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RECHTSPFLEGE BürgerIiches Zwielicht

aus DER SPIEGEL 40/1960

Nach dem Wunsch der Sozialistischen Einheitspartei Walter Ulbrichts sollen auch die Rechtsanwälte tatkräftig zum Gelingen des »Siebenjahrplans des Friedens, des Wohlstands und des Glücks des Volkes« beitragen: Die SED hat kürzlich allen Advokaten der DDR ein neunseitiges Dokument zustellen lassen, das die »Konzeption für die Aufgaben der Rechtsanwaltschaft bei der Durchführung des Siebenjahrplans« enthält.

Das in stoppeligem Funktionärsdeutsch verfaßte Schriftstück bestimmt kategorisch, daß die Berufstätigkeit des Anwalts »über den Einzelfall hinaus dazu dient, die gesellschaftlichen Widersprüche und die Ursachen der dem Sozialismus wesensfremden Gesetzesverletzungen, insbesondere der Verbrechen, aufzudecken und zu überwinden«. Fordert das Repetitorium sozialistischer Rechtspflege: »Der Rechtsanwalt arbeitet eng mit den staatlichen Organen zusammen.«

Diese für den perfekten SED-Rechtswahrer konzipierte Dienstvorschrift ist der vorläufig letzte Versuch der Einheitspartei, die Restbestände »überholter bürgerlich-kapitalistischer Rechtsansichten« unter den Anwälten auszurotten. Ziel solcher vom DDR-Justizminister Hilde Benjamin eifrig geförderter Bestrebungen ist eine Anwaltschaft; die sich - nach sowjetischem Vorbild - nicht als Rechtsbeistand ihrer Mandanten, sondern als Erfüllungsgehilfe von Staat und Partei fühlt.

Um diesen Zustand möglichst rasch herbeizuführen, hatte das DDR-Justizministerium schon 1953 die Niederlassung privater Anwälte untersagt und die Gründung von Anwalts-Kollegien verfügt, in denen sich die noch frei tätigen Rechtsanwälte zusammenschließen sollten. Der Erfolg dieser Aktion war zunächst dürftig: Die Justizverwaltung der DDR sah sich aus Mangel an kollektivierungswilligen Advokaten genötigt, akademisch nicht vorgebildete »Volksrichter« vom Staatsdienst in die schwindsüchtigen Anwalts-Kollegien zu kommandieren.

Als auch dieses Unternehmen nicht zur erhofften Stärkung des »sozialistischen Sektors« der Rechtspflege führte, gingen die Justizfunktionäre dazu über, Universitäts-Absolventen ohne Umwege in die Kollegien zu lenken.

Die Abneigung gegenüber dem Eintritt in die Anwalts-Kollektive erklärt sich aus deren Konstruktion: Zwar arbeitet der Anwalt im Kollegium weiter auf seinem Fachgebiet und auf eigene Rechnung, doch hat er sich in seiner Tätigkeit nach den Anweisungen des Kollegiumsvorsitzenden zu richten, der in der Regel das Vertrauen der SED besitzt und seine Kollegen überwacht. Überdies haben sich die Kollegiumsmitglieder der Kontrolle der aus allen Vorsitzenden innerhalb der DDR gebildeten Zentralen Revisionskommission zu unterwerfen, die nicht nur den Bruch des Berufsgeheimnisses verlangen kann, sondern auch regelmäßig dem Justizministerium der Hilde Benjamin Bericht erstatten muß.

Immerhin ist es der Einheitspartei inzwischen gelungen, das Zahlenverhältnis zugunsten der Kollektive zu verbessern: Gegenwärtig sind 60 Prozent aller in der DDR zugelassenen Anwälte Mitglieder von Kollegien.

Jedoch, die Justiz-Instruktoren der Partei sind damit nicht zufriedengestellt. Sie bestehen auch weiterhin auf der Forderung, alle Anwälte der DDR in Kollektiven zusammenzuschließen, und verlangen zudem

- die Verbesserung der »Kaderzusammensetzung« der Kollegien;

- einen Anwaltsnachwuchs, der sich eng »mit der Arbeiterklasse verbunden« zeigen und sich zu diesem Zweck durch Arbeit in der Produktion »qualifizieren« soll.

Zugleich unternehmen die kollektivfreudigen Justiz-Funktionäre alle Anstrengungen, um vor allem die Strafverteidiger, die mitunter immer noch Rückfälle in überholtes bürgerlich-kapitalistisches Berufsethos erleben, ideologisch zu festigen.

Grundlage dieser Erziehungsarbeit ist der - ideologisch begründete - Glaubenssatz, in der DDR sei der in kapitalistischen Ländern bestehende Widerspruch zwischen den Interessen des Individuums und denen der Gesellschaft aufgehoben. Mithin sei es für den Verteidiger überflüssig, den in einem Strafprozeß Angeklagten vor dem Staat in Schutz zu nehmen.

In diesem Sinne übernahm es die DDR-regierungsamtliche Zeitschrift »Neue Justiz«, den verstockten Anhängern überkommener Rechtsauffassungen die Aufgaben des Verteidigers zu erläutern:

»Demnach besteht ... (die) Funktion des in unserer Republik tätigen Verteidigers darin, die Interessen des Beschuldigten ... auf der Basis der Interessen der Gesellschaft zu wahren.« Dabei hat der Anwalt zu beachten, daß es nicht etwa seine Hauptaufgabe ist, Beschuldigungen zu widerlegen, »denn für den sozialistischen Strafprozeß ist ja die unbegründete Beschuldigung keineswegs charakteristisch«.

Vielmehr soll sich der Verteidiger darauf konzentrieren, »die Massen zur sozialistischen Umgestaltung zu mobilisieren« und auf den Beschuldigten »erzieherisch einzuwirken«. Er kann das - nach den Vorstellungen der »Neuen Justiz« Hilde Benjamins - am besten, wenn er den leugnenden Angeklagten zu einem Geständnis veranlaßt.

Zahlreiche Anwälte mochten sich dieser Auffassung von »sozialistischer Gesetzlichkeit« jedoch nicht anschließen. Sie verließen Praxis oder Kollegium und suchten im Westberliner Lager Marienfelde um Notaufnahme im Bundesgebiet nach: Während 1937 im Gebiet der heutigen Sowjetzone und Ostberlins noch 3163 Anwälte ansässig waren, sank die Zahl

- 1948 auf 1158,

- 1951 auf 915 und

- 1960 auf 750 Anwälte.

Folge dieser Abwanderung ist, daß gegenwärtig beispielsweise im Bezirk Schwerin (628 601 Einwohner) nur noch 16, im Bezirk Neubrandenburg (658 633 Einwohner) noch 13 und im Industrie-Bezirk Halle (1979 613 Einwohner) nur noch 75 Anwälte* tätig sind.

Die SED freilich ließ sich vom Auszug der Unzufriedenen nicht beirren. Sie fordert ungebrochen von den vorerst zurückgebliebenen Anwälten, sie

sollten »sozialistischen Arbeitsstil« im Rahmen des Siebenjahrplans zu höchster Qualität fortentwickeln und sich hüten, den Versuchungen westlicher Rechtsdekadenz anheimzufallen, denn: »Jeder Kompromiß führt ab vom Wege des sozialistischen Verteidigers und hin in das Zwielicht bürgerlicher Advokatur.«

* Zum Vergleich: In dem etwa dem Bezirk Halle vergleichbaren Oberlandesgerichtsbezirk Hamburg (1,8 Millionen Einwohner) sind gegenwärtig 1396 Anwälte tätig. Im Oberlandesgerichtsbezirk Bremen (662 000 Einwohner), der mit den Beziken Schwerin und Neubrandenburg vergleichbar ist, arbeiten 301 Anwälte.

DDR-Justizminister Hilde Benjamin

Rechtsanwälte als Anklagehelfer

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