig in Betrieb. Von 1946 bis 1950 hatten wir im Durchschnitt 30 Hinrichtungen pro Jahr. Danach ist die Zahl stark zurückgegangen auf im Durchschnitt nur noch eine Hinrichtung alle zwei Jahre. Man kann also die Gesamtzahl der mit der Guillotine hingerichteten Kriminellen auf ungefähr 5000 beziffern.

SPIEGEL: Und wie viele Guillotinen stehen heute in Frankreich noch im Dienst der Justiz?

PEYREFITTE: Bis 1871 hatten wir in jedem Departement eine. Damals wurde ein Henker-Korps für das gesamte Staatsgebiet geschaffen. Heute haben wir nur noch eine einzige Guillotine, die je nach Bedarf in das Gefängnis transportiert wird, in dem die Hinrichtung stattfinden soll.

SPIEGEL: Staatspräsident Giscard d'Estaing empfindet eine tiefe Abneigung gegenüber der Todesstrafe. Premierminister Barre ist ebenfalls dagegen. Sie selbst, der Justizminister, haben erklärt:,, Das Prinzip der Todesstrafe hat mich immer angewidert.« Wieso ist Frankreich dennoch der ein-

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Helmut Sorge und Dieter Wild, Peyrefitte-Sekretärin,

zige Staat Westeuropas, der auch heute noch an der Todesstrafe festhält?

PEYREFITTE: Zunächst einmal: Es ist nicht richtig, daß Frankreich als einziges Land Westeuropas noch an der Todesstrafe festhält. In Belgien, Luxemburg und Irland steht die Todesstrafe noch im Gesetz, auch wenn sie seit ziemlich langer Zeit nicht mehr verhängt wird. In Frankreich wird die Todesstrafe nur noch selten vollstreckt sechs Hinrichtungen in elf Jahren. Der Unterschied zwischen den Ländern, die die Todesstrafe abgeschafft haben, und Frankreich wird also, wie man sieht, sehr gering.

SPIEGEL: Der Unterschied scheint uns noch immer fundamental zu sein. Wann schaffen Sie denn die Guillotine ins Museum?

PEYREFITTE: Die Guillotine wird an dem Tag ins Museum geschafft werden, an dem sie für die Franzosen nur noch Gegenstand archäologischen Interesses ist.

SPIEGEL: Das aber ist heute offenbar noch nicht der Fall.

PEYREFITTE: Für die Mehrheit unserer Mitbürger ist die Guillotine noch ein Symbol der Sicherheit. Sie ist die letzte Zuflucht angesichts der schlimmsten Verbrechen und schließlich ein Abschreckungsmittel, mithin eine präventive Maßnahme gegen die Kriminalität. Selbst wenn der Präsident der Republik, der Premierminister und ich selbst erklären, daß das Prinzip der Todesstrafe uns immer mit Abscheu erfüllt hat, können wir die Bedeutung der Guillotine für das öffentliche Bewußtsein nicht außer acht lassen.

SPIEGEL: Die Gegner der Todesstrafe werfen Ihnen vor, daß Sie an ihr lediglich aus Wahlinteresse festhalten, da die Abschaffung den Staatschef bei der nächsten Präsidentschaftswahl mehrere hunderttausend Stimmen kosten könnte.

PEYREFITTE: Das Wahlargument scheint mir zweitrangig zu sein, da es sich nur um wenige Stimmen handeln würde. Es trifft aber zu, daß die Mehrheit der Franzosen für die Beibehaltung der Todesstrafe ist. Allerdings zeigt eine ganz neue Meinungsumfrage vom März eine interessante Entwicklung. Auf die Frage, welche Strafe als härteste verhängt werden soll, haben 43 Prozent der Befragten die Todesstrafe genannt. Im November 1976 waren das noch 48 Prozent. 41 Prozent meinten, daß lebenslänglicher Freiheitsentzug die Höchststrafe sein solle, gegen nur 34 Prozent im Jahre 1976.

SPIEGEL: Also doch Hoffnung für die Gegner der Todesstrafe im Heimatland der Guillotine?

PEYREFITTE: Ich lese aus diesen Zahlen, daß sich die öffentliche Meinung in zunehmendem Maße unseren Bemühungen anschließt, die Todesstrafe durch andere Strafen zu ersetzen. Ich glaube, daß ein Gesellschaftsproblem wie die Todesstrafe nicht gegen den erklärten Willen des größten Teils der Öffentlichkeit geregelt werden kann. Wir müssen einen Konsensus finden, und ich bin zuversichtlich, daß wir ihn finden.

SPIEGEL: Wann aber kann dieser Konsensus hergestellt werden, wo Sie doch in Frankreich eine Phase von Unsicherheit und wachsender Kriminalität haben?

PEYREFITTE: Ihre Formulierung geht etwas weit. Man muß nämlich unterscheiden: Die Zuwachsrate der Gesamtkriminalität vermindert sich in Frankreich. Die Zahl der Gewaltverbrechen ist seit dem 19. Jahrhundert überhaupt nicht mehr gestiegen: rund 500 vorsätzliche Tötungen im Jahr. Das Gefühl der Unsicherheit wächst mehr aufgrund der kleineren Vergehen, die zunehmen: Handtaschenraub, Banküberfälle, Schlägereien, Vandalismus und Diebstähle. Bei diesen Delikten kommt es aber meistens nicht zu Blutvergießen. Die Massenmedien stellen die abscheulichsten Verbrechen heraus, die früher kaum bemerkt wurden.

SPIEGEL: Wollen Sie sagen: Die Unsicherheit wird durch die Presse geschaffen?

PEYREFITTE: Die Regel der Medien ist heute, zu vergröbern. Man spricht niemals von Zügen, die pünktlich ankommen, aber viel von Zugunfällen.

SPIEGEL: Das ist doch wohl natürlich. Ob ein Angeklagter schließlich verurteilt und hingerichtet wird, hängt vor allem auch von der Beredsamkeit seines Verteidigers ab. Dann spielt die Zusammensetzung der Jury eine sehr wichtige Rolle und schließlich das Gnadenrecht des Präsidenten. Das heißt aber: Das Leben eines Angeklagten hängt viel mehr vom Zufall ab als vorn Gesetz. Beunruhigt Sie das nicht?

PEYREFITTE. Die Strafjustiz geht besonders sorgfältig vor. Die Kapitalstrafe kann nur am Ende eines sehr langen Verfahrens verhängt werden, das viele Sicherungen enthält. Gewiß, die Jury wird per Los bestimmt, aber der Angeklagte oder sein Anwalt können fünf Geschworene ohne Begründung ablehnen. häufig geschieht das schon wegen ihre Alters oder ihres Berufs. Das Untersuchungsverfahren wird während der Hauptverhandlung voll wieder aufgerollt. Das heißt: Ein Todesurteil entsteht erst nach reiflicher Überlegung.

SPiEGEL: Sie wollen doch damit nicht behaupten, daß ein Justizirrtum unmöglich sei?

PEYREFITTE: Ich glaube, daß er dank der unzähligen eingebauten Sicherungen heute unmöglich ist oder jedenfalls unwahrscheinlich. Wissen Sie eigentlich, daß ein Todesurteil automatisch zum Kassationsgerichtshof geht, der behandelt den Fall dann nochmal und wirkt bei einander widersprechenden Entscheidungen als Regulativ. Er verwirft Todesurteile fünfmal häufiger als andere Strafurteile, die ihm vorgelegt werden. Und es ist selten, daß ein Schwurgericht, an das ein Todesurteil zurückverwiesen wurde, seinerseits auf Tod erkennt.

SPIEGEL: Wenn nun aber der Kassationshof das Urteil bestätigt ...

PEYREFITTE: ... dann stellt die Kanzlei des Ministeriums von Gesetzes wegen automatisch ein Gnadengesuch. Dieses wird geprüft. Zahlreiche Meinungen werden eingeholt, vor allem die der Abteilungsleiter des Justizministeriums und der neun Mitglieder des »Conseil supérieur de la magistrature"**. Schließlich spricht der Anwalt des Verurteilten noch mit dem Präsidenten der Republik, bevor der seine Entscheidung trifft.

SPIEGEL: Wie sorgfältig die Justiz auch immer arbeitet -- ein Todesurteil bleibt das Symbol der Rache, der Verwirklichung des biblischen Prinzips »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Und die Guillotine bleibt eine Maschine, die das exorzistische Bedüqrfnis der Massen befriedigt.

PEYREFITTE: Gewisse Gegner der Todesstrafe führen das tatsächlich an, und man muß zugeben, daß kollektive Rache als völkerkundliches Phänomen etwas Verführerisches hat. In Wirklichkeit aber hat die Todesstrafe zwei wesentliche Funktionen. die mit Rache gar nichts zu tun haben: Abschreckung und Eliminierung. Es geht darum, mögliche Verbrechenskandidaten abzuschrecken und jene zu neutralisieren, die ihren verbrecherischen Instinkten nachgegeben haben. Es geht also nicht um Rache, sondern um Sicherheit. Vergeltungsrecht entsteht dagegen in der Atmosphäre von Vendettas und privaten Racheakten, die eine Abschaffung der Todesstrafe nach sich ziehen könnte. Wenn man in die Versuchung geführt wird, außerhalb jeder rechtlichen Kontrolle Selbstjustiz zu üben, erst dann kommt man zur Barbarei des Vergeltungsrechts.

SPIEGEL: Solche Vendettas haben aber doch keineswegs stattgefunden, als in England die Todesstrafe abgeschafft wurde, oder als 1972 der Oberste Gerichtshof der USA die »willkürliche Verbannung der Todesstrafe« für verfassungswidrig erklärte. Warum glauben Sie eigentlich, daß die Franzosen derart begierig wären, Selbstjustiz zu üben?

PEYREFITTE: In Amerika war die Sache nicht so einfach, wie Sie sagen. 1972 hat der Oberste Gerichtshof die Todesstrafe zwar für verfassungswidrig erklärt, aber nach dieser Entscheidung wurde sie in etlichen Staaten wieder eingeführt. Diese Bewegung hat den Obersten Gerichtshof 1976 veranlaßt, die Todesstrafe für verfassungsmäßig zu erklären. In Großbritannien zeichnet sich gleichfalls ein Trend zur Wiedereinführung der Todesstrafe ab. Sie ist übrigens in manchen englischen Gebieten wie den Kanalinseln Jersey und Guernsey nie abgeschafft worden. In Kanada gibt es dieselbe Tendenz.

SPIEGEL: Wo aber wäre es zum dramatischen Anstieg von Selbstjustiz gekommen?

PEYREFITTE: Einige Politiker -- und ich gehöre zu ihnen -- fürchten nun mal, daß eine überstürzte Abschaffung zahlreiche Akte von Selbstjustiz nach sich ziehen würde, die jetzt schon festzustellen sind: selbstgebaute Bomben, Selbstschüsse, Bürgerwehr. Was würden wir denn gewinnen, wenn wir die wenigen Hinrichtungen abschaffen und dafür jedes Jahr Dutzende wilder Privat-Abrechnungen riskieren?

SPIEGEL: Gibt es denn keine Polizei mehr in Frankreich?

PEYREFITTE: Die Polizei hat schwer mit der steigenden Zahl von Straftaten zu tun. Sie hat jetzt schon Schwierigkeiten, ihre Aufgabe zu erfüllen. Wir können nicht hinter jeden Franzosen einen Polizisten stellen. Wir müssen alles tun, damit die Selbstverteidigung nicht außer Kontrolle gerät. Man muß die öffentliche Meinung vorsichtig und geduldig dahin führen, daß sie Vertrauen in andere Strafen hat, die die gefährlichsten Delinquenten neutralisieren und jene absehrecken, die ihnen nacheifern wollen. Darauf arbeiten wir hin.

SPIEGEL: Durch welche Strafen wollen Sie denn die Todesstrafe ersetzen?

PEYREFITTE: Der Ausschuß zur Untersuchung der Gewalttätigkeit hat 1977 empfohlen, die Todesstrafe in gewissen Fällen durch dauernden Freiheitsentzug zu ersetzen: bei Kindesraub und Geiselnahme, wenn das Opfer nicht lebend zurückgebracht wurde, Ermordung jedweder Staatsbediensteten und Rückfall bei Mord.

SPIEGEL: Wenn Sie nun aber Hinrichtungen immerhin vorerst noch für unentbehrlich halten, warum wählen

Hingerichtet am 23. juni 1977 in Douai.

* Höchste Verwaltungsinstanz der französischen Richter.

Sie dann nicht anstelle der barbarischen Guillotine eine sogenannte menschlichere Lösung, eine tödliche Injektion zum Beispiel?

PEYREFITTE: Manche Politiker sind in der Tat für die Todesstrafe, aber gegen die Guillotine. Als sich Doktor Guillotin seine Maschine genehmigen ließ, schien diese neue Hinrichtungsart besonders befriedigend: Sie ermöglicht ein Minimum an Leiden und garantiert gleichzeitig den unmittelbaren und unwiderlegbaren Beweis des Todes. Mit ihr wird auch die Frist zwischen der Verweigerung des Gnadengesuchs und der Hinrichtung sehr kurz gehalten. Die Guillotine ist beweglich, während andere Hinrichtungsarten wie der elektrische Stuhl oder die Gaskammer feste Einrichtungen erfordern. Der Gefangene müßte überführt werden, es entsteht also eine quälende Wartezeit.

SPIEGEL: Bei einer intravenösen Injektion müßte der Gefangene auch nicht zum Hinrichtungsort transportiert werden.

PEYREFITTE: Das stimmt, aber man würde dann medizinisches Personal brauchen, dessen Moralkodex jede Handlung verbietet, die zum Tode führt. Das Problem der Todesstrafe wird ja außerdem nicht gelöst, wenn man die Hinrichtungsart ändert, sondern die wahre Frage ist, ob die Gesellschaft sich das Recht zuerkennt, einen Menschen mit dem Tode zu bestrafen, den die Justiz eines besonders abscheulichen Verbrechens für schuldig befunden hat. Angesichts dieser philosophischen Fragestellung ist es unwichtig, ob man statt der Guillotine diese oder jene andere Hinrichtungsart wählt.

SPIEGEL: Warum müssen eigentlich bei der Hinrichtung außer einem Geistlichen, dem Gefängnisdirektor und dem Arzt auch noch der Staatsanwalt und der Verteidiger des Verurteilten anwesend sein?

PEYREFITTE: Zunächst: Die genannten Personen müssen nicht anwesend sein. Sie sind vielmehr bei der Hinrichtung zugelassen. Zum anderen: Der Verurteilte stirbt als Mensch, deshalb sind ein Arzt und ein Priester bei der Hinrichtung zugegen. Aber der Verurteilte stirbt auch aufgrund einer Entscheidung der Justiz, deshalb sind der Generalstaatsanwalt anwesend, der im Namen der Gesellschaft die Strafe gefordert hat, und der Anwalt, der den Verurteilten verteidigt hat. Der Generalstaatsanwalt repräsentiert das Gesetz und die Gesellschaft. Er bezeugt, wenn Sie so wollen, die Ordnungsmäßigkeit des Vollzugs. Die Anwesenheit des Anwalts, dem der Verurteilte sein ganzes Vertrauen geschenkt hat, gibt ihm Stärkung. Sie ist an der Schwelle des Todes das Symbol der Brüderlichkeit.

SPIEGEL: Das klingt sehr philosophisch. Die Realität sieht oft anders aus. Wer waren denn zum Beispiel die drei Menschen, die unter Giscard d'Estaing zum Tode verurteilt und nach Ablehnung des Gnadengesuchs hingerichtet wurden? Einer, Ranucci, hat aus Gründen, die wir kaum kennen. ein kleines Mädchen umgebracht. Der zweite, Carrein, war ein Schwachsinniger, der gleichfalls ein kleines Mädchen getötet hatte. Und schließlich Djandoubi, ein beinamputierter Tunesier, der »durch einen sadistischen sexuellen Wahn getrieben wurde«, so Rechtsanwalt Badinter. Wäre eigentlich die Sicherheit der Franzosen bedroht. wenn diese drei Menschen noch lebten?

PEYREFiTTE: Die Formulierung Ihrer Frage erweckt den Eindruck, als seien diese drei Menschen allein verurteilt worden, um die Sicherheit der Franzosen zu garantieren. Das wäre aber eine sehr vereinfachende Sicht. Diese Menschen wurden vielmehr verurteilt, weil souveräne Gerichtshöfe befunden haben, daß sie für ihre abscheulichen Verbrechen die Höchststrafe verdient hatten, die das Gesetz vorsieht. Im übrigen muß man wohl darauf hinweisen, daß seit diesen drei Hinrichtungen in Frankreich keine so grausamen Sexualverbrechen mehr begangen wurden, wie diese drei verübt haben. Man kann nicht beweisen, daß hier die Abschreckung gewirkt hat, man kann aber auch nicht das Gegenteil beweisen.

SPIEGEL: Wenn die Regierung nun schon glaubt, daß die Todesstrafe ihren Zweck erfüllt, indem sie potentielle Verbrecher abschreckt, müßte man daraus nicht den Schluß ziehen, die Verurteilten seien öffentlich hinzurichten? Auf der Place de la Concorde etwa und im Fernsehen übertragen?

PEYREFITTE: Die Verteidiger der Todesstrafe wünschen in der Tat, daß sie sehr häufig vollstreckt wird, und zwar in einer Weise, die wirklich abschreckt, das heißt öffentlich. Doch, was stellen wir fest: Die Industriestaaten, die die Todesstrafe beibehalten haben, wenden sie immer seltener an und immer unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Wir befinden uns offenbar in einem Prozeß, an dessen Ende die Todesstrafe nicht mehr angewendet wird. Diese Entwicklung entspricht im übrigen dem tiefen Respekt für das menschliche Leben, den wir fördern möchten.

SPIEGEL: Frankreich hat als erster europäischer Staat das Prinzip der Menschenwürde in seine Verfassung aufgenommen. Frankreich schaffte als erster Staat Sklaverei und Folter ab. Wie erklären Sie, daß Frankreich bei der Abschaffung der Todesstrafe so weit hinten liegt?

PEYREFITTE: Frankreich wäre während der Revolution fast sogar der erste Staat ohne Todesstrafe geworden. Aber die Kampagnen zur Abschaffung der Todesstrafe sind bei uns von Mißerfolg gezeichnet. Dreimal waren wir ganz nahe daran, die Todesstrafe aufzugeben: 1791, 1848, 1906. Jedes Mal scheiterten die Bemühungen, ein schönes Beispiel für die Dialektik zwischen Idealismus und Realismus, der unsere Staatsorgane folgen. Ein Politiker muß beiden Rechnung tragen. Es ist leider unmöglich, beim Regieren nur die Menschenwürde der Verbrecher im Auge zu behalten. Die Menschenwürde ist nichts Einseitiges. Die verbrecherische Gewalt in jeder Form ist schließlich auch ein Anschlag auf die Menschenwürde.

SPIEGEL: Nun haben Sie selbst aber 1947 geschrieben: »Es ist kaum zu begreifen, daß die Todesstrafe auch noch in jenen Ländern hingenommen wird, die vorgehen, ihre Institutionen auf die Vernunft zu gründen.« Wie können Sie da tolerieren, daß in Frankreich noch Menschen, wenn auch wenige, »lebend zweigeteilt werden«, wie Rechtsanwalt Robert Badinter es ausdrückte?

PEYREFITTE: Sie sprechen von einer Passage in meinem Buch »Mythos der Penelope«, und ich verleugne sie nicht. Ich möchte aber doch anführen, daß ich dieser Passáge in der neusten Auflage des Buches eine Bemerkung angefügt habe. Sie berücksichtigt neme in 30 Jahren gewonnene Erfahrung, ohne deswegen meine damalige Ansicht zu korrigieren.

SPIEGEL: Wie muß man sich das vorstellen?

PEYREFITTE: Ich habe begriffen, laß die Todesstrafe, die in ihrem Grundsatz unannehmbar ist, dennoch ius Gründen der Vorsicht in manchen Fällen gerechtfertigt sein kann. Ich bin eben gar nicht sicher, daß die Abschaffung der Todesstrafe nicht zu wilden Verhaltensweisen führen würde, deren Gewicht und Zahl viel unerträglicher wären, als es heute die sehr seltenen Hinrichtungen sind.

SPIEGEL: In Ihrem Bestseller »Was wird aus Frankreich?« haben Sie geschrieben, es sei für die französische Gesellschaft charakteristisch, daß sie Reformen verlange, aber von ihnen nichts mehr wissen wolle, wenn es so weit sei. Offenbart Ihre Politik in Sachen Todesstrafe nicht genau diese Haltung?

PEYREFITTE: Eine gute Frage. Gerade weil ich weiß, daß es ein Charakteristikum der Franzosen ist, Reformen abzulehnen, die man zuvor gefordert hat, möchte ich mir dieses Mißgeschick bei der Abschaffung der Todesstrafe ersparen. Für ein Problem, das die öffentliche Meinung leidenschaftlich bewegt und philosophisch wie soziologisch sehr wichtig ist, muß die Öffentlichkeit vorbereitet werden, sonst entsteht ein Bumerang-Effekt. In Frankreich wie auch anderswo -- aber vielleicht in Frankreich mehr als anderswo -- sollte man sich an das Wort Max Webers halten: »Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern, mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.«

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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