JUGOSLAWIEN / STUDENTEN Bunter Abend
An der Straßenkreuzung Studentska- und Bezanijska-Ulica regelt ein Student den Straßenverkehr. Studenten-Posten bewachen die Wohnhelme in Neu-Belgrad. Im Zimmer fünf des ersten Wohnblocks in der Studentenstadt tagt ein Aktionsausschuß als revolutionärer Rat in Permanenz.
Untätig steht die Postenkette der Polizei neben dem Studenten-Ordnerdienst, als hätte die Miliz ihre Macht schon abgetreten. Die üblichen weißen Tropenhelme der Polizei wurden durch Stahlhelme ersetzt; Hundertschaften aus den serbischen Städten Valjevo, Kikinda und Pancevo sind nach Belgrad zur Verstärkung ausgerückt.
Mit umgeschnallter Pistole schützen sie Partei- und Staatspaläste und sichern Straßen gegen Demonstranten: Die Weltrevolution der Studenten hat Belgrad erreicht. In Belgrad aber herrscht eine sozialistische Regierung.
Das sozialistische Jugoslawien gilt als liberalster roter Staat. Die Fabriken gehören nicht privaten Unternehmern und werden nicht von Bürokraten verwaltet, sondern von Arbeitern. Dennoch protestieren Belgrads Studenten mit roten Fahnen gegen das rote Establishment -- für Sozialismus.
Sie tragen rote Armbinden. Kommunarden tauften die Beigrader Alma mater in »Rote Universität Karl Marx« um und hefteten ihre Forderungen an die Fassade: »Sozialismus für alle!« Und: »Weg mit der verlogenen Parteibourgeoisie!«
Die Partei bestätigte den Vorwurf ihrer linken Kritiker: Sie reagierte mit bürgerlicher Repressivgewalt. Sie befahl ihren Polizisten zu prügeln.
Der Anlaß war banal. Zu Pfingsten hatten Studiker Einlaß in die Arbeiterfakultät des Stadtteils Neu-Belgrad begehrt. Ein bunter Abend sollte stattfinden.
Alle Saal-Plätze waren jedoch bereits von 400 parteitreuen Jugendbrigadieren besetzt. In die nun ausbrechende Schlägerei um die Plätze griff die Polizei mit berufsbedingter Brutalität ein.
Die Akademiker bemächtigten sich eines Wasserwerfers, zündeten ihn an und sprengten mit ihm einen Polizei-Kordon. Brennend schoß der Wasserspeier in die Front der sozialistischen Ordnungshüter.
Gewehrsalven weckten die nahe Studenten-Siedlung. Lautsprecher riefen zum Massen-Meeting auf. Montag morgen formierten sich die Studenten zum Marsch auf Belgrad. Lastwagen-Barrikaden versperrten die Route. Vor den Polizisten-Pulks waren Partei-Beauftragte in Stellung gegangen.
»Was wollt ihr?« fragte Partei-Ideologe Vlahovic mit einem Megaphon. Die Demonstranten forderten Abzug der Polizei, um auf dem Marx-Engels-Platz demonstrieren zu können.
Ohne Warnung warf die Polizei Tränengasbomben und Rauchkerzen unter die Störer und übte Knüppel-Gewalt. Milos Minic Serbiens Parlamentspräsident, schob sich mit ausgebreiteten Armen in die Keilerei: »Wer hat angeordnet, auf diese Art gegen die Studenten vorzugehen?« Sogleich Dezog auch der Präsident Prügel mit dem Polizeistock.
Nach der bereits in West-Berlin bewährten Einkesselungstaktik fiel ein zweiter Polizei-Stoßtrupp aus Richtung Neu-Belgrad den Demonstranten in den Rücken. Eine halbe Stunde später bedeckten 38 Verletzte, beschmutzte Porträts von Staatschef Tito, zerfetzte rote Fahnen, Kleidungsstücke und Schuhe das Schlachtfeld.
Gleichfalls nach Berliner Muster besetzten darauf die Belgrader Studenten ihre Fakultäten. Die Staatsgewalt begnügte sich damit, alle Telephonleitungen zu den Aufstands-Stützpunkten zu kappen.
Partei und Regierung erließen ein Demonstrations-Verbot; das Politbüro erklärte, es werde nicht zulassen, daß
* 2. v. r. vorn: Serbiens Parlamentspräsident Milos Minic
Probleme auf der Straße gelöst würden.
Revolutionshelfer verteilten selbstgemachte Flugblätter in allen Stadtteilen. Sie forderten eine Hochschulreform: Mitbestimmung an der Uni und Beschäftigung für arbeitslose Akademiker. Denn der jugoslawische Arbeiter- und Bauernstaat leidet an Überproduktion von Studenten -- 206 392 unter 20 Millionen Einwohnern.
Kaum die Hälfte der Studenten bleibt länger als zwei Semester auf der Hochschule. Die anderen versagen. weil das unterentwickelte Schulwesen nur mangelhafte Grundlagen vermittelt (SPIEGEL 16/1968) oder weil ihnen das Geld ausgeht.
Nur 15 000 jugoslawische Studenten beziehen Stipendien. 25 000 müssen von Darlehen leben, deren Höhe -- 40 bis 75 Mark im Monat -- den Preis für Kost und Logis in den überfüllten Studentenheimen nicht deckt.
Die übrigen Jung-Akademiker -- rund 80 Prozent -- ernähren sich vom Elternhaus, das wenig hat, oder von Werkarbeit, die es selten gibt. So erklärt es sich, daß an der Belgrader Universität nur zwölf Prozent der Studenten aus Arbeiterfamilien kommen, nur zwei Prozent sind Bauernkinder.
Der Sozialprotest der Beigrader Studiker steigerte sich sogleich zu staatsgefährdenden Parolen: Der Rat der revoltierenden Studenten forderte > Abschaffung aller Privilegien und
sozialen Unterschiede;
* Demokratisierung von Partei, Gewerkschaften, Presse;
* Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.
Aufgeschreckt versprach die Prügel-Partei Sofortmaßnahmen, damit der Funke der Kulturrevolution nicht auf die Arbeiter überspringt und -- wie in Frankreich -- den Staat versengt: Die Mindestlöhne sollen auf 100 Mark im Monat erhöht werden, in den Wohnungsbau 30 Millionen Mark fließen.
Den Studenten verhieß der Staat kostenlose Mahlzeiten und Mitbestimmung. Auch dürfen sie fortan ein Klubhaus an der Marschall-Tito-Straße nutzen. Das Bauwerk diente vordem der Geheimpolizei.