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Otto Köhler C + W

aus DER SPIEGEL 18/1967

Soll man, so grübelte am vorletzten Freitag »Christ und Welt«-Gesellschafter Klaus Mehnert in den Spalten seines Blattes, »wirklich den Chefredakteur dieses Blattes seinen Lesern vorstellen?« Man soll. Denn Chefredakteur Giselher Wirsing, so lautete Mehnerts Erkenntnis, »geht seit seinen ersten Veröffentlichungen zu Beginn der dreißiger Jahre so völlig in der von ihm dargestellten Sache auf, daß er ... als Mensch den Lesern des Blattes wenig bekannt ist«.

Mehnert macht bekannt. Wirsing, so erfahren die C + W-Leser, brachte es in jenen Jahren fertig, »in einer Diktatur eine unabhängige Zeitung zu machen«. Nämlich -- von Himmler eingesetzt -- die »Münchner Neuesten Nachrichten« und dazu »Das XX. Jahrhundert«.

Wie aber machte man unter Hitler eine unabhängige Zeitung? Nun, Wirsing schrieb, so verrät Mehnert, in einer »Tarnsprache«, nämlich in der bekannten »äsopischen Sprache«. Leider durchschaute, sagt Mehnert, Goebbels im Juli 1944 Wirsings unabhängiges Treiben und verbot seine Zeitschrift »Das XX. Jahrhundert«.

Der Grund, laut Mehnert: Wirsing habe auf gut äsopisch die Dornenkrönung Christi des 1516 gestorbenen Malers Hieronymus Bosch analysiert, und die Beschreibung der Peiniger sei ihm zu der günstigen Gelegenheit gediehen, die »Hybris« anzuprangern, die »in die Region der Dämonie« gehört. Anzüglich habe Wirsing formuliert: »Der von der Hybris Geschlagene und Geblendete ist ... ins Zwischenreich der Dämonen hineingerissen.«

Mehnert findet, Goebbels habe geglaubt, daß Wirsing mit dem Hybris-Besessenen Hitler gemeint habe. Kann wohl sein. Aber mehr noch als an seine Umwelt dachte Wirsing vielleicht schon an seine Nachwelt von 1945, als er so das Dritte Reich in die »Region der Dämonie« hineininterpretierte. Wer will schon Dämonen zur Verantwortung ziehen?

Immerhin, da hat Mehnert sicherlich recht: Den von Hitlers Soll-Schreibern Geplagten mußte es damals wohltun, mit Wirsings Publikationen auch einmal unabhängige Meinungen zu hören. Sollte es diese Leser etwa nicht erfreut haben, zur Abwechslung aus dem unabhängigen Mund Wirsings zu erfahren, daß Hitler »die Elementarkraft des Deutschen schlechthin« sei (1940), ja, daß er sogar die »ganze Kraft der neu heraufkommenden Zeit« verkörpere (1943)?

»Er ist »immer im Dienst"«, bestätigt Mehnert seinem Freund Wirsing, und es ist tatsächlich kein Zweifel möglich, daß Wirsing -- bei aller äsopischen Unabhängigkeit -- auch schon immer im Dienst war: in der SS als Hauptsturmführer, in der NSDAP als Mitglied, im SD (Sicherheitsdienst) nach dessen eigenem Zeugnis »als williger, fleißiger und außerordentlich wertvoller Mitarbeiter«. Und als der NS-Philosoph Alfred Rosenberg 1941 im »vom jüdischen Ungeist befreiten« Frankfurt das »Institut zur Erforschung der Judenfrage« eröffnete, als er »mit strenger Wissenschaftlichkeit« die »Giftigkeit des jüdischen Blutes« feststellte, wer stand ihm da ganz unabhängig zur Seite? Wirsing mit einem Vortrag über »Die Judenfrage im Vorderen Orient«.

Das eben kann man heute nicht mehr ermessen, wie wichtig es für das deutsche Volk damals war, nicht nur von den wenig glaubwürdigen Propaganda-Rednern der Nazis, sondern auch von unabhängigen,

vertrauenswürdigen Publizisten wie Wirsing auf eine vornehme Art über die Notwendigkeit des Antisemitismus aufgeklärt zu werden.

Die Zweckmäßigkeit von Auschwitz hat Wirsing jedenfalls 1943 klar, aber stilvoll begründet: »Diese Unfähigkeit des jüdischen Elements zur substantiellen Wandlung muß

immer wieder zu seiner gewaltsamen Ausscheidung führen.« Hier zeigt sich Wirsings von Mehnert heute noch so liebevoll gewürdigte »konstruktive Einstellung: ihn interessiert nicht nur, was ist?, sondern auch, was tun?«

Nimmt es da noch wunder, daß Wirsings »klare, sachliche und doch zutiefst engagierte Art« (Mehnert) heute gnadenlos mit all denen abrechnet, die, weniger unabhängig als er, damals den Nazis auch nur den kleinsten Finger reichten?

Das bekam »Stern«-Chef Henri Nannen am 9. Dezember 1966 in einer Auseinandersetzung über die Große Koalition zu spüren. Blitzenden Auges hielt Wirsing ihm vor, daß er, Nannen, »bekanntlich einst Hymnen darauf sang, wie »mit leuchtenden Augen die Männer der SS und der SA auf ihren Führer sahen, der ernst und gemessen die Front abschritt'«.

Das war denn auch zuviel. Wie durfte Nannen, der nie bei der SS war, beurteilen, wie völlig unabhängig ein Wirsing-Auge leuchtete, wenn der Führer vorbeikam.

Otto Köhler
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