»Bush zum Wahnsinn treiben«
Eine schmutziggraue, wattige Wolke bewegte sich im letzten Licht des Tages langsam schlingernd auf den französischen Schützengraben zu. Erschaudernd duckten sich die Soldaten hinter ihrer Brustwehr, ohne recht zu wissen, was da auf sie zukam. Eine kurze Weile war es totenstill. Plötzlich ein Schrei. Er bestand nur aus einem einzigen Wort: »Gas!«
Was dann geschah, hat Sir Arthur Conan Doyle, der literarische Vater des berühmten Sherlock Holmes, in einem Frontbericht geschildert: »Da sah man plötzlich, wie die Soldaten ihre Arme in die Luft warfen, die Hände an den Hals legten und sich dann am Boden wälzten, eine Beute des grauenhaften Erstickens. Viele erhoben sich nicht wieder, während ihre Kameraden . . . kopflos nach rückwärts flohen, als ob sie irrsinnig geworden wären.«
Gaskrieg, Stunde Null: der 22. April 1915 bei Ypern. Diese Einsätze von C-Waffen im Ersten Weltkrieg forderten in den folgenden dreieinhalb Jahren fast 100 000 Menschenleben. Und Hunderttausende wurden so schwer verletzt, daß sie ein Leben lang an den Folgen zu tragen hatten.
Einer von ihnen war der Meldegänger und spätere Führer des Großdeutschen Reiches, Adolf Hitler. Mit einer schweren Gelbkreuzvergiftung wurde er ins Lazarett von Oudenaarde eingeliefert. Tagelang war er blind.
Den Schock darüber überwand Hitler nie. C-Waffen blieben für ihn während des ganzen Zweiten Weltkriegs tabu, obwohl die deutsche Wehrmacht viereinhalb Millionen Gasgranaten auf Halde hatte. Selbst im Angesicht der sicheren Niederlage zog Hitler, der Millionen Juden in die Gaskammer schickte, einen Gasangriff im Felde nie ernsthaft ins Kalkül.
Es ist dieses Tabu, das den widerwärtigsten Tyrannen der ersten Hälfte vom bedrohlichsten Tyrannen der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unterscheidet.
Denn Saddam Hussein, für US-Präsident George Bush der »Hitler« unserer Tage, schreckt vor dem Gaskrieg nicht zurück. Das bewies der Diktator vom Tigris in seinem Feldzug gegen den Iran, als er im März 1984 einen Sturmangriff iranischer Soldaten in den Sümpfen bei Basra mit chemischen Kampfstoffen stoppen ließ.
Und er bewies es mit der Ausrottungskampagne gegen aufständische Kurden in seinem eigenen Lande. Allein der Senfgasangriff auf die Stadt Halabscha im Nordirak forderte im März 1988 den Massentod von 4000 Menschen - qualvoll erstickte Frauen und Kinder waren der Beweis für die Skrupellosigkeit, mit der Saddam seine Feinde bekämpft.
Daß Saddam Hussein auch im Kampf um das annektierte Ölemirat Kuweit, nunmehr »die 19. irakische Provinz«, Horrorwaffen aus dem ABC-Arsenal einsetzen könnte, ist für seine alliierten Kriegsgegner »eine klare Möglichkeit« (US-Verteidigungsminister Cheney). Je mehr der Diktator militärisch in die Enge getrieben wird, um so schriller tönen seine apokalyptischen Drohungen.
»Unmengen von Blut werden vergossen werden«, kündigte der Gewaltmensch ein Armageddon am Golf an, »Blut auf allen Seiten - amerikanisches, französisches, saudisches Blut und irakisches.« Kuweit werde »zum Schauplatz der größten Landschlacht, welche die Menschheit je gesehen hat«.
Auch zum Schauplatz des bislang größten Einsatzes von Massenvernichtungsmitteln in einem Inferno ohnegleichen? Er werde, der jeweiligen Kriegslage entsprechend, auch zu »nicht konventionellen Waffen« greifen, ließ sich der Tyrann vergangene Woche kryptisch zu seinem Szenario für diesen Entscheidungskampf vernehmen, den er zur »Mutter aller Schlachten« machen will.
Daß Saddam Hussein selbst vor den letzten militärischen Perversionen nicht zurückschreckt, hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits mit einem beispiellosen Akt von Öko-Terrorismus demonstriert: der Verseuchung des Golfs durch eine Ölpest (siehe Seite 152).
Seit der Vollmondnacht zum vorigen Mittwoch wissen die alliierten Truppen am Golf, daß alles passieren kann: In der ersten Bodenschlacht des Krieges um Kuweit griffen die Iraker aus dem Südzipfel des Ölemirats überraschend an vier verschiedenen Stellen mit insgesamt vier gepanzerten Bataillonen an. Zum Einsatz kamen jedoch nur konventionelle Waffen.
Zwei Angriffe schlugen amerikanische Marineinfanteristen zurück. Eine dritte Panzerkolonne wurde von AC-130-Schlachtflugzeugen sowie von »Panzerknackern«, mit einer schweren Schnellfeuerkanone bewaffneten Spezialflugzeugen des Typs A-10, zur Umkehr gezwungen. Beim vierten Vorstoß gelangten die Iraker 15 Kilometer weit bis in die grenznahe Stadt Chafdschi, die von saudiarabischen Truppen auf dem Rückzug vor feindlichem Artilleriefeuer Tage zuvor geräumt worden war.
Dutzende abgeschossener Panzer und Schützenpanzer zählten die Amerikaner später auf dem Schlachtfeld. »Ich bin sehr traurig, daß ich zwölf Tote und zwei Verwundete melden muß«, klagte US-Oberbefehlshaber General Norman Schwarzkopf. Doch das waren nur die amerikanischen Toten.
Der unerwartete Vorstoß, so vermuten westliche Strategen, habe die zermürbende Dauerkanonade aus Geschützen der amerikanischen Marineinfanterie beenden sollen, die in den Tagen zuvor Tod und Vernichtung über Iraks Fronttruppen gebracht hatte. Einige Militärs sahen darin fast schon eine hilflose Geste, zu der die Iraker gezwungen seien, da ihnen kaum noch andere militärische Mittel blieben. Ende voriger Woche zog Saddam wieder mehrere tausend Soldaten mit Hunderten Kampfpanzern, Schützenpanzern und Lastwagen im Süden Kuweits zusammen. »Absolut irrsinnig« sei dieser Aufmarsch, fanden britische Piloten.
Pausenlos flogen alliierte Bomber, darunter auch überschwere B-52 mit ihrer 20-Tonnen-Bombenlast, gegen die ungeschützten Truppen. Die Flugzeuge drängten sich so dicht im Luftraum über Al-Wafra, daß manche Kampfflieger über eine Viertelstunde lang Warteschleifen fliegen mußten, ehe sie ihre tödliche Fracht abwerfen konnten. Das sei »wie Truthahn-Schießen«, fand ein amerikanischer Kommodore.
Trifft die Erfolgsbilanz des Pentagon auch nur halbwegs zu, dann hat sich der militärische Druck auf Bagdad innerhalb von acht Tagen dramatisch verstärkt. Damit aber könnte sich Saddam Hussein schon sehr bald gezwungen sehen, seine apokalyptischen Drohungen gegen die von den USA geführte internationale Allianz, vor allem aber gegen Israel, wahr zu machen.
Bis Ende voriger Woche deutete jedenfalls nichts darauf hin, daß die Waffenstillstandsofferte, mit der US-Außenminister James Baker und sein neuer sowjetischer Amtskollege Alexander Bessmertnych noch einmal eine diplomatische Lösung der Krise angeboten hatten, in Bagdad angenommen werden könnte. Vielmehr schien alles dafür zu sprechen, daß Saddam Hussein mit buchstäblich allen Mitteln versuchen wird, die militärische Niederlage, wenn er sie denn nicht verhindern kann, wenigstens hinauszuzögern.
Jedenfalls war US-Oberbefehlshaber Schwarzkopf klug genug, die neu aufschäumenden Erfolgshoffnungen im alliierten Lager zu dämpfen: »Keinesfalls will ich sagen, daß die irakische Armee schon vor der Kapitulation steht.«
Schwarzkopfs Report hatte nach der zweiten Kriegswoche und 30 000 Feindflügen der Kampfflieger von sechs verbündeten Luftstreitkräften vermeldet: *___Zwei Drittel der 26 Führungszentren, Ziele der ersten ____Angriffsstaffeln, sind nun »schwer beschädigt oder ____vernichtet«. Das gleiche gilt für 75 Prozent der ____irakischen Elektrizitätserzeugung. *___70 Flugzeugbunker, normalerweise kaum zu knacken, seien ____mit gehärteten 900-Kilo-Bomben aufgesprengt worden: ____"Iraks Flugzeuge verlieren buchstäblich alle sicheren ____Unterstände.« *___Alle 30 fest installierten Scud-Abschußrampen seien nun ____zerstört, 50 mobile Rampen getroffen. Insgesamt ____1500-Anti-Scud-Einsätze haben die Raketenangriffe auf ____Israel und Saudi-Arabien von 35 in der ersten ____Kriegswoche auf nur noch 18 in der zweiten reduziert.
Die alliierte Luftherrschaft über dem Operationsgebiet markierte das Ende der ersten beiden Phasen in Washingtons Kriegsplänen. Welches Schicksal den irakischen Truppen in und bei Kuweit nun drohen soll, hatte Pentagon-Stabschef Colin Powell bereits in der Woche zuvor verkündet: »Wir werden sie abschneiden und töten.«
Phase drei, das Abschneiden von 545 000 irakischen Soldaten vom Nachschub aus der Heimat, ist bereits in vollem Gang.
Euphrat und Tigris sollen zu unüberwindlichen Versorgungsbarrieren werden: Rund 800 Angriffe wurden bereits gegen 33 der insgesamt 36 Brücken über die beiden Wasserläufe geflogen, die wichtigsten Verkehrslinien mit Laserbomben punktgenau unterbrochen.
Den drastischen Rückgang der Transporte beobachteten US-Radarflugzeuge auf der Hauptverkehrsader von Basra zur Front in Kuweit, auf der noch Mitte Januar zu jeder Tages- und Nachtzeit mehr als tausend Fahrzeuge gezählt wurden. »Heute finden wir dort nicht einmal mehr hundert«, wußte Schwarzkopf zu berichten. Der General belegte den Erfolg mit weiteren Zahlen: Mit 20 000 Tonnen Nachschub müsse Saddam Hussein seine Truppen jeden Tag versorgen, »wir haben ihn auf täglich 2000 Tonnen gedrückt«.
Ein besonders schwerer Schlag gelang den Amerikanern offenbar gegen die Munitionsvorräte der Iraker. Monatelang hatte Bagdad Granaten und Raketen, Minen und Patronen nach vorn geschafft - die Masse davon in ein zentrales Depot im Norden Kuweits. Dieses Lager, mit 125 Munitionsbunkern größer als die meisten Depots, die von der Supermacht USA weltweit unterhalten werden, flog nach einem Bombenangriff in die Luft.
Gleichwohl will Bagdads Feldherr die Landschlacht um Kuweit so schnell wie möglich erzwingen. Hier sieht er die einzige Chance, dem Gegner so beträchtliche Verluste beizubringen, daß dieser aus politischen Gründen den Krieg nicht länger ausfechten kann. Nur darauf zielte Bagdads bisherige Strategie, alle Kräfte für den Zusammenprall der Landarmeen von über einer Million Mann zu schonen.
Welle um Welle flogen die Alliierten ihre High-Tech-Attacken gegen Saddam Hussein - und die Iraker, die über eine so ausgepichte Waffentechnologie nicht verfügen, duckten sich darunter weg.
Was Saddam Hussein und seine Generale dagegenzusetzen haben, was sie zielstrebig auf den Landkrieg zusteuern läßt, ist ein umfängliches Arsenal von schauerlichen Waffen. Es reicht von sauerstoffzehrenden Aerosolbomben über engmaschig verlegte Minen bis hin zu Giftgasgranaten und, womöglich, den gefürchteten Biowaffen - eine Rüstkammer des schmutzigen Krieges.
Um den eindringenden Feind mit einem Wall aus Feuer und Rauch zu stoppen, haben irakische Militärs auf eine fast mittelalterlich anmutende Befestigungstaktik zurückgegriffen: Ölgefüllte Eisenfässer und Gräben entlang der Front, die sich bei Bedarf in Brand setzen lassen, sollen den Artilleristen die Sicht nehmen, vor allem aber ein psychologisches Hemmnis bilden.
Den Brandgräben, die noch durch in den Sand eingegrabene Butanbehälter ergänzt werden, ist ein etwa 800 Meter breiter Minengürtel vorgelagert. Vier Meter hohe Sandwälle lassen Panzer, die darüberrollen, mit ihrer kaum geschützten Unterseite wie Zielscheiben vor schußbereiten Kanonieren auftauchen.
Kriegsherr Saddam, der nach Einschätzung westlicher Beobachter geradezu als »minenverliebt« gilt, verfügt mutmaßlich über einen Vorrat von 20 Millionen Minen aller Art. Dazu gehören besonders große Explosivkörper, die einen schweren Panzer meterhoch in die Luft schleudern können, sowie »Schützenminen« in allen Abstufungen gegen Infanteristen.
Als besonders tückisch gilt »Bouncing Betty«, ein Sprengkörper, der bei Berührung einen Meter hoch in die Luft geschleudert wird, ehe er explodiert, und »einen Soldaten in der Luft zerreißt«, wie es ein Angehöriger der U.S. Marines formulierte.
Die rund 500 000 Minen, die nach Schätzung westlicher Militärs an der Grenze zwischen Kuweit und Saudi-Arabien im Sand lauern, würden im Falle eines alliierten Vormarsches zunächst aus der Luft bekämpft: Hubschrauber und Jagdbomber sollen Schneisen in den Minenteppich schlagen; US-Militärs hoffen, daß dabei 80 Prozent der Minen explodieren.
Im zweiten Durchgang würden Räumpanzer mit vorgehängten Pflugscharen Angriffskorridore schaffen, gefolgt von Minenräumkommandos, die den Boden in Handarbeit mit Detektoren absuchen. Für besonders eilbedürftige Fälle halten die US-Militärs eine Räumwaffe namens »Giant Viper« bereit: eine Rakete, die 350 Meter weit nach vorn geschossen wird und dabei, nach Art einer Luftschlange, einen Schwanz von Explosivkörpern hinter sich her zieht. Die Riesenviper kann, wie es heißt, einen Korridor von sieben Meter Breite minenfrei machen.
Einige der Minen sind offenbar so gut verborgen, daß irakische Panzer vergangene Woche beim Rückzug nach dem ersten Angriff trotz der rundum einschlagenden feindlichen Granaten plötzlich bewegungslos stehenblieben - aus Angst, auf die eigenen todbringenden Ladungen zu fahren.
Minen- und Feuergürtel bilden in der irakischen Abwehrstrategie die sogenannte Todeszone. Sie dient vor allem dazu, herannahende alliierte Verbände aufzuhalten und sie dann dem irakischen Artilleriefeuer auszusetzen. Wird dieses Hemmnis überwunden, könnten sich die Alliierten einer Waffenart ausgesetzt sehen, die in den USA entwickelt wurde und zu den tückischsten im Arsenal konventioneller Kriegführung zählt: den sogenannten »Fuel Air Explosives« (FAE), über welche auch die Iraker nachweislich seit mindestens zwei Jahren verfügen.
Die FAE-Waffe ist, wie westliche Militärtechniker formulierten, besonders geeignet, »abgesessene Infanterie in Feldbefestigungen auszuschalten": Soldaten, die einer FAE-Explosion schutzlos ausgesetzt wären, würden entweder durch die Druckwelle getötet oder von einer Feuerwalze verzehrt. Oder sie ersticken. Im Jargon der US-Militärs, die FAE-Bomben bereits im Vietnamkrieg, wenn auch nicht gegen Menschen, einsetzten, gilt die Waffe als »Atombombe des kleinen Mannes«.
Die Sorge vor verlustreichen Bodenkämpfen ist in Washington dermaßen groß, daß die Pentagon-Planer den Einmarsch nach Kuweit so lange wie irgend möglich hinauszögern wollen. Statt, wie Briten und Franzosen drängen, bald mit der Schlußoffensive zu beginnen, will Washington, so heißt es im Pentagon, »mindestens noch einige Wochen, vielleicht sogar noch sehr viel länger allein auf den Luftkrieg setzen«.
Zwar rühmen sich die Amerikaner großer Erfolge auch beim Kampf gegen Bagdads atomares, biologisches und chemisches Arsenal: 31 Produktions- und Lagerstätten für diese Horrorwaffen hätten in den Ziellisten gestanden. 535 Angriffe seien gegen sie geflogen, über die Hälfte dieser Ziele schwer beschädigt worden.
Doch skeptische Stimmen warnen, daß Saddam Hussein wahrscheinlich Tausende Tonnen von Giftwaffen in Depots untergebracht hat, die den amerikanischen Spionagesatelliten entgangen sind. Sein Arsenal des Grauens ist unzweifelhaft das größte und in seiner teuflischen Wirkung variantenreichste, über das ein Land der Dritten Welt verfügt.
Nach Angaben des US-Geheimdienstes CIA und sowjetischer Experten besitzt der Irak 2000 bis 4000 Tonnen chemischer Kampfstoffe. Bagdads Giftarsenal umfaßt vor allem Hautkampfstoffe und Nervengase: *___90 Prozent des Chemiepotentials bestehen aus Senfgas ____oder »Lost«, wie der Hautkampfstoff nach seinen ____Erfindern, den deutschen Chemikern Lommel und ____Steinkopff, genannt wird. Das Gift dringt durch die ____Haut oder über die Lungen ins Blut. *___Die Nervengase Tabun und Sarin wurden mit deutscher ____Hilfe im Irak produziert. Gelangen die farb- und ____geruchlosen Gase über Haut oder Atemwege in den Körper, ____blockieren sie dort wichtige Eiweißstoffe, schalten ____Nerven aus und können in wenigen Minuten zum Tode ____führen.
Auch der Einsatz bakteriologischer Waffen durch den Irak wird von etlichen Beobachtern nicht ausgeschlossen. Nach Informationen der US-Regierung experimentierte der Irak mit den Krankheitserregern von Milzbrand, Typhus, Pest und Cholera. Selbst über das Hypergift Botulismus-Toxin des Bakteriums Clostridium botulinum, von dem schon drei Hunderttausendstelgramm tödliche Atemlähmungen auslösen, sollen die Iraker verfügen.
Die militärische Effizienz von Angriffen mit chemischen Kampfstoffen wird von Experten als eher gering eingestuft. Bei einem irakischen Vorrat von etwa 1800 Tonnen Lost, so der amerikanische Chemiewaffenspezialist Gordon Burck, könnten selbst bei einem »Einsatz aller Waffen auf einen Schlag« nur »sehr begrenzte Flächen für etwa eine Woche kontaminiert« werden.
Gegen Chemie-Attacken schleppen die alliierten Soldaten jeweils zwei komplette Schutzanzüge samt Gasmasken mit sich herum. Bei jedem Alarm wird die etwa zwei Kilogramm schwere Montur unverzüglich angelegt: Die äußere Schicht der Baumwoll- und Nylonkluft hält Flüssigkeiten ab, eine Innenschicht aus mit Holzkohle imprägniertem Polyurethan-Schaumstoff soll vor Giftgas schützen.
Gleichsam als Frühwarnsystem einer Giftattacke dienen Teststreifen, die in Höhe der Unterschenkel an den Hosenbeinen befestigt sind: Bei Kontakt mit Lost verfärben sich die Indikatoren rot, Gelb signalisiert Sarin oder Tabun.
Zur Ausrüstung gehören auch Spritzen gegen Nervengas. Bemerkt ein Soldat Beklemmungen in der Brust und eine Einengung des Sehfeldes, erste Anzeichen einer Nervengasvergiftung, so muß das Gegengift Atropin unverzüglich gespritzt werden. Nach Injektionen mit Atropin und einem weiteren Antidot (Pralidoxinchlorid), meint Militärarzt Zajdowicz, könnten »Soldaten mit geringfügigen Vergiftungen sich selbst kurieren«.
Mehr als die gesundheitlichen Folgen fürchten amerikanische Militärs indes die psychologische Wirkung eines Angriffs mit diesen heimtückischen Waffen: Habe Saddam sie erst einmal eingesetzt, würden auch noch entfernte Granateneinschläge, Raketensalven oder Minenexplosionen die Angst der GIs vor einer Lebensbedrohung auslösen, die sie weder sehen noch hören könnten.
Mindestens ebenso schrecklich könnten zudem Saddams Seuchenwaffen wirken. Gegen Krankheitserreger, milliardenfach in Nährlösungen gezüchtet, gibt es kaum Schutz, wenn sie in Granaten, Raketenköpfen, Flugzeugen oder durch Kommandounternehmen freigesetzt werden.
Erst kurz vor Kriegsbeginn hat das Pentagon Impfserien gegen eine begrenzte Anzahl geheimgehaltener Krankheitskeime angeordnet. Frühestens in Wochen, zum Teil erst in Monaten wird dieser Schutz wirken. Unmöglich ist es aber, allen denkbaren biologischen Kampfstoffen vorzubeugen.
Und schlimmer noch: Anders als C-Waffen, deren Todeswirkung auf die Region begrenzt bleibt, in der sie eingesetzt wurden, verbreiten sich biologische Gifte wie jede andere Seuche unkontrolliert. Noch ehe überhaupt die Krankheit ausgebrochen ist, können Frontsoldaten die Epidemie in die saudiarabische Etappe, Verwundete in US-Lazaretts auf deutschem Boden, Urlauber bis in die USA verschleppt haben.
Daß Saddam Hussein schon jetzt auch über die dritte Variante der apokalyptischen Massenvernichtungsmittel, über Atomwaffen verfügt, halten Fachleute für unwahrscheinlich. Ganz ausschließen mögen sie es freilich nicht.
Für die Schlachtenlenker in Washington war die Zerschlagung der irakischen Atomrüstung ein wichtiges Kriegsziel. Es schien bereits am vierten Tag der Bombenangriffe auf das Zweistromland erreicht. »Dank unserer Zielgenauigkeit«, so George Bush, »hat Saddam Hussein im Atombombengeschäft nichts mehr zu melden.«
Jahrelang hatte die Möglichkeit, der Irak könnte mit Hilfe der Atombombe und seines Ölreichtums zu einer veritablen Supermacht aufsteigen, die Strategen in Washington beunruhigt. Eine Forderung von William Webster, Chef des Geheimdienstes CIA, galt ihnen als Glaubenssatz: Sicherheit im Nahen Osten sei nur vorstellbar, »wenn Saddam von Massenvernichtungsmitteln abgekoppelt wird - wie, ist egal«.
Die Geschichte des irakischen Atomprogramms schien schlimmste Befürchtungen zu rechtfertigen. Denn es war Saddam Hussein, der sich schon früh gebrüstet hatte, sein Irak werde als erstes arabisches Land die A-Bombe besitzen.
1975 hatte Saddam, damals noch Vizepräsident und Chef des irakischen Atomprogramms in Personalunion, den Bau einer Plutoniumbombe befohlen. Den Explosionsstoff sollte die Reaktoranlage namens Osirak erbrüten. Frankreich hatte ihn geliefert, zusammen mit 12,3 Kilogramm hochangereichertem Uran-235 als Kernbrennstoff, dessen Konzentration auch für eine Atomwaffe tauglich ist.
Doch ehe die erste Kettenreaktion in dem Atommeiler gestartet werden konnte, zerstörten am 7. Juni 1981 israelische Jagdbomber das Reaktorgebäude in Tuweitha. Israel hätte sich sonst »in tödlicher Gefahr befunden«, rechtfertigte damals der israelische Premier Menachem Begin den Angriff.
Jetzt, bei dem amerikanischen Bombenregen, wurden zwei andere Atomanlagen ausgeschaltet: ein Reaktor der sowjetischen Baureihe IRT-5000 und ein kleinerer Forschungsreaktor, mit dem Frankreich 1987 den Osirak ersetzte.
Doch Paul Leventhal, Präsident des Nuclear Control Institute in Washington, kommen da Zweifel: »Diese beiden Reaktoren mögen ja zerstört sein. Aber was ist mit dem Uran-235? Ist das auch vernichtet worden?«
Leventhal nimmt an, daß die irakischen Atomklempner das Uran-235 schon vor Ablauf des Uno-Ultimatums am 15. Januar in Sicherheit gebracht haben: »Wissen wir, wo es jetzt ist?«
Eine Antwort hält er für »äußerst wichtig«. Denn mit den 12,3 Kilogramm Uran-235 ließe sich zusammen mit 10 Kilogramm Uranoxid, das Moskau zum Betrieb des Reaktors lieferte, eine Atombombe montieren. Ihre Sprengkraft würde mit 13,5 Kilotonnen jener amerikanischen Uranbombe entsprechen, die 1945 über Hiroschima explodierte.
Es gibt zwei Augenzeugen, die den irakischen Bombenstoff am 22. November zum letztenmal gesehen haben: Inspektoren der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien - ein nigerianischer und ein sowjetischer Beamter -, die das Spaltmaterial in Tuweitha kontrollierten. 1969 hatte der Irak den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet und sich zu solch halbjährlichen Kontrollen verpflichtet.
Paul Leventhal befürchtet, daß Saddams Atomtechniker sich nach der letzten Inspektion daranmachten, eine »straightforward bomb« zu bauen, eine vergleichsweise schlichte Atombombe.
»Es hängt davon ab, wie weit die Iraker mit der Ummantelung und dem Zündmechanismus der Waffe sind«, meint ein anderer Experte, Leonard Spector von der Carnegie-Stiftung in Washington. »Die Bombe sieht vielleicht ungeschlacht aus, groß wie ein VW-Käfer. Saddam müßte sie auf einer Zugmaschine an die Front befördern.«
40 Spezialzünder für die Irak-Atombombe wurden im März 1990 auf dem Londoner Flughafen Heathrow beschlagnahmt. Aber Saddam stand die Freude klar ins Gesicht geschrieben, als er zwei Monate später eine Pressekonferenz in Bagdad abhielt und zwei Krytronen vorzeigte, wie solche Zünder genannt werden. Man habe sie, so frohlockte der Diktator, »auf anderen Wegen beschafft«.
Saddam Hussein ist, das haben seine Gegner bitter zu spüren bekommen, zu fast jeder Überraschung fähig. Und bisweilen macht er diplomatische und militärische Züge, die auf den ersten Blick widersinnig, gar selbstmörderisch erscheinen.
Mit einem erstaunlichen Manöver verblüffte der Diktator vergangene Woche die Generalstäbler der alliierten Truppen, als die Landung irakischer Kriegsflugzeuge auf Luftwaffenbasen des langjährigen Kriegsgegners Iran gemeldet wurde.
Fast 100 Maschinen trafen im Nachbarland ein, dazu gehörte das Beste, was Saddams Luftwaffe aufzubieten hat: der größte Teil der MiG-29- und Mirage-F-1-Flotte sowie angeblich sämtliche Su-24-Bomber - superschnelle Maschinen, die mit gewaltiger Bombenlast, ohne aufzutanken, selbst entfernte Ziele - etwa Israel - angreifen können.
Nur kurz hielt sich in den Planungszentren der Golf-Allianz die mehr auf Optimismus denn auf Fakten basierende Spekulation, die Piloten der irakischen Flugzeuge seien desertiert - als Folge einer Rebellion innerhalb der Luftwaffe gegen den Kriegsherrn Saddam, der angeblich nach den ersten verheerenden Bombenangriffen auf die Hauptstadt Bagdad seinen Luftwaffenchef exekutieren ließ.
Schnell wurde dann aber klar, daß es sich bei der Überführung einer so großen Zahl von Maschinen, die aus verschiedenen irakischen Stützpunkten gestartet waren, nur um eine geordnete, von oben gesteuerte und mit dem Iran abgesprochene Aktion handeln konnte, nicht aber um eine spontane Fluchtbewegung.
Was bewog Saddam, die Prunkstücke seiner Luftwaffe ausgerechnet der Kontrolle des mit ihm bislang so bitter verfeindeten Mullah-Regimes zu unterstellen? Ohne die Zustimmung der Teheraner Machthaber, die sich im Golfkonflikt bislang strikt neutral verhalten haben, werden diese Militärjets nicht wieder aufsteigen können.
Französische, britische und amerikanische Offiziere deuten die Verlegung in den Iran weniger »als Zeichen einer neuen heimtückischen Verschwörung, sondern als Zeichen einer Schwäche« (so US-Generalleutnant Thomas B. Kelly). Auch in Israel löste der rätselhafte Transfer immerhin eines Achtels der irakischen Luftwaffe nach Persien mehr Verwunderung als Sorge aus. Als zusätzliche Bedrohung jedenfalls wurde der Schachzug Saddams in Jerusalem nicht gewertet. Ex-Verteidigungsminister Jizchak Rabin zum SPIEGEL: Die Flugzeuge »sind jetzt weiter von uns weg - rund eineinhalb Stunden Flugzeit« (siehe Seite 155).
Tatsächlich versucht Saddam Hussein wohl nach der alten arabischen Lebensweisheit »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« den Nachbarn Iran, dessen Führung nach wie vor die verhaßten USA als »größten aller Satane« betrachtet, in den Golfkrieg mit hineinzuziehen. Ginge dieses Spiel des Diktators auf, dann könnten sich die Kräfteverhältnisse am Golf möglicherweise dramatisch zuungunsten der arabisch-westlichen Allianz und Israels ändern.
Unmittelbar nach Ausbruch des Golfkriegs hatte Saddam Hussein seinen Emissär Issat Ibrahim, stellvertretender Vorsitzender des irakischen Revolutionsrates, nach Teheran gesandt. Ibrahim bot dem iranischen Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani einen »umfassenden Friedensvertrag zwischen unseren Ländern« an. Er sollte die Schaffung eines gemeinsamen Oberkommandos vorsehen sowie ein strategisches Abkommen für die nächsten 20 Jahre, außerdem gemeinsame Ausschüsse für wirtschaftliche und politische Koordinierung.
Um das Interesse der Mullahs zu wecken, legte Ibrahim im Namen seines Bagdader Herrn einen raffinierten Köder aus: Der Irak werde künftig iranischen Pilgern wieder den Zugang zu den heiligen Stätten in Nadschaf und Kerbela ermöglichen. Beide Städte im mittleren Irak haben für die Schiiten einen besonderen mythischen Klang: Dort befinden sich die Grabmoscheen der schiitischen Imame Ali und Hussein. In der Nähe dieser Schreine begraben zu werden gilt für fromme Schiiten als höchstes Glück.
Vor allem unter den iranischen Fundamentalisten hoffte Saddam Hussein mit seinem verlockenden Angebot auf Zuspruch zu stoßen. Seit dem Tod des Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini im Juni 1989 tobt in der persischen Mullahkratie in aller Offenheit ein Machtkampf: zwischen den Radikalen um Chomeini-Sohn Ahmed und Ex-Innenminister Ali Akbar Mohtaschemi sowie den sogenannten Liberalen um Präsident Rafsandschani und Ajatollah Chamenei, dem religiösen Nachfolger Chomeinis.
Während die einflußreiche Clique um Rafsandschani die desolate wirtschaftliche Lage des 53-Millionen-Volkes mit einer behutsamen Öffnung zum Westen zu verbessern sucht, wollen die schiitischen Hardliner den islamischen Gottesstaat noch weiter abschotten.
Kämen die Zeloten in Teheran an die Macht, dann würde, so wähnt Saddam Hussein, der Iran mit dem Irak - wo über die Hälfte des Volkes ebenfalls der schiitischen Glaubensrichtung angehört - gemeinsam gegen den Satan USA in die Schlacht ziehen.
Als hätte es der irakische Kriegsherr bestellt, bombardierten vergangene Woche alliierte Streitkräfte Nadschaf und Kerbela. Die Bilder von zerstörten Häusern so nahe den Heiligtümern liefen auch im iranischen Fernsehen. Die frommen Perser waren empört.
Obwohl die Angriffe »Wasser auf die Mühlen der Radikalen« waren (so Rafsandschani zu syrischen Besuchern), ist der Präsident zuversichtlich, daß Saddams Kalkül nicht aufgehen wird. Sein Volk sei kriegsmüde, jede Beteiligung am Golfkrieg würde »für den Iran Selbstmord bedeuten«. Ohnehin wisse er, daß Saddam Hussein »ein Betrüger ist, der uns Moslems grausam bekämpft hat, sogar mit chemischen Waffen«.
Gegenüber seinen syrischen Gästen, Vizepräsident Abd el-Halim Chaddam und Außenminister Faruk el-Scharaa, gab Rafsandschani zu, daß die Landung irakischer Militärflugzeuge im Iran vorab mit Teheran abgesprochen gewesen sei. Solange der Golfkrieg tobe, würden die Maschinen allerdings nicht wieder starten, die irakischen Piloten seien unter Arrest gestellt: Dafür stehe sein Wort. Wenn aber die Türkei sich an der Zerschlagung des Irak beteilige, »dann haben wir eine neue Situation«.
»O Brüder«, wandte sich nach den Kämpfen von Chafdschi Radio Bagdad jubilierend an die arabische Nation, »die Zeichen stehen günstig für einen glanzvollen Sieg über die Ungläubigen.« Die Amerikaner seien bei den Attacken im heiligen Land »wie Mäuse« davongerannt. Noch habe der Irak in dieser Schlacht einige Trumpfkarten in der Hinterhand. Jede werde »für die Feinde eine große Überraschung sein und Bush zum Wahnsinn treiben«.
Kuweiter, denen in den letzten Wochen die Flucht gelang, berichteten beinahe Unglaubliches aus dem besetzten Emirat.
Auf der »größten Baustelle, die jemals ein arabisches Land erlebt hat«, sei von Saddam Hussein »eine ganze unterirdische Stadt« angelegt worden. In diesen Betonverliesen seien Nahrungsmittel und Wasservorräte für drei Monate ebenso gelagert wie Waffen und Munition. Sogar unterirdische Gräber für gefallene Soldaten stünden bereit.
Auch deshalb wächst die Gefahr, daß der unberechenbare Diktator versuchen könnte, das Schlachtenglück durch den Einsatz seiner Massenvernichtungswaffen zu wenden. Und auch, daß Saddam mit Raketen oder gar in einem Massenangriff der Reste seiner Luftwaffe einen Terrorangriff gegen israelische Städte fliegt.
Dann allerdings würde eine weitere gefährliche Eskalation drohen: Jerusalem, schon nach dem bisherigen irakischen Raketenterror von einem Gegenangriff kaum abzuhalten, würde mit Sicherheit zurückschlagen - womöglich nuklear, befürchten Nato-Geheimdienstler. Für sie ist diese Gefahr vor allem dann besonders groß, »wenn in Israel der Eindruck entstehen sollte, Amerika werde Saddam ungeschoren davonkommen lassen, wenn der nur aus Kuweit abzieht«.
Ein harter israelischer Gegenschlag, vor allem wenn er - nuklear, chemisch oder konventionell - die irakische Bevölkerung schwer träfe, würde Washingtons fragile Kriegsallianz aufbrechen. Wechseln aber Amerikas moslemische Partner mitten im Krieg die Front, könnte für die Supermacht die militärische Lage kritisch werden.
Das wäre womöglich die Stunde jener US-Militärs, die von Anfang an gefordert haben, Saddam wirklich mit allen, auch mit atomaren Waffen niederzuringen. Schon schließt US-Vizepräsident Dan Quayle den Einsatz von Nuklearsprengköpfen nicht mehr kategorisch aus.
Vor die Wahl gestellt, der Nation ein neues Vietnam eingestehen zu müssen oder den Widerstandswillen seines Gegners mit dem Einsatz von Neutronenwaffen gegen Bagdads riesige Panzerarmeen zu brechen, könnte sich George Bush dann vielleicht doch für den Sieg und gegen die Moral entscheiden.
Doch den irakischen Despoten, in seinem Bunkerreich verborgen wie der Schwarzalbe Alberich in Nibelheims Nacht und wie der Führer wohl bis zuletzt auf Wunder hoffend, schienen derartige Visionen wenig zu schrecken. »Im Namen Gottes, der arabischen Nation und Palästinas«, ließ Saddam Hussein hochgemut verkünden, werde er diese Schlacht so lange führen, »bis ich diese Gebiete restlos von den Häretikern und Ungläubigen befreit habe«.