Bürgerkrieg in Chile?
Fernando López, stolzer Besitzer eines Lkw, steuerte seinen Laster auf eine Wiese in El Monte, 47 Kilometer westlich von Santiago. Dort angekommen, baute er das Lenkrad aus, griff zum Spaten und vergrub es.
So wie López legten rundum andere Fuhrunternehmer ihre Brummer lahm: eine Halde von 1600 Lkw und Bussen. Um die Fuhrwerke vollends zu blockieren, leiteten die Spediteure einen Bewässerungskanal um und verwandelten den Acker so in einen Sumpf.
Mit Kochkesseln und Matratzen ausgerüstet, wachten sie gemeinsam mit Frauen und Kindern bei ihren Wagen -- fest entschlossen, sich »bis zur letzten Konsequenz« allen Befehlen der Staatsmacht zu widersetzen.
Der Streik von insgesamt 45 000 chilenischen Lastwagenbesitzern, vor über drei Wochen begonnen, wuchs zu einer immer gefährlicheren Herausforderung für die Volksfrontregierung Salvador Allendes und könnte den Funken zünden für den vom Staatschef vorige Woche beschworenen Bürgerkrieg.
In einem Land, wo 70 Prozent aller Nahrungsmittel, Treibstoffe und Rohmaterialien auf der Straße transportiert werden, drohte der Ausstand der Fuhrunternehmer die ohnehin prekäre Versorgung weitgehend zu lähmen.
Noch länger wurden die Schlangen von Hausfrauen, die oft stundenlang nach Brot und öl, Zucker und Reis, Seife und Zahnpasta anstehen. Sieben bis acht Häuserblöcke lang reihten sich Autos vor den wenigen Tankstellen, die noch Benzin verkauften.
Treibstoffmangel drosselte in fast jedem zweiten Industriebetrieb die Produktion auf ein Fünftel und gefährdete auch Chiles lebenswichtige Kupferproduktion. Chiles Schüler mußten nach Hause gehen, weil die Schulen -- während des auf der südlichen Halbkugel herrschende Winters -- nicht mehr ausreichend beheizt werden können. Sogar Krankenhäuser blieben kalt.
Bald schlossen sich private Bus-Betriebe und Taxifahrer dem Streik der Lkw-Kollegen an, die von der Regierung Erhöhung der Frachtraten, verstärkte Einfuhren von Ersatzteilen und Neuwagen fordern, aber auch den Rücktritt des Transport-Staatssekretärs Jaime Faivovich. Unternehmer und Bauernverbände in fünf Südprovinzen riefen zum unbegrenzten Solidaritätsstreik auf. Ladenbesitzer, Ärzte, Zahnärzte und Apotheker drohten ebenfalls ihren Ausstand an.
Die kleinen Unternehmer, die Selbständigen sorgen sich, ihrer Habe beraubt und verstaatlicht zu werden: Chiles Mittelstand ist angetreten, den Volksfront-Chef Allende -- kurz vor der Halbzeit seiner Amtsperiode -- auf seinem »Weg zum Sozialismus« zu stoppen. Es wiederholt sich nun die schwere Krise vom vergangenen Oktober, bei der schon einmal ein Ausstand der Fuhrunternehmer das Signal zu wochenlangem Streik einer bürgerlichen Oppositionsfront gegeben hatte.
Damals war der Boykott gescheitert. Allende hatte die Mittelstands-Revolte geschickt abgeblockt. Er schien einzulenken -- indem er einen als neutral anerkannten Ordnungsfaktor an der Macht beteiligte: Er berief erstmals hohe Militärs ins Kabinett. Eine unerwartet starke Solidarisierung mit Allende hielt zudem die Gegner bis zu den Parlamentswahlen im März dieses Jahres von weiteren außerparlamentarischen Attacken ab.
Nach den Wahlen trennte sich Allende von den Militärs. Auch das neue Parlament verweigerte Steuererhöhungen; der Staatschef mußte seine Reformen durch Schulden finanzieren: Der Geldumlauf verfünffachte sich in zwei Jahren. Die Lebenshaltungskosten werden in diesem Jahr dafür uni über 300 Prozent emporschnellen -- Chiles Inflationsrate hält den Weltrekord. Der Schwarzmarktkurs für einen Dollar verschlechterte sich seit Beginn des Jahres sogar von 300 Escudo auf 1800.
Die Wirtschaftsflaute begünstigte den »politischen Sturm«, den Allende schon seit den Wahlen erwartet hatte: Mit einem zweieinhalb Monate dauernden Streik unterminierten die Kumpel des Kupfer-Bergwerks El Teniente seit Mitte April die Autorität der Volksfront-Regierung. Ermuntert von der Opposition, forderten die Mineros, an Spitzenlöhne gewöhnt, um 41 Prozent höhere Lohnaufbesserungen, als allen anderen chilenischen Arbeitern zugebilligt worden waren. Allende gab schließlich nach.
Noch war der Streik nicht beigelegt, da versuchte Ende Juni ein Panzer-Oberst mit vier Panzern und 150 Mann den Präsidentenpalast zu stürmen. Der Putschversuch kostete 22 Menschen das Leben und war offensichtlich inspiriert von der rechtsextremen Terrorgruppe »Vaterland und Freiheit«.
Diese in geheimen Ausbildungscamps gedrillten Terroristen sind nach Ansicht der Regierung auch die Hauptverantwortlichen für die immer zahlreicheren Attentate und Sabotageakte, die -- besonders seit Beginn des Fuhrunternehmer. Streiks -- das Land lähmen sollen.
Bilanz allein der vergangenen drei Wochen: sechs Tote (darunter Allendes Marineadjutant Arturo Araya), über 30 Verletzte und fast 300 Anschläge auf Eisenbahnstrecken und Pipelines, Brücken Und Tunnel.
So flogen am vergangenen Montag, an dem »Vaterland und Freiheit« in einem Kommuniqué der Regierung »den Krieg erklärte«, drei Hochspannungsmasten in die Luft. Die Sprengung löschte in fast ganz Mittel-Chile für 40 Minuten alle Lichter aus und unterbrach eine Radio- und Fernsehrede Allendes gerade in dem Moment, als er seine Landsleute vor einem drohenden Bürgerkrieg warnte.
Als »letzte Chance, einen Bürgerkrieg zu vermeiden«, sah Allende in der vorletzten Woche einen Schritt, der seine eigene Parteien-Koalition zu sprengen drohte -- gegen den Widerstand der Revolutionäre in der »Unidad Popular« holte der Staatschef erneut militärische Verstärkung ins Kabinett: die Oberkommandierenden der drei Truppenteile und den Chef der Carabineros.
Angeblich half der kubanische KP-Spitzenfunktionär Carlos Rafael Rodriguez -- zu Besuch in Santiago -, die Linksaußen unter den Allende-Genossen zum Stillhalten zu bewegen.
Freilich: Auch in der Armee -- besonders unter den Obersten -- regt sich Widerstand gegen die Schützenhilfe für die Volksfront. Denn ganz offensichtlich ist im politisch tief gespaltenen Chile auch die bisher geheiligte politische Neutralität der Armee ins Wanken geraten. So
* folgte dem Panzer-Putsch vom Juni die Nachricht von einer Verschwörung angeblich linker Matrosen;
* mußten zwei -- mutmaßlich mit »Vaterland und Freiheit« konspirierende -- Luftwaffengenerale ihren Abschied nehmen;
* suchte die Armee fast nur in den Büros linker Parteien, der Gewerkschaften und in Fabriken nach heimlichen Waffenlagern -- während der Terror vor allem von Rechtsextremisten angezettelt wird.
Allende plazierte die Militärs auf die Ministerposten Verteidigung, Finanzen. Öffentliche Arbeiten und Transport sowie Besiedlungspolitik und überließ dem Luftwaffengeneral und Transportminister, César Ruiz, und Militärkommissaren in Chiles 25 Provinzen die unangenehme Aufgabe, den Fuhrunternehmer-Streik zu brechen.
Als am vergangenen Donnerstag ein zweites Ultimatum an die Streikenden, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, ergebnislos verronnen war, begannen Soldaten zögernd mit der Konfiszierung der Lkw. Bis Freitag hatten sie rund 2600 Laster beschlagnahmt -- aber fast überall fehlten beispielsweise Vergaser oder Zündkerzen.
»Ohne die Geduld und die Umsicht des Doktor Salvador Allende«, so urteilte in Francos Spanien die Tageszeitung »La Vanguardia Espanola«, »wäre die ausweglose Situation schon in einen Bürgerkrieg ausgeartet.«