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VATIKAN Bund mit der Neuen Linken

Papst Paul, in den letzten Jahren als konservativer Papst bekannt, tritt in einem »Apostolischen Brief« für die Umbildung der bestehenden Gesellschaftsordnung ein. Er verwirft Kapitalismus und Marxismus.
aus DER SPIEGEL 21/1971

Eine »positive Umwandlung der Gesellschaft« sei vonnöten, verkündete letzte Woche Papst Paul VI. In einem Apostolischen Schreiben an den kanadischen Kardinal Maurice Roy machte der Heilige Vater seinen Willen deutlich, die nahezu 2000jährige Römische Kirche auf Linkskurs zu bringen.

Paul wendet sich in dem Schreiben, das er aus Anlaß des 80. Jahrestages der Sozial-Enzyklika »Rerum novarum« von Papst Leo XIII. verfaßt hat, gegen den Liberalismus, Kapitalismus und Wirtschaftsnationalismus der bürgerlichen Gesellschaft. Er kritisiert aber auch in unnachgiebig harten Worten den atheistischen Marxismus und fraternisiert, erstaunlich vor allem, mit der utopischen Neuen Linken -- offenkundig in dem Bestreben, in der unruhigen Jugend einen Bundesgenossen gegen Bürgertum und Kommunismus zu finden. Er folgt damit einem Weg, zu dem ihm viele progressive Theologen schon lange geraten haben.

Paul fordert in seinem Brief neue Formen einer modernen Demokratie, anerkennt den Anspruch der Menschen in der heutigen Gesellschaft auf »Gleichheit und Mitbestimmung«, verurteilt den durch die Marktwirtschaft ausgeübten Konsum-Terror -- wie Herbert Marcuse -- und beklagt, daß der Mensch nicht nur durch die Technokratien und Bürokratien, sondern auch durch die »Geisteswissenschaften« (gemeint: Psychologie, Soziologie, Politologie) zum »Objekt einer Manipulation wird, die seine Wünsche und Bedürfnisse nach Belieben lenkt«.

»Soziale, politische und wirtschaftliche Umbildungen« seien notwendig, meint der Papst und setzt dabei seine Hoffnungen auf das »Wiederaufleben sogenannter Utopien«. Zwar bemängelt er, daß die linken Utopisten oft vor den »konkreten Aufgaben fliehen« und sich in eine »Traumwelt« zurückzögen« anerkennt aber dann, »daß diese Form der Kritik (die utopische) der bestehenden Gesellschaft die vorausschauende Einbildungskraft oft zu dem Glauben herausfordert, die in der Gegenwart bereits vorhandenen, verborgenen Möglichkeiten zu entdecken und sie auf eine neue Zukunft hinzuorientieren«. Die utopische Linke stärke damit, lobt der Papst, »die soziale Dynamik«.

Es scheint, daß die Sympathie des Papstes für die linken Linken bis in die Nähe des von ihnen propagierten und stellenweise praktizierten Rätesystems reicht. Es sei eine dringende Aufgabe, meint der Papst, »auf der Ebene der Straße, des Wohnviertels oder größerer Einheiten das Sozialgefüge wiederherzustellen, in dem der Mensch für die Grundbedürfnisse seiner Persönlichkeit Erfüllung finden kann«.

An manchen Stellen hat der päpstliche Brief wörtliche Anklänge an Texte des Philosophen der Neuen Linken, Marcuse. Während dieser die »Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen«, zu einem revolutionären »Substrat der Geächteten und Außenseiter« zusammenfaßt, erklärt sich Paul für die »Randexistenzen verschiedener Herkunft«, die »neuen Armen« und »Behinderten«, die »Opfer von Ungerechtigkeiten«, die »wegen ihrer Rasse, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Kultur, ihres Geschlechts oder ihrer Religion« unterdrückt werden.

Pauls Brief läßt erkennen, welche Strategie er in der Kirche durchsetzen will, und wem er was vorwirft:

* dem Kapitalismus seinen »maßlosen Wettbewerb«, den Anreiz zum Erwerb »überflüssiger Dinge« und seine Unfähigkeit; die primären Bedürfnisse vieler Menschen zu befriedigen;

* den Wissenschaften, daß sie den Menschen »in seine eigene Vernünftigkeit eingeschlossen« hätten und ihn zum Gegenstand von Manipulationen machten;

* dem Sowjet-Kommunismus seine Ideologie des Klassenkampfes, seine Neigung zum »Typ der totalitären und gewalttätigen Gesellschaft« und den Atheismus;

* dem Liberalismus die philosophische »irrige Lehre über die Autonomie des Einzelnen in seinem Handeln, seinen Beweggründen und der Wahrnehmung seiner Freiheit«;

* dem Wirtschafts-Nationalismus, er fördere den »Machtmißbrauch« durch Privatunternehmen, welche Entwicklungsländer daran hindern könnten, eine Ordnung »größerer Gerechtigkeit« einzuführen.

Noch vor zwei Jahren, am Gründonnerstag 1969, hatte Paul geklagt, daß der »Leib Christi«, also die Kirche, durch solche Christen gefährdet sei. welche »die Maske eines christlichen Pluralismus« trügen. In seinem Brief der letzten Woche fordert Paul nun seine Gläubigen selber zu Pluralismus in zeitlichen Dingen auf. Zwar bleibe der Christ weiterhin an die Autorität der Offenbarung und der Kirche gebunden, doch obliege es den Christen eines jeden Landes, die eigene Situation zu berücksichtigen, um die notwendigen »Umbildungen« durchzuführen. Als Ziele solcher Veränderungen nennt Paul »Gerechtigkeit« und »Frieden«.

Der Verzicht Pauls auf ein kirchliches Sozial-Modell und die, wenn auch begrenzte, Freigabe politischer Koalitionen mit sozialreformerischen Gruppen eröffnen zweifellos der Kirche ein großes Manövrierfeld. Ganz sicher wird sich die politische Mobilität der Kirche in vielen Ländern verstärken.

Dabei kann Paul unschwer gerade aus der gegenwärtigen Situation in Italien ablesen, wie ohnmächtig die bürgerlichen Regierungen sind, und wie konzessionsbereit andererseits die -- mit Moskau dissidierende -- italienische KP ist. Schon vor fünf Jahren erklärte Luigi Longo, ihr Generalsekretär, dem SPIEGEL: Der »italienische Weg zum Sozialismus« strebe eine »pluralistische sozialistische Gesellschaft« an. Die Übereinstimmung mit Pauls Text ist verblüffend.

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