Zur Ausgabe
Artikel 43 / 91

Bsis und Bas marschieren mit

aus DER SPIEGEL 45/1975

Die Zehntausende Marokkaner in schier endlosen Schlangen, die über 200 000 in den Wüstenlagern bei Tarfaia -- sie scheinen begeistert, gezwungene Freiwillige sind offenbar die Ausnahme.

Sie ertragen die mörderischen Marschbedingungen, ohne zu klagen. Fast alle gehören zu jener übergroßen Mehrheit unter den 16 Millionen Marokkanern, die ohnehin weder elektrisches Licht und Leitungswasser noch Toilette haben, die es gewohnt sind, unterbeschäftigt zu sein und auf harter Erde zu schlafen.

Die Tagesration ihrer Pilgerfahrt -- eine Dose Ölsardinen, Datteln, Brot, Zucker, Tee und sogar einige Zigaretten -- ist für viele traumhaft. Als Lohn winkt zudem jedem Freiwilligen ein Koran vom König. Und sollte auf dem Marsch etwas passieren, so glauben sie, direkt ins Paradies zu kommen. Marokkos islamische Geistlichkeit, die Ulema, hat die Kampagne geheiligt.

Das heilige Unternehmen ist der friedliche Massen-Marsch in die Spanische Sahara, zu dem Marokkos König Hassan II. 350 000 Marokkaner aufgerufen hat. Wie einst der Prophet Mohammed gen Mekka zog, um ein reiches Handelszentrum zu gewinnen, begehrt Propheten-Nachfahre Hassan in der Spanischen Sahara neben Wüstenboden (etwas größer als Westdeutschland) und 70 000 Nomaden mit 76 000 Kamelen und 1800 Eseln die Phosphatlager von Bu Keraa, die zweitgrößten der Welt.

Und wie Mohammed Mekka brauchte, um Zweifler zu überzeugen. will auch Hassan mit der Rückgewinnung des Landes vor allem die Existenz seines gottgegebenen Königreichs sichern. Denn nur dieser Marsch eint alle Marokkaner hinter dem Souverän, läßt Millionen ihr miserables Leben vergessen.

Hassans Invasion, nach der Farbe des Islam auch grüner Marsch genannt, ist militärisch perfekt organisiert, Mitläufer wie Reporter können sich kaum einreihen. Zwar kennen viele das Wort Journalist, und das SPIEGEL-Titelphoto des Glaubensbruders Muhammad Ah begeisterte Offizielle wie Analphabeten eines Konvois bei Agadir. Aber alle Marsch-Teilnehmer sind registriert und in Sechsergruppen eingeteilt. Auf jedem Auto fährt ein Polizeibeauftragter mit, und Entscheidungen fällt nur die Marschleitung in Marrakesch.

Sie erfüllt eine schwierige Aufgabe: In einem Entwicklungsland bewegt und versorgt sie 350 000 Menschen, viele über mehrere tausend Kilometer. Sie plant die Kapazität von Zügen und Flugzeugen, den Bedarf an Lebensmitteln, Wasser und Sprit. Daß, von zwei Verzögerungen abgesehen, alles klappt. überrascht niemanden mehr als die Marokkaner selbst. Inzwischen weiß man, daß die Vorbereitungen für den Marsch schon vor einem Jahr begonnen hatten.

So beschafften die Marschstrategen von Marrakesch -- überwiegend Militärs -- 10 000 Plastikfässer mit einem Fassungsvermögen von je 200 Litern Wasser. Auf Lastwagen und in Hercules-Maschinen der königlichen Luftwaffe wurden die Fässer von Agadir am Rande des Atlas in die Sahara-Region im äußersten Süden geschafft. Die Flugzeuge können in Tan Tan, 280 Kilometer vor der Grenze, landen, wenn nicht, wie vorige Woche, Sandstürme jeden Flugbetrieb unterbinden.

Marokkos staatliche Eisenbahn hat den normalen Betrieb völlig eingestellt. »Wir werden keine Minute schlafen, ehe nicht der Transportplan für den großen Marsch erfüllt ist«, gelobte ein Lokführer dem Uno-Generalsekretär Waldheim.

Den »messira el-chadra«, den grünen Marsch, besingen lokale Schlagerstars, Betriebe und Verwaltungen melden sich geschlossen zur Teilnahme. Auslandsunternehmen, wie die Hertz-Autovermietung und die Reifenfirma Goodyear, annoncieren in den Zeitungen, daß sie den Marsch unterstützen.

Für das Tageblatt »Le Matin«, das sich neuerdings »Le Matin du Sahara« nennt, beginnt mit dem Marsch sogar eine neue Zeitrechnung: Sichtbarer als das Datum des islamischen und westlichen Kalenders prangt im Zeitungskopf der entsprechende Tag seit dem »Beginn des Marsches«.

Auch das bekannte Komiker-Duo Bsis und Bas (bürgerliche Namen: Senoussi Ahmed und Dimias Hussein) aus Casablanca kämpft »für die Verwirklichung der territorialen Einheit des marokkanischen Volkes«. Die Artisten sind abmarschbereit, um ihre Weggenossen mit ihren Späßen zu erfreuen.

In den täglich größer werdenden Lagern der an der Grenze eingetroffenen Marschierer herrscht aber auch ohne Bsis und Bas kaum Traurigkeit: Die

* Ein Demonstrant schwenkt Marokko, Flagge und den Koran.

Frauen, die in streng getrennten Transporten anreisen, tratschen in ihren Zelten oder sammeln verdorrte Disteln für das Teefeuer. Männer spielen eine Art Domino, lauschen ihren Transistorradios. Wo das Meer in Sichtweite ist, flanieren Tausende am Strand. Bei Sonnenuntergang zeichnen sich am Horizont die Silhouetten jener ab, die beten oder ihre Notdurft verrichten.

Befremdlich fast für die arabische Welt, daß es in den Massenlagern keine Händler gibt. Die Funktionäre unterbinden diese Art von Privatinitiative. Zudem hat wohl die Mehrheit der Freiwilligen keinen Pfennig Geld. Wo Besucher auftauchen, ermuntern allgegenwärtige Funktionäre und Polizisten die Marschierer zum Absingen patriotischer Lieder. Sie singen dann von der marokkanischen Sahara, vom großen Marokko der vorkolonialen Zeit.

Aggressive Tone gegen die spanischen Kolonialisten sind dabei kaum zu hören. Verblüfft registrieren das vor allem die Spanier unter den annähernd 500 Berichterstattern in der Wüste. Frauen aus Tetuan fragen eine Madrider Redakteurin etwas besorgt: »Fahren auf der anderen Seite die spanischen Frauen auch in die Sahara?«

Friedlicher, fürwahr, ist eine Invasion nie gewesen: Zwei Minister des königlichen Kabinetts luden die spanischen Journalisten zu einem Essen ein. Der König selbst gab dem Madrider Fernsehen ein Interview. Der Chef der marokkanischen Phosphatgesellschaft soll nach Spanien gefahren sein, um über künftige Kooperation zu verhandeln.

Alles deutet darauf hin, daß die beiden Seiten den Sahara-Konflikt friedlich lösen und der große Marsch mithin in einer symbolischen Grenzüberschreitung endet, daß ein Niemandsland erobert wird, das zur Übernahme bereitsteht.

Das von Marokkanern und Spaniern angestrebte und vielleicht schon getroffene Abkommen könnte freilich an einem arabischen Nachbarn scheitern -- Algerien. Dessen sozialistischer Präsident Boumedienne verabscheut die Kungelei zwischen den »reaktionären Kapitalistenstaaten« Marokko und Spanien. Algier hat mit Krieg gedroht, wenn seine Interessen bei der Lösung der West-Sahara-Frage nicht berücksichtigt würden. Es fordert einen neuen mit Algerien freundschaftlich verbundenen Staat auf dem Territorium und nicht die Übernahme der Spanischen Sahara von den Marokkanern.

Aber selbst wenn dieser Marsch nicht den Sieg bringen sollte, könnte König Hassan auf ein historisches Vorbild vertrauen: Mohammed marschierte mit seinen Anhängern des öfteren von Medina gen Mekka. Als die Mekka-Bewohner sich nicht friedlich erobern lassen wollten, trat der Prophet den Rückzug an. Später hatte er dann Erfolg.

Zur Ausgabe
Artikel 43 / 91
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren