60. Jahrestag des Élysée-Vertrags Scholz bezeichnet deutsch-französische Freundschaft als »Kompromissmaschine«

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (l.) und Bundeskanzler Olaf Scholz beim Treffen in Paris
Foto: Lewis Joly / APBundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat der Ukraine die bleibende Unterstützung der Europäer zugesagt. »Wir werden die Ukraine weiter unterstützen – so lang und so umfassend wie nötig. Gemeinsam, als Europäer – zur Verteidigung unseres europäischen Friedensprojekts«, sagte Scholz zum Auftakt des Festaktes zum 60. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages am Sonntag in Paris.
»Putins Imperialismus wird nicht siegen«, sagte Scholz. »Wir lassen nicht zu, dass Europa zurückfällt in eine Zeit, in der Gewalt die Politik ersetzte und unser Kontinent von Hass und nationalen Rivalitäten zerrissen wurde.« Er betonte dabei die Notwendigkeit der deutsch-französischen Zusammenarbeit »als Impulsgeber in einem geeinten Europa«.
Bei dem Festakt in Paris dankte Scholz für die Freundschaft Frankreichs. »Danke, Herr Präsident – danke aus ganzem Herzen«, sagte er auf Französisch an Staatschef Emmanuel Macron gewandt. Die Beziehungen beider Länder waren im vergangenen Jahr angespannt gewesen. Ein im Herbst geplantes gemeinsames Ministertreffen war kurzfristig abgesagt worden.
»Kontroversen in gleich gerichtetes Handeln umwandeln«
Die Abstimmung zwischen Deutschland und Frankreich sei ein zentraler Teil der Meinungsfindung in der EU, betonte Scholz. »Der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine – gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit«, sagte er in einer Rede zum Jahrestag des Élysée-Vertrags. Seinen Antrieb beziehe er »nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik«. Stattdessen aus »unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleich gerichtetes Handeln umzuwandeln«.
Es sei normal, dass es wegen unterschiedlicher Strukturen der Politik und Wirtschaft sowie anderen historischen Erfahrungen immer wieder Differenzen gebe, sagte der Kanzler mit Blick auf verschiedene Bestrebungen etwa in der EU-Finanz- und Industriepolitik. Gerade deshalb seien Lösungen aber auch für andere akzeptabel.
Macron rief als Erwiderung Deutschland dazu auf, »Pioniere der Neugründung unseres Europas« zu werden. Diese Rolle komme den beiden Nachbarstaaten zu, weil sie nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam den Weg der Aussöhnung gegangen seien. Dabei müsse die Europäische Union weiter in die Lage versetzt werden, als »geopolitische Macht« in der Welt aufzutreten.
Großes Treffen beider Regierungen
In Paris treffen sich heute die Kabinette beider Länder und die Spitzen der beiden nationalen Parlamente anlässlich des Jahrestages des Élysée-Vertrags, mit dem die deutsch-französische Freundschaft am 22. Januar 1963 formal besiegelt worden war. Die gesamte Bundesregierung wird zur Feier in Paris erwartet, bis auf Arbeitsminister Hubertus Heil, zudem reisen 140 Bundestagsabgeordnete an. Bei dem Treffen werden auch die wichtigsten aktuellen Themen behandelt, etwa Wirtschaft, Energie, Sicherheit und Verteidigung. Eine gemeinsame Erklärung soll letztlich eine Vision für Europas Zukunft darlegen.
Scholz betonte die Notwendigkeit eines souveränen Europas, für das Frankreich und Deutschland gemeinsam arbeiteten. »Indem wir unsere Kräfte dort bündeln, wo die Nationalstaaten allein an Durchsetzungskraft eingebüßt haben – bei der Sicherung unserer Werte in der Welt, beim Schutz unserer Demokratie gegen autoritäre Kräfte. Aber auch im Wettbewerb um moderne Technologien, bei der Sicherung von Rohstoffen, bei der Energieversorgung oder in der Raumfahrt«, sagte er.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) hatte zuvor einen »neuen Impuls« für die deutsch-französischen Beziehungen gefordert. Sie wünsche sich neue gemeinsame Projekte etwa in der Sozial- und Sicherheitspolitik, sagte sie. »Frankreich und Deutschland könnten eine gemeinsame europäische Idee entwickeln für eine soziale Integration – beispielsweise beim Mindestlohn und anderen sozialen Standards«, schlug die SPD-Politikerin vor.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD)
Vor Kurzem schien Frieden selbstverständlich, sagte Bas, »vor allem für die junge Generation«. Vom ersten Augenblick des Kriegs an habe Europa überwältigende Solidarität mit dem angegriffenen Land, der Ukraine, gezeigt, was auch im eigenen Interesse sei. »Es geht um die Sicherheit unseres Kontinents.« Es gehe auch um Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Dazu brauche es aber auch den Zusammenhalt innerhalb Europas, betonte Bas. »Nur wenn Europa im Inneren stark ist, können wir unsere Werte international behaupten.« Geopolitische Umwälzungen, der Klimawandel, wirtschaftliche Herausforderungen und Migration verlangten gemeinsame Antworten. Die Partnerschaft spiele eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der großen Aufgaben. »Europa braucht das deutsch-französische Tandem.«
Bas hatte die Feierlichkeiten mit einer Hommage am Grab der französischen Frauenrechtlerin Simone Veil im Pantheon in Paris begonnen. Man ehre eine große Europäerin, »eine Frau mit festen Überzeugungen und beispielhaftem Handeln, deren Staffel wir weitertragen wollen«, schrieb die Vorsitzende der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, im Nachrichtendienst Twitter, mit der Bas die Gedenkstätte besuchte.
Zahlreiche gemeinsame Institutionen seit Vertragsunterzeichnung
Mit dem Vertrag hatte einst der französische Präsident Charles de Gaulle Deutschland an Frankreich binden wollen, um zu verhindern, dass sich das Nachbarland mit Großbritannien oder den USA gegen sein Land verbündet. Bundeskanzler Konrad Adenauer sah in dem Hinrücken zu Frankreich ein geeignetes Mittel, um in Europa das Misstrauen gegen die Deutschen abzubauen.
Vereinbart wurde damals ein regelmäßiger Austausch der Staats- und Regierungschefs, der Außen- und Verteidigungsminister und der Generalstabschefs. Es gehe darum, »größeres Verständnis für das andere Volk zu wecken und zu vertiefen«, hatte ein deutscher Regierungssprecher nach der Unterzeichnung gesagt.

Bundeskanzler Scholz spricht bei der Festveranstaltung in Paris
Foto: Michael Kappeler / dpaAllerdings gab es auch Gegenwind. Der damalige US-Präsident John F. Kennedy sah die deutsch-französische Annäherung mit Sorge, zumal Frankreich die Nato strikt ablehnte. Er hatte vergeblich versucht, den Vertragsabschluss zu verhindern. Aber er erreichte, dass Deutschland vor der Ratifizierung durch den Bundestag auf eigene Initiative eine Präambel hinzufügte, in der Deutschland seine Bindung an die USA bekräftigte. Frankreich habe nichts dagegen, lautete die offizielle Reaktion aus Paris. Doch hinter den Kulissen brodelte es.
Aus dem Élysée-Vertrag sind zahlreiche deutsch-französische Institutionen hervorgegangen, welche die Beziehungen beider Länder immer weiter vertieft haben. Im Nachklang des Vertrags wurde etwa 1963 das deutsch-französische Jugendwerk gegründet, über das etwa zehn Millionen junge Deutsche und Franzosen durch Austausche das jeweilige Nachbarland kennenlernten. Seit 1989 gibt es die deutsch-französische Militärbrigade. Drei Jahre später ging der binationale Kultursender Arte auf Sendung.