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NS-VERBRECHEN Bumke schwieg

aus DER SPIEGEL 51/1961

Zuverlässige Staatsanwälte führen derzeit ein bisher streng geheimes Ermittlungsverfahren gegen den erlauchtesten Personenkreis, der je des Totschlags beschuldigt wurde: gegen sämtliche Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte, die 1941 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches amtierten.

Diese Justiz-Creme von gestern wird nach Angaben des hessischen Generalstaatsanwalts Dr. Fritz Bauer der Mittäterschaft am Euthanasie-Programm des Dritten Reiches beschuldigt. Bauer: »Manche Herren werden noch ihr blaues Wunder erleben.«

Das von Bauer prophezeite Wunder deutete sich schemenhaft bereits am vorletzten Wochenende in der Evangelischen Akademie Loccum an. Dort war eine erlesene Schar von Juristen versammelt, um in besinnlicher Seelsorge -Luft über Schuld und Sühne der deutschen Justiz zu meditieren und Ehrenerklärungen auszutauschen.

Die Mannheimer Staatsanwältin Dr. Barbara Just-Dahlmann erschütterte die überwiegend evangelische Juristen -Gemeinde zunächst mit einem Katalog jener Hemmnisse, die heute noch einer wirksamen Strafverfolgung von NS -Verbrechen im Wege stehen.

Danach muß die in Ludwigsburg installierte Zentralstelle zur Ermittlung von NS-Rechtsbrechern* nicht nur auf alle herkömmlichen Fang -Mittel - wie Ausschreibung im Fahndungsbuch - verzichten, weil die kollegial denkenden Polizei-Organe die Gesuchten warnen könnten. Die Ludwigsburger Staatsanwälte haben vielmehr auch unter Richtern zu leiden, die den mühsam ermittelten Übeltätern ihr Mitgefühl zuwenden und sie die ganze Milde des Gesetzes spüren lassen.

So setzte ein, ungenannter Strafrichter einen 12 000 fachen Mörder, der geständig war, gegen eine Kaution von 12 000 Mark auf freien Fuß. Barbara Just: »Eine Mark pro Mord.«

Ein ebenso nachsichtiger, wenn auch weniger genauer Richter kassierte einen Haftbefehl mit der Begründung, der örtlich nicht zuständige Richter habe ihn erlassen, obschon die Strafprozeßordnung ausdrücklich feststellt, daß ein Haftbefehl auch in diesem Fall gültig ist. Staatsanwältin Just: »Die hatten also nicht mal ins Gesetz gesehen.«

Die über so viel Großmut verbitterten Ludwigsburger benutzten ihre Mußestunden, um die Strafsumme zu

berechnen, die deutsche Gerichte, auf den Einzelfall umgelegt, verhängten: Sie kamen auf zehn Minuten Gefängnis pro angeklagten Mord.

Die Loccumer Gemeinde, mit diesen bislang unbekannten Tatsachen vertraut gemacht, bedurfte seelischer Restauration. Sie nahte in Gestalt des Generalbundesanwalts i.R. und CDU-MdB Max Güde.

Entgegen seiner bisherigen These, daß die Bonner Justiz bei politischen Straftaten zu exzessiv urteile, malte Güde das Bild der deutschen Richter von einst und jetzt in gefälligeren Farben. Er beklagte die Nöte des Richters und warb um Verständnis für menschliche Schwächen: »Glauben Sie mir, die Justiz im ganzen spürt einen Schock.«

Mit beschwörender Geste bat der verhinderte Justizminister, ihm noch mehr zu glauben: »Glauben Sie mir doch, daß

die Justiz den Willen zur Gerechtigkeit hat und zur Sühne des Unrechts. Glauben Sie mir das!«

Der Applaus bewies, daß die Hörer glaubten. Güde selbst sorgte freilich dafür, daß sich ihr Vertrauen zur Justiz nicht auch auf die Richterschaft von gestern ausdehnte. Der oberste deutsche Strafverfolger außer Diensten kam nämlich erstmals auf ein Dokument zu sprechen, von dessen Existenz die deutsche Öffentlichkeit bislang kaum etwas wußte: auf das Protokoll einer Sitzung der höchsten deutschen Richter-Repräsentanz vom 23. April 1941.

Unter Vorsitz des geschäftsführenden Reichsjustizministers Schlegelberger waren im Reichsjustizministerium vertreten: Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke, Oberreichsanwalt Dr. Ernst Lautz, die Präsidenten der Oberlandesgerichte und die Generalstaatsanwälte.

Das illustre Kollegium lauschte nach einleitenden Worten Schlegelbergers zwei Referaten, die der Oberdienstleiter in der Kanzlei des Führers, SS-Oberführer Viktor Brack, und der Psychiatrie-Professor Dr. Heyde hielten. Thema: Das Euthanasie-Programm des Dritten Reiches.

Auf diese Sitzung beruft sich der seit 1959 inhaftierte Heyde, um seine Teilnahme an den Euthanasie-Morden zu rechtfertigen. Heydes These: Da die deutsche Justiz-Elite, wie das Protokoll ausweist, zu seinem Vortrag geschwiegen habe, seien ihm - dem juristisch nicht geschulten Arzt - keine Bedenken über die eventuelle Rechtswidrigkeit der Aktion gekommen.

Güde: »Dieses Dokument hat mit dazu beigetragen, daß ich mit meinem Beruf zu Ende gekommen bin.« Begründung: »Auch ich als (damals) kleiner Amtsrichter war durch diese Versammlung repräsentiert.«

Der hessische Generalstaatsanwalt Bauer, von Loccum-Pilgern auf diese Worte Güdes angesprochen, gab sodann bekannt, daß gegen den im Reichsjustizministerium vertretenen Personenkreis ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei.

Das wohl spektakulärste Verfahren der deutschen Justiz-Geschichte - 1941 gab es im Deutschen Reich 34 Oberlandesgerichte, mithin auch 34 Oberlandesgerichtspräsidenten und 34 Generalstaatsanwälte - wird von Stuttgart aus geführt. Bauer: »Die meisten Herren leben noch.«

So weit sie bislang vernommen wurden, haben die des Totschlags beschuldigten Präsidenten und Generalstaatsanwälte versucht, die Schuld auf den damals ranghöchsten deutschen Richter, den Reichsgerichtspräsidenten Erwin Bumke, abzuwälzen.

Diesen Bumke, einen Richter alter Schule, der 1929 Präsident des Reichsgerichts geworden war, hatte Hitler im Mai 1933 umgarnt, indem er ihn anflehte: »Bumke, helfen Sie mir!« Der konservative Bumke half, blieb bis 1945 Präsident des Reichsgerichts und erschoß sich beim Einmarsch der Russen.

Bei dem Euthanasie-Kolleg, das 1941 im Reichsjustizministerium stattfand, richteten sich nach Aussage der Beteiligten die Augen der Präsidenten und Generalstaatsanwälte auf den Chef des Reichsgerichts, nachdem Psychiater Heyde referiert und Schlegelberger die Grundsatzdebatte - Euthanasie oder nicht - eröffnet hatte.

Präsident Bumke aber schwieg, und ergo schwiegen alle.

* Die Stelle wurde 1958 von den Landesjustizverwaltungen errichtet. Jedes Bundesland außer Bremen entsandte einen Staatsanwalt.

Reichsgerichtspräsident Bumke

Den NS-Juristen trifft... Generalstaatsanwalt Bauer

... die ganze Milde des Gesetzes

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