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Artikel 39 / 84

»CABALLEROS ERGEBEN SICH NICHT«

aus DER SPIEGEL 42/1966

Im Sommer 1936, wenige Tage nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, verbarrikadierten sich 1760 Anhänger des aufständischen Nationalisten-Generals Franco im Alcázar von Toledo, Spaniens berühmtester Kriegsakademie. Fast 70 Tage lang hielten sie unter dem Obersten Moscardó das wuchtige Kastell über dem Rio Tajo gegen alle Angriffe der regierungstreuen Republikaner, die den größten Teil der Feste mit schwerer Artillerie und Flugzeugen zerbombten. Als Francos Truppen die Eingeschlossenen schließlich vor genau 30 Jahren befreiten, war ihr Kampf zum Heldenepos des Bürgerkriegs geworden. Der amerikanische Publizist Cecil D. Eby schrieb die bisher umfassendste Chronologie der Belagerung. Seinem Buch »The Siege of the Alcázar« ist der folgende Auszug entnommen*.

Im Innenhof des Alcázar präsentierten Soldaten vor dem Denkmal Karls V. die Gewehre. Als der Trommelwirbel endete, verlas Hauptmann Vela mit monotoner Stimme eine Proklamation: Die Provinz Toledo erklärte der Regierung in Madrid den Krieg. Es war der 21. Juli 1936, sieben Uhr morgens.

Der Zocodover, Mittelpunkt von Toledo, war noch menschenleer. Mit ein paar Soldaten erschien Vela vor dem Café Goya, wo die Stühle noch auf den Tischen standen, und verlas die Proklamation ein zweites Mal.

Nachdem er der Regierung schließlich auch über den Rundfunk von Toledo den Krieg erklärt hatte, war ein Rückzug nicht mehr möglich: Madrid reagierte so schnell, daß Vela und den Männern im Alcázar keine Bedenkzeit blieb.

Bereits nach drei Stunden kreiste ein dreimotoriges Flugzeug der Republikaner über der Festung und warf Flugblätter ab, mit denen die Soldaten zum Desertieren ermuntert werden sollten.

Kurz nach zwölf näherten sich rund 3000 Republikaner, angeführt von General Manuel Riquelme, der Stadt Toledo.

Wenig später flogen drei Flugzeuge von Norden her auf den Alcázar zu. Die Männer der Guardia Civil** waren kaum in Deckung gegangen, als schon die Bomben detonierten. Die Maschinen drehten nach Norden ab, noch bevor sich der Rauch über dem Alcázar verzogen hatte.

Zwölf Stunden nachdem Hauptmann Vela die Kriegserklärung verlesen hatte, forderte General Riquelme den Kommandanten des Alcázar, Oberst José Moscardó, telephonisch zur Übergabe auf. Vergebens. »Warum diese herausfordernde Haltung?« fragte Riquelme.

- »Weil ich Spanien liebe und auf General Franco vertraue«, erwiderte Moscardó. »Außerdem wäre es unehrenhaft, wenn sich Caballeros Ihrem roten Pöbel ergeben würden.«

»Dann werde ich mir die Caballeros holen«, drohte Riquelme. - Moscardó: »Ich weiß Bescheid, General.«

In der Nacht und am nächsten Morgen drang republikanische Miliz in die Stadt ein. Wer sie unterstützte, erhielt Waffen und Munition. Mehrere Zivilisten, die ein böses Ende voraussahen, verließen heimlich den Alcázar. Als sie die Cuesta hinunterschlichen, stießen sie auf andere kleine Gruppen, die zu der grauen Festung hinaufkletterten, um dort um Asyl zu bitten. Außer den Geiseln gestatteten die Offiziere allen, die es wünschten, das Verlassen der Festung und nahmen jeden auf, dessen Sympathien für die Nationalisten bekannt waren.

In der Morgendämmerung des 22. Juli näherte sich von Norden her ein dreimotoriges Republikaner-Flugzeug dem Alcázar und warf seine Ladung Bomben auf das verdächtige plumpe Bauwerk. In den folgenden Monaten sollte es Hauptziel, Navigationshilfe und Tummelplatz für die Piloten der Regierung werden.

Um neun Uhr eröffnete eine republikanische Batterie, die knapp vier Kilometer nördlich der Stadt in der Dehesa de Pinedo, einem Olivenhain nahe dem Friedhof, stationiert war, das Feuer auf den Alcázar.

Eine Stunde später kehrte das Flugzeug mit einer neuen Ladung Bomben zurück und setzte den südöstlichen Turm des Alcázar in Brand. Das Feuer konnte jedoch schnell wieder gelöscht werden.

Am Nachmittag wurden die Häuser zwischen dem Zocodover und der Nord -Terrasse bombardiert, so daß nur noch ein Haufen Trümmer übrig blieb. Diese Häuser direkt unterhalb des Alcázar, vorwiegend von Armen bewohnt, hätten den Angreifern gute Deckung geboten. Erleichtert stellte der Kommandostab des Alcázar fest, daß die Bomben unbeabsichtigt ein freies Schußfeld zwischen der nördlichen Terrasse und dem Zocodover geschaffen hatten.

Viel gefährlicher als die noch verhältnismäßig geringfügigen Bombenangriffe und der Artilleriebeschuß war das immer mehr um sich greifende »paqueo«, das Feuer der leichten Waffen, das seit dem zweiten Luftangriff in der Stadt eingesetzt hatte. Von Süden und Westen beschossen unsichtbare Heckenschützen

den Alcázar von Dächern und Fenstern - ein Beweis dafür, daß die Kolonne aus Madrid bereits begonnen hatte, den Widerstand unter den Arbeitern zu organisieren.

Bei Einbruch der Nacht war der Alcázar aus dem Gesichtskreis der republikanischen Luftwaffe und Artillerie so gut wie verschwunden: Ein Einschuß oder eine Bombe hatte im Laufe des Tages das Hauptstromkabel beschädigt, so daß die an sich schon düsteren Räume der Festung jetzt in ein geisterhaftes Dunkel getaucht waren. Die brennenden Häuser unterhalb des »Zig Zag« warfen ein gespenstisches Licht auf die Nordfassade, die Kellerräume aber glichen Katakomben.

Nach dem Stromausfall funktionierten auch die Rundfunkgeräte nicht mehr. Man hatte vorher gern befreundete Sender, wie Radio Club Lissabon oder Radio Mailand, gehört und neuen Mut aus der Nachricht geschöpft, daß der Aufstand auch auf andere Teile

Spaniens übergegriffen hatte. Innerhalb von kaum 48 Stunden war der Alcázar nun inmitten eines von Republikanern besetzten Gebietes von aller Welt abgeschnitten.

Durch das Bombardement waren auch die Pumpanlagen zerstört worden, die das Wasser vom Fluß in die Stadt pumpten. Nach wenigen Stunden waren die Latrinen der Festung verstopft, und ein ekelhafter Geruch breitete sich aus. In den Kellerfluren wurden hinter notdürftig errichteten Zwischenwänden Waschbottiche aufgestellt. An der Mauer war in großen Buchstaben zu lesen »Caballeros« oder »Senoras«. Es war nur ein schwacher Trost, daß es auch in der Stadt kein fließendes Wasser mehr gab. Durch Zufall war ein ausreichender Vorrat an Trinkwasser vorhanden: Das Wasser aus dem Swimming-pool im Keller der Festung war während der Ferienzeit nicht abgelassen worden; außerdem hatte man drei alte Zisternen im Innern des Alcázar gefunden und festgestellt, daß das Wasser trinkbar war. Und in der Nähe der Santiago -Kaserne gab es eine Quelle, die jedoch dem Artilleriebeschuß ausgesetzt war.

Es bestand kein Zweifel mehr, daß sich der Alcázar auf eine Belagerung einrichten mußte. Niemand hatte jedoch daran gedacht, Proviant aus der Stadt in den Alcázar zu bringen, solange noch Gelegenheit dazu war.

Als Oberst Moscardó spät am Abend den Kommandostab zu sich rief, war er in einer seltsamen Stimmung - nervös, optimistisch und gottergeben zugleich. Im Amtszimmer des Akademie-Direktors, das von einer grellen Karbidlampe erleuchtet wurde, erklärte er, sie müßten sich auf eine Belagerung von einigen Tagen einstellen. General Mola stieße mit seiner Armee von Norden her nach

Madrid vor; General Franco würde von Extremadura aus bald nach Toledo marschieren. Es bestehe kein Grund zur Verzweiflung. Gott würde ihnen alles geben, was sie brauchten - Er habe sie ja auch mit Munition und Wasser versorgt.

Jemand fragte, woher sie Nahrungsmittel nehmen sollten; denn die Vorräte der Akademie reichten nicht mehr lange. Wenn es notwendig werden sollte, antwortete Moscardó, könnten sie noch immer zum Gegenangriff übergehen und sich aus den Warenhäusern und Lagern der Stadt holen, was sie benötigten. Zum erstenmal stieß Moscardó auf den Widerspruch der Offiziere der Junta.

Bei einer von Moscardó angeordneten Zählung wurde festgestellt, daß sich 1760 Menschen im Alcázar und in den dazugehörigen Gebäuden aufhielten. Von ihnen gehörten 1205 zur kämpfenden Besatzung.

Unter den 555 Nichtkämpfenden waren fünf Nonnen, 22 Fahrer von beschlagnahmten Fahrzeugen (keiner von ihnen durfte am Kampf teilnehmen) und 211 Kinder. Obwohl es in Toledo im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr Priester gab als in jeder anderen Stadt Spaniens, hatte keiner von ihnen im Alcázar Zuflucht gesucht. Ihr Fehlen überraschte und enttäuschte alle, besonders Moscardó, der im Laufe der Zeit gern einen ganzen Zug Soldaten (außer vielleicht die Guardia Civil) gegen einen einzigen Sacerdote eingetauscht hätte.

Sobald die Nationalisten in die Akademie zurückgedrängt waren, fühlten sich die Republikaner als Herren der Situation. Ihr Rezept für die Belagerung war einfach: Sobald die Vorräte ausgingen, mußten die Faschisten die Festung verlassen. Inzwischen wurde ihr Widerstand durch Luftangriffe, Artilleriesperrfeuer und das nervenzerreißende Feuer der Heckenschützen geschwächt. Niemand war so dumm, einen Direktangriff vorzuschlagen. Die Zeit arbeitete für die Republikaner.

Verglichen mit den großen Menschen - und Materialreserven der Republikaner war die Ausrüstung des Alcázar geradezu bedauernswert notdürftig. Es standen zwar 1400 Gewehre zur Verfügung - und diejenigen der Guardia Civil waren außergewöhnlich gut.

Aber die Maschinengewehre der Akademie waren schon seit einer Generation das Gespött der Kadetten: Sie waren schon unzählige Male im Unterricht auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt worden, und nur allzuoft zerfielen sie bei Gebrauch in ihre Bestandteile. In gutem Zustand waren dagegen die 16 Maschinenpistolen, die zum größten Teil von der Guardia Civil stammten.

Die schwersten Waffen waren vier 50 -Millimeter-Geschütze (mit 200 Schuß) und zwei 70-Millimeter-Gebirgsgeschütze (mit 50 Schuß). Moscardó hatte jedoch ausdrücklich angeordnet, sie nur im äußersten Notfall zu gebrauchen. Die Verteidiger des Alcázar mußten also den Feind so nahe wie möglich herankommen lassen, um mit den leichteren Waffen operieren zu können.

Es zeigte sich bald, daß die Nahrungsmittelvorräte weitaus geringer waren als angenommen. Da die Kadetten der Akademie Urlaub hatten, war für die Sommermonate kein Proviant eingelagert worden. Für fast 1800 Menschen standen zur Verfügung:

- 726 Pfund Mehl

- 2177 Pfund Bohnen

- 1270 Pfund Reis

- 907 Pfund Kichererbsen

- 181 Pfund Blumenkohl

- 544 Pfund Erbsen

- 137 Pfund Artischocken

- 54 Pfund Kaffee

- 454 Pfund Zucker

- 245 Pfund Marmelade

- 245 Pfund Tomaten

- 40 Stück getrockneter Dorsch

- 227 Pfund Lachs

- 1425 Liter Olivenöl

- 150 Dosen Kondensmilch

- 125 Flaschen Apfelwein,

- 80 Flaschen Tafelwein

- 800 kleine Flaschen Wermut

- zwölf Flaschen Champagner.

Nach Meinung von Hauptmann Cuartero, dem die Aufsicht über das Verpflegungslager übertragen worden war, reichte der Nahrungsmittelvorrat vielleicht für eine Woche, höchstens für zehn Tage.

Seit die Miliz in die Stadt einzudringen begann, war es der Familie des Obersten Moscardó klar, daß man sie binnen weniger Stunden aufspüren und gefangennehmen würde.

Die Frau des Leutnants Manuel Guadalupe, eines Offiziers an der Akademie, bat daher ihre Schwiegereltern, die Familie Moscardós in ihrer Wohnung in der Calle de Granada zu verstecken. Widerstrebend beherbergten sie die Gäste, deren Gegenwart sie selbst in Lebensgefahr brachte.

Am 23. Juli, sieben Uhr morgens, drangen milicianos in das Haus ein. Sie suchten Leutnant Guadalupe und fanden die Moscardós, erkannten sie jedoch nicht, da alle ihre Papiere vernichtet hatten.

Senora Moscardó und ihr 16jähriger Sohn Carmelo wurden nicht weiter belästigt, aber der andere Sohn, Luis, ein volltauglicher junger Mann von 24 Jahren, wurde zum Verhör in die Diputación gebracht, das Abgeordnetenhaus der Provinz. Dort hatte der Toledaner Anwalt Candido Cabello eine »Tscheka« von Anarchisten und Sozialisten eingerichtet. Cabello traute seinen Augen nicht, als er den Sohn Moscardós erkannte.

Cabello, ein fettleibiger Mann mit dicken Brillengläsern, lächelte geradezu liebevoll auf Luis herab: Er hatte den Schlüssel gefunden, mit dem er die Tore des Alcázar öffnen würde. Es war zehn Uhr. Er nahm den Telephonhörer ab und rief in der Akademie an.

Cabello zu Moscardó: »Sie sind verantwortlich für alle Verbrechen und für alles, was in Toledo geschieht. Ich gebe Ihnen zehn Minuten Bedenkzeit. Ergeben Sie sich nicht, so werde ich Ihren Sohn Luis, der hier neben mir steht, erschießen lassen.«

»Damit Sie sich selbst überzeugen können«, fuhr Cabello fort, »werde ich Ihren Sohn mit Ihnen sprechen lassen.« Luis rief in das Telephon: »Papá!« »Was ist passiert, mein Sohn?« - »Nichts«, antwortete Luis. »Sie werden mich erschießen, wenn sich der Alcázar nicht ergibt. Aber mach dir keine Sorgen um mich.«

»Wenn das wahr ist«, antwortete Moscardó, »dann vertraue deine Seele Gott an, ruf 'Viva Espana' und stirb wie ein Held. Auf Wiedersehen, mein Sohn, ich küsse dich.«

»Auf Wiedersehen, Vater, und einen ganz großen Kuß.«

Als Cabello wieder am Apparat war, sagte Moscardó: »Vergessen Sie die

Frist, die Sie mir gaben. Der Alcázar wird sich nicht ergeben!«

In der Diputación knallte Cabello den Hörer auf die Gabel und fluchte. Dann sagte er zu den herumstehenden milicianos: »Sein Vater will es nicht anders. Macht mit ihm, was ihr wollt.« Luis Moscardó wurde hinausgeführt.

Im Alcázar stand Oberst Moscardó einige Augenblicke wie versteinert da. Ohne ein Wort zu sagen, ging er in seinen Schlafraum und schloß die Tür.

Das war der letzte Telephonanruf, der den Alcázar erreichte - und einer der schlimmsten Fehler während der Belagerung. Cabello hatte geglaubt, den Alcázar öffnen zu können, aber er hatte ihn nur um so fester verschlossen.

In der Festung hatte es vorher Meinungsverschiedenheiten gegeben, und vielleicht wäre eine Gruppe stark genug

geworden, um die Junta zur Übergabe des Alcázar zu zwingen. Durch Moscardós Opfer wurden sie aber alle zusammengeschweißt.

Vorher war Moscardó nur ein Oberst gewesen, der einen kleinen Teil des Aufstandes gegen die Republik kommandierte; jetzt war er zum Märtyrer und Symbol des nationalistischen Spanien geworden. Ungehorsam gegenüber Moscardó hieß, sich indirekt an der Ermordung seines Sohnes beteiligen. Wer wollte es wohl in den kommenden Wochen wagen, im Angesicht Moscardós für eine Kapitulation des Alcázar einzutreten?

Niemand in der Festung wußte allerdings, daß Luis Moscardó noch lebte eingesperrt in einer Zelle des Provinzgefängnisses. Aber etwa zur selben Zeit stand Pepe, ein anderer Sohn Moscardós, in Barcelona vor einem Exekutionskommando der Miliz.

Dort war der Aufstand von den Anhängern der Regierung völlig unterdrückt worden. Als Krankenwärter verkleidet, konnte Pepe die Miliz fünf Tage lang täuschen. Als er jedoch gerade in den Zug nach Toledo steigen wollte, fiel eine Medaille, auf der die Jungfrau Maria zu sehen war, aus seiner Tasche zu Boden. Irgend jemand bemerkte es und unterrichtete die Miliz, die Pepe sofort in das Montjuich -Gefängnis brachte. Dort wurde er verhört und dann als faschistischer Spion erschossen.

Am Nachmittag des 23. Juli waren der Alcázar und die angrenzenden Gebäude von republikanischen Schützen eingekreist. Die Miliz hatte in den Straßen und Gassen, die zur Akademie führten. Barrikaden errichtet. An einigen Stellen entlang der West- und Südmauern der Festung lagen Republikaner und Nationalisten nur wenige Meter voneinander entfernt.

Die Miliz erhielt ständig Verstärkung aus Madrid und aus den umliegenden Dörfern, händigte den Neuankömmlingen Gewehre aus und führte sie zu den Barrikaden, von wo aus sie ihren eigenen Krieg gegen die Festung führten.

Am leichtesten verwundbar war der Alcázar an seiner Nordseite. Hier war der Abhang so steil, daß Angreifer unterhalb der Terrasse emporklettern konnten, ohne von den Verteidigern an den Nordfenstern gesehen zu werden.

Die Verteidigung des Alcázar hing daher vom Gobierno ab, einem Verwaltungsgebäude am Fuße des Abhanges, von dem aus man den Zugang zu den östlich an den Alcázar angrenzenden Gebäuden blockierte. Die Republikaner fanden bald heraus, daß der keilförmige Backsteinbau der Angelpunkt der Verteidigung war.

Weder vom Süden noch vom Westen her wurde ein direkter Angriff befürchtet, da von diesen Seiten ein wahres Labyrinth an Straßen fast direkt auf die Mauern des Alcázar zulief. Keine Angreiferkolonne konnte auf so engem Raum manövrieren und gleichzeitig dem Gewehr- oder Granatenbeschuß aus den Fenstern der Festung standhalten. Und da sich das Gelände der Akademie im Osten bis an den Rand der Tajo-Schlucht erstreckte, war es auch unmöglich, von dort aus anzugreifen.

Gegen Mittag des 24. Juli hörten die wilden Schießereien des Vormittags langsam auf. Über ihrer Siesta vergaßen die Milizsoldaten die Faschisten in der Festung.

In diesem Augenblick wurde ein Tor des Alcázar aufgestoßen, und hundert Mann der Guardia Civil stürmten heraus. Sie übersprangen eine Barrikade in der dem Tor gegenüberliegenden Gasse und liefen dann in Richtung eines Marktplatzes, einige Blocks weiter westlich. Gleichzeitig kamen hundert weitere Gardisten aus dem Gobierno. Hinter den Ruinen der Posada de la Sangre rannten sie die Calle del Carmen hinauf zum Zocodover und bezogen hinter den Arkaden entlang der Ostseite Stellung. Ihnen folgten andere, die Waschkörbe mit sich trugen, in denen sie Nahrungsmittel zum Alcázar bringen wollten.

Der Angriff traf die Miliz völlig überraschend. Sie reagierte jedoch so schnell, daß auch die Guardia Civil überrascht wurde. In der Eile des Rückzugs gelang es den Gardisten lediglich, drei Gefangene als Geiseln mitzunehmen, ihre Körbe aber blieben leer.

Zur Strafe für den Ausfall warf ein dreimotoriges Flugzeug am Nachmittag 15 Bomben über dem Alcázar ab, von denen die meisten in die Nähe der Nord-Terrasse fielen. Der nordwestliche Turm fing Feuer und brannte die ganze Nacht hindurch, da man nicht die nötigen Löschgeräte zur Verfügung hatte. Das Nordtor wurde schwer beschädigt.

Die Verluste im Alcázar stiegen: Bisher waren acht Tote und 37 Verwundete zu beklagen. Die provisorisch eingerichtete Leichenkammer, eine winzige Nische unter, der Haupttreppe, begann in der Julihitze zu stinken. Vor Einbruch des Abends wurden die Leichen in den Picadero, die Reitschule, gebracht und dort begraben. Da kein Priester zur Stelle war, beschränkte sich die Totenmesse auf ein kurzes Gebet. Ein junger Offizier übernahm bei Beerdigungen und bei Gebetstunden, die täglich im Alcázar abgehalten wurden, die Rolle des Priesters.

Der 25. Juli begann mit dem schwersten Artilleriefeuer, das der Alcázar bisher überhaupt erlebt hatte. Major Martinez Leal beschrieb den Angriff so: »Die Sonnenstrahlen hatten gerade die Dunkelheit verdrängt, als der blutdürstige Feind nichts Eiligeres zu tun hatte, als uns zum Morgengruß einen wahren Hagel an Geschossen zu bescheren, wodurch ein auf der Nord-Terrasse parkendes Fahrzeug in Flammen aufging. Der feige Beschuß dauerte dann den ganzen Tag an.«

Nach dem Ausfall der Stromversorgung hatten Techniker unter den Soldaten erfolglos versucht, ihr Rundfunkgerät durch Autobatterien zum Spielen zu bringen. Glücklicherweise waren aber unter den Flüchtlingen zwei Elektriker. Gegen Mittag des 25. Juli konnten sie, wenn auch sehr schwach, Unión Radio in Madrid, einen Sender der Republikaner, empfangen.

So hörten die Eingeschlossenen eine Meldung, die sie verblüffte: Der Nachrichtensprecher teilte mit, der Alcázar von Toledo habe sich ergeben. Zuerst wurde das als großer Scherz betrachtet. Bald sah man jedoch mit Beunruhigung, welche Folgen das haben konnte. Wenn General Franco und General Mola diesem Bericht glaubten, würden sie sich nicht weiter bemühen, nach Toledo vorzustoßen, um die Belagerten zu befreien.

Sofort rief Moscardó seine Junta zu einer Besprechung zusammen und fragte nach einem Freiwilligen, der sich zu General Mola durchschlagen sollte, der mit seiner Armee im Guadarrama-Gebirge nordwestlich von Madrid stand.

»Die Chancen, durchzukommen, stehen eins zu hundert«, gab Moscardó zu. Der Bote mußte 80 Kilometer feindliches Gebiet durchqueren, in dem es von milicianos wimmelte. Zwei Ausbilder von der Armee-Sportschule traten vor. Moscardó wählte Hauptmann Luis Alba, der für diese Aufgabe wie geschaffen schien: Er war intelligent, kräftig, einer der besten Reiter von Toledo und kannte als Amateur-Bergsteiger das Gebiet der Guadarrama.

Am Sonntag, dem 26. Juli, stieg die Moral im Alcázar. Dem sporadischen Feuer der Heckenschützen war niemand zum Opfer gefallen, und die beiden republikanischen Flugzeuge, die über der Festung gekreist waren, hatten keine Bomben abgeworfen. Im Akademie -Museum war die erste Ausgabe einer vervielfältigten Zeitung »El Alcázar« gedruckt und dann an die Eingeschlossenen verteilt worden.

Vor allem aber stieg die Stimmung der Belagerten, weil sie Hauptmann Alba auf dem Weg zu Mola wußten sie glaubten, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis eine Kolonne von Westen her zu Hilfe kam.

Was keiner von ihnen wußte: Albas Leichnam lag in einem Graben am Weg zur kleinen Stadt Torrijos. Republikaner hatten den Hauptmann erschossen.

Am Morgen des 27. Juli war der Mehlvorrat des Alcázar erschöpft. Anstelle der täglichen Brotration verteilte Hauptmann Cuartero an jeden eine Handvoll gerösteten Weizen aus den Kornspeichern neben den Stallungen. Dieses »Getreide« unterschied sich kaum von Dreck, wie man ihn in Scheunen zusammenfegt. Der Vorrat davon reichte aber immerhin für einige Wochen.

Die restlichen Nahrungsmittel hielt der Hauptmann für einen Notfall zurück, abgesehen von einigen Dosen Milch, die er an Kinder und Verwundete ausgab.

Es war allen völlig klar, daß man sich nicht lange von geröstetem Weizen ernähren konnte, und so kam man auf die Idee, Pferdefleisch zu essen. Von Anfang an hatten die Kavallerieoffiziere ohnehin nicht gewußt, wie sie die 97 Pferde und 27 Maultiere ernähren sollten.

Aber normalerweise ißt kein Spanier Pferdefleisch, und der Gedanke, das Fleisch eines Maultieres essen zu müssen, ließ Übelkeit in ihnen aufsteigen.

So wurde beschlossen, zuerst die Pferde zu essen, in der Hoffnung, daß der Alcázar befreit würde, bevor man auch auf die Maultiere zurückgreifen mußte. In einem Leitartikel versuchte »El Alcázar« alle Vorurteile beiseite zu räumen: Das Pferd ist ein sauberes und schönes Tier; es frißt nur, was einwandfrei ist ... Der Nährwert von Pferdefleisch ist weitaus größer als der von Rindfleisch.«

Als die Karbidlampen langsam ausgingen, wurde der Alcázar mit Lampen erleuchtet, die durch Pferdefett gespeist wurden. Ein winziges Lämpchen, aus einer Sardinendose geformt, mit einem Docht aus alten Lumpen brannte während der Nacht in jedem Kellerraum. Schwarzer Rauch und fürchterlicher Gestank breiteten sich aus, aber das war immer noch besser als Dunkelheit - besonders während eines Bombardements.

General Riquelme, der Befehlshaber der Republikaner, rechnete jeden Tag mit der Kapitulation der Festung. Um Munition zu sparen, ließ er deshalb das Artilleriefeuer für den Rest des Juli einstellen.

Während dieser Ruhepause glich der gigantische Innenhof des Alcázar der Plaza Mayor einer spanischen Provinzstadt. Auf Klappstühlen im Zentrum sitzend, übertönte das Orchester der Akademie das sporadische Gewehrfeuer mit Operettenmelodien und Militärmärschen.

Die Frauen durften aus den Kellern herauskommen und Wasser aus der Pumpe bei der Santiago-Kaserne holen, um die Gesichter ihrer Kinder zu waschen, bevor sie mit ihren Familien unter den Arkaden promenierten. Nach alter spanischer Sitte bummelten

die Junggesellen unter den Offizieren in der einen Richtung um den Hof, während ihnen die unverheirateten Mädchen Arm in Arm entgegenkamen.

Ohne Vorwarnung wurde die friedliche Ruhe am Nachmittag des 1. August von einem Posten unterbrochen, der »Feuer« rief. Sekunden später folgte die Explosion einer Granate auf dem Dach des Picadero. Innerhalb von Minuten schlug eine Serie von 105-Millimeter-Granaten an der Ostseite des Alcázar ein.

Zwei Stunden lang nahmen die republikanischen Geschütze alle Nebengebäude unter Beschuß, und sie leisteten gute Arbeit. Am Ende des Artilleriefeuers wurden 140 Granateinschläge gezählt der Picadero stand in Flammen, der Alcázar war in schwarze Rauchwolken gehüllt.

Riquelme hatte aus Madrid den Befehl erhalten, die Festung, wenn nötig Stein für Stein, zu sprengen, um den Widerstandswillen der Belagerten zu brechen.

Am folgenden Tag konzentrierten die Republikaner ihr Feuer auf den Bogengang an der Südostecke, der den Alcázar mit dem Kapuzinerkloster und dem Speisesaal verbindet. War der Bogengang zerstört, gab es keine Verbindung mehr zwischen Haupt- und Nebengebäuden. Drei Tage lang wurde der Gang unter Beschuß genommen, bis in den Wänden und an der Decke Risse erschienen. Freiwillige versuchten, die Löcher so schnell wie möglich auszubessern; ein Mann wurde getötet.

Um die Verteidiger zu demoralisieren, beschossen die Artilleristen während der Mahlzeiten den Speisesaal, so daß die Essenszeiten wiederholt geändert werden mußten. Der Rauch aus dem Küchenschornstein zog immer Beschuß an.

An manchen Tagen waren die Granateinschläge in der Nähe der Küche so stark und so häufig, daß die beiden Köche sich hinter ihren Kesseln verstecken mußten und nur zwischen den Explosionen arbeiten konnten. Für Eugenio Carrasco, den jungen kaltblütigen Küchenchef, war es nichts Ungewöhnliches, Rouladen für die Erkrankten vorzubereiten, indem er hinter den Herd kroch und das Pferdefleisch schmorte, ohne dabei hinzusehen. Bei einer solchen Gelegenheit wurde ihm eine Kelle aus der Hand geschossen.

Am 29. Juli hatte sich im Alcázar das Gerücht verbreitet, in der Nähe der Festung gebe es ein geheimes, mit dicken Weizensäcken gefülltes Lagerhaus. Dieses unglaubliche Gerücht stammte von Isidoro Clamagiraud, einem Franzosen, der in Toledo eine Bäckerei besaß.

Moscardó und sein Stab folgten dem Franzosen auf den Nordostturm; von dort konnten sie mit bloßem Auge das Ziegeldach des Hauses sehen, das der Bäcker beschrieben hatte. Es lag unterhalb des Gobierno an der Calle del Carmen.

Am Abend des 3. August schlichen 20 Mann aus dem Speisesaal, kletterten durch die verkohlten Trümmer des Picadero und begannen die etwa 91 Meter über die Terrasse zu kriechen. Sie erreichten den Platz direkt über dem Dach des angeblichen Lagerhauses, das wenige Meter unter dem Geländer der Terrasse lag. Während die anderen mit gespannten Gewehren im Schatten warteten, ließ sich der Schmied der Akademie auf das Dach hinunter und entfernte mit einem Brecheisen die Dachziegel. Nach einigen Minuten hatte er ein Loch geöffnet, das groß genug war, einen Mann durchzulassen.

Die Aufgabe, in die Öffnung zu klettern, fiel einem Soldaten namens Pérez Molero zu. Er band einen Strick an das Geländer und ließ sich in die Öffnung hinunter. Auf Händen und Füßen kroch er vorwärts, bis er gegen etwas stieß, was er für einen menschlichen Körper hielt. Als er es mit seinen Händen abtastete, merkte er aber, daß es ein Sack war. Er schlitzte ihn mit einem Messer auf, und aus dem Sack rieselte Weizen. Hunderte von Säcken waren bis unter die Decke aufgestapelt.

Sofort begannen Zivilgardisten Säcke durch das Loch nach oben zu hieven. Als sie 23 hochgezogen hatten - jeder wog 200 Pfund -, schleiften sie sie über die Terrasse zum Alcázar. Hauptmann Vela schätzte, daß in dem Speicher über 2000 Sack Weizen lagen, genug, um sie für eine unbestimmte Zeit mit Brot zu versorgen, solange die Republikaner nichts davon merkten.

Es gab eine Mühle, die benutzt worden war, um Tierfutter zu mahlen, aber

es fehlte die Elektrizität, um sie anzutreiben. Die Elektriker lösten das Problem, indem sie einen Stand für ein Harley-Davidson-Motorrad aufbauten und einen Lederriemen vom hinteren Rad an die Walze der Futtermühle anschlossen. Brennstoff für das Motorrad gab es für etwa 68 Tage.

In dem großen Feldofen des Alcázar konnten in zwölf Stunden 1700 zigarrenförmige Brötchen gebacken werden, jedes ungefähr ein Viertelpfund schwer. Aus einem solchen Brötchen und zwei Portionen Eintopf bestand ab 1. August die Tagesration im Alcázar.

Außerdem gab es noch zwei Delikatessen, die zubereitet wurden, sobald jemand die Zutaten beisammen hatte: die eine war gerösteter Weizen, der trocken in einer Pfanne zubereitet wurde, nachdem man die Hülsen von den Körnern entfernt hatte; die andere hieß »Pferdetorte« und wurde aus einem geschlagenen Teig aus Pferdefett und zerquetschtem Weizen hergestellt.

Die Männer ließen sich allerhand einfallen, um ihr Verlangen nach Tabak zu befriedigen. Nachdem sie es mit Hanf, Tuchfetzen und Weizenspreu versucht hatten, nahmen sie schließlich zu den Blättern der Bäume auf den Terrassen Zuflucht.

Wer daran gezweifelt hatte, daß der Alcázar durch Bomben vernichtet werden könne, änderte nach dem Angriff vom 8. August seine Meinung. Kurz vor acht Uhr morgens flog ein dreimotoriges Flugzeug über die Festung und warf 16 Hundert-Pfund-Bomben ab. Fast alle explodierten im Kapuzinerkloster, das völlig zerstört wurde. Die Akademie -Musiker und Zivilgardisten, die das Kloster verteidigten, wurden unter Ziegelsteinen, Holzbalken und eingestürzten Decken begraben.

Damit war die Schlüsselposition für die Verteidigung der Südseite verloren. Die Miliz drang bereits durch die angrenzenden Häuser vor. Nahm sie erst die Klosterruine, dann konnte sie den Alcázar von allen seinen östlichen Nebengebäuden abschneiden und hatte Zugang zum Bogengang, der direkt in die wichtigsten Teile des Alcázar führte.

In aller 'Eile postierten Moscardó und Oberst Romero, der Chef der Guardia Civil in der Provinz Toledo, Scharfschützen an den oberen Südfenstern, von wo aus sie jeden sich nähernden Miliz -Soldaten erwischen konnten. Gleichzeitig wurde Verstärkung zur Klosterruine gebracht, und die Verwundeten wurden abtransportiert.

Während die Bergungsarbeiten noch im Gange waren, warf ein weiteres republikanisches Flugzeug drei Bomben. Sie landeten direkt im Hof, brachen auf, explodierten aber nicht. Dicker Qualm quoll heraus, und als jemand »Gas« brüllte, erfaßte den Alcázar Panik.

Der Rauch drang durch die Ventilatoren in die Keller. Die dort zusammengepferchten Menschen stürzten die Treppen hinauf und versuchten, aus dem Gebäude auszubrechen. Sie wären direkt vor die Gewehre der Miliz gerannt, die draußen wartete.

Major Méndez Parada hatte jedoch schon Vorbereitungen für den Fall eines Gasangriffs getroffen. Auf Anraten eines Flüchtlings, der Drogist war, hatte er in jeder Ecke des Hofes Holzstöße aufhäufen lassen. Diese wurden mit Benzin angezündet, und der durch die Hitze entstehende Luftzug fegte den meisten Qualm aus dem Alcázar. Die

Panik ließ nach, als die erschrockene Menge erfuhr, daß die Bomben nur Tränengas enthalten hatten.

Die Streitkräfte, die den Gobierno verteidigten, waren so angeschlagen, daß neun Soldaten sich bei Anbruch der Dunkelheit an einem Seil in die Calle del Carmen hinunterließen und zum Feind überliefen.

Vier Tage später folgten ihnen weitere sieben. Um gegen die Flut der Deserteure anzukämpfen, verstärkte die Guardia Civil die Abteilung im Gobierno; die Zahl der Offiziere wurde verdoppelt, der Besitz eines Seils stand künftig unter Todesstrafe.

Um den Alcázar auch nachts beschießen zu können, installierten die Republikaner an strategischen Punkten mächtige Scheinwerfer, die sie in einem

Filmstudio in Madrid beschlagnahmt hatten.

Gleichzeitig bereiteten milicianos im Santa-Cruz-Museum eine Überraschung für den Gobierno vor. In Höhe des zweiten Stocks entfernten sie nach Einbruch der Dunkelheit einen Granitblock aus der Außenwand des Gobierno, wodurch eine kleine Öffnung von ungefähr 30 Zentimetern im Quadrat entstand. Durch diese Öffnung warfen sie einen Schlauch, den man in der Dunkelheit nicht sehen konnte, und pumpten Benzin in den Gobierno. Zum großen Teil floß das Benzin in den Stall Nummer 4 im Erdgeschoß.

Wütend trommelte der diensttueride Offizier seine Männer zusammen. Dann setzte er das Benzin selbst in Brand, bevor die Miliz von der anderen Seite der Straße angreifen konnte. Der Stall ging in Flammen auf, aber mit Decken und Jacken schlugen die Verteidiger das Feuer nieder. Gleichzeitig trieben Scharfschützen in den oberen Fenstern des Gobierno die Miliz zurück, bevor sie die Calle del Carmen halb überschritten hatte.

Obwohl einige Räume beschädigt waren, hatte das Feuer die Stuckwände

des Gobierno nicht angegriffen; sie hielten nach wie vor dem Angriff stand. Für den Augenblick gaben die Republikaner daher erst einmal ihren Benzinkrieg auf.

25 Verteidiger waren bisher gefallen, über hundert verwundet. Mitte August lag die Zahl der Deserteure bei 21, und offenbar gab es noch mehr, die gehen wollten, aber keine Gelegenheit hatten. Vielleicht gehörte ebensoviel Mut zum Desertieren wie zum Widerstand, denn man lief beim Überqueren der Kampflinie Gefahr, in den Rücken geschossen zu werden oder einer angreifenden Einheit gegenüberzustehen.

Die Wasserversorgung erreichte einen gefährlichen Tiefstand. Am 10. August wurde die Tagesration auf einen Liter pro Person herabgesetzt. Jeden Morgen überwachte ein »Direktor für Wasser« zwei Stunden lang mit einer Liste in der Hand die Zuteilung, während ein Hauptmann der Zivilgardisten daneben stand und den »Direktor« bewachte. Wasser wurde der am meisten gefragte Artikel auf dem Schwarzen Markt. Es war unmöglich geworden, sich oder seine Kleidung zu waschen.

Den Frauen, die sich ihres Schmutzes schämten, war die Dunkelheit der Keller willkommen. Einige kratzten als Ersatz für Puder den Putz von den Wänden (Putz wurde auch schon als Gewürz für den Eintopf benutzt). Als einmal ein leichter Regen fiel, stürmten die Menschen aus den Kellern, stellten sich in den Hof und hielten ihre Gesichter nach oben, um sich auf diese Weise zu waschen.

Das Wasser im Swimming-pool war für die Pferde reserviert. Dennoch drehten sich die Wachen meistens um, wenn Kinder kamen, um sich eine Kanne voll von der grünen, schleimigen Flüssigkeit zu holen.

Die Männer spülten den Schmutz von ihren Händen mit Urin ab.

Die Elektriker erweiterten inzwischen den Empfangsbereich des Radiogeräts und fingen tatsächlich auch eine Sendung von Radio Lissabon auf, einer Rundfunkstation, die den Nationalisten freundlich gesonnen war.

Im Funkraum und auf dem Korridor gaben die Eingeschlossenen die Nachrichten aufgeregt flüsternd weiter: »Die Nationalisten halten Sevilla ... General Franco ist nach Burgos geflogen, dem Sitz der neuen nationalistischen Regierung ... Die Straßen zwischen Andalusien und den Pyrenäen sind offen ... Bilbao ist von dem nationalistischen Kreuzer 'Almirante Cervera' unter Feuer genommen worden ... Die Legion und die Mauren haben Mérida und Badajoz eingenommen und rücken nun auf Madrid vor ...« Als der Ansager fertig war, erklangen Hochrufe im Alcázar.

Diese Nachrichten kamen im rechten Augenblick, denn sie folgten der gefährlichsten Entdeckung während der ganzen Belagerung: In den frühen Morgenstunden des 16. August hatte ein verwundeter Soldat, der in einem der Kellerräume an der Westseite des Alcázar lag, zu schreien begonnen. Halb im Delirium sagte er, er habe das Geräusch eines riesengroßen Insekts gehört, welches tief in der Erde scharre.

Einige Stunden später untersuchte Leutnant Barber mit einem von der Krankenstation entliehenen Stethoskop sorgfältig die Pflastersteine und die Wände des Westkellers. Er konnte deutlich ein pneumatisches Bohren und polternde Geräusche hören, die wie kleine Dynamitexplosionen klangen.

Zuerst dachte er, daß die Republikaner das Kopfsteinpflaster in der Stadt aufrissen, um Barrikaden zu bauen, oder daß sie alte Brunnen öffneten, da die Wasserleitungen schon lange unterbrochen waren. Aber je länger er lauschte, desto mehr begriff er, daß die Geräusche nur eine Bedeutung haben konnten: Die Republikaner gruben einen Schacht zum Alcázar.

Die Tunnel-Idee war einer Frau, Margarita Nelken, gekommen, einer sozialistischen Abgeordneten der Cortes. Als es nicht gelungen war, den Alcázar auszuhungern, telegraphierte sie an 25 asturische Bergleute: »Ich brauche euch. Wir müssen den Alcázar in die Luft sprengen.«

Die Asturier fürchteten, die Nationalisten könnten einen einzelnen Tunnel zerstören, daher entschlossen sie sich, zwei parallel laufende zu graben. Einer sollte unter dem Südwestturm enden, der andere unter der Westmauer, ungefähr 15 Meter weiter nördlich. Sobald die Tunnel die Mauern des Alcázar erreichten, wollten die Asturier Hohlräume anlegen, diese mit mehreren Tonnen TNT füllen und dann die Explosion auslösen.

Als Hauptmann Vela und Leutnant Barber glaubten, den Tunneleingang entdeckt zu haben, kroch ein »Todeskommando« aus freiwilligen Falangisten unter Leitung von Vela am 19. August um 23 Uhr aus den Fenstern in der Nähe der Wageneinfahrt. Am Fuße des Abhangs schlichen sie durch verlassene Wohnungen, bis sie das Haus erreichten, in dem sie den Tunnel vermuteten.

Sie begossen es schnell mit Benzin und zogen sich zurück, während Hauptmann Vela zwei Handgranaten zusammenband und sie durch ein Fenster warf. Zurück im Alcázar, berichteten sie, daß das Haus zerstört sei. Moscardó brachte eine der letzten Flaschen Champagner aus dem Vorrat der Akademie, um auf das Wohl des »Todeskommandos« zu trinken.

Aber am nächsten Morgen fing der

phantasierende Soldat wieder an zu toben. Unteroffizier Rodriguez Caridad und Leutnant Barber gingen mit Oberst Moscardó in den Keller, wo sie das alte Geräusch hörten: Sie hatten das falsche Haus zerstört. Im Alcázar war allen bewußt, daß sie bald auf einem Vulkan sitzen würden.

Vom 19. August an setzten die Republikaner die schweren 155-Millimeter -Geschütze ein. Während der nächsten zehn Tage explodierten über 300 Geschosse in der Nähe des Haupttors, bis der Eingang völlig unter herabgefallenem Mauerwerk begraben war. Auf der Nord-Terrasse reichte ein riesengroßer Schutthügel bis zu den Fenstern des

zweiten Geschosses und fiel dann schräg ab in den Hof. Hier war ein ausgezeichneter Weg tür einen Panzerangriff bereitet.

Auch der Druck auf den Gobierno wurde stärker; fast jeden Tag und jede Nacht gab es jetzt Benzin-Angriffe, und Geschütze bombardierten täglich das Gebäude. Im Inneren war es bereits völlig zerstört.

Während des Abendessens am 22. August machte ein Scharfschütze im Südwestturm ein Flugzeug aus. Es flog so niedrig auf den Alcázar zu, daß es aussah, als würde es fast die Dächer berühren. Bevor der Posten noch dem diensthabenden Offizier Bescheid geben konnte, brauste die Maschine donnernd in knapp 30 Meter Höhe über das Gebäude. Große Behälter wurden herausgeworfen; sie zerschellten, aber explodierten nicht.

Als das Flugzeug Sekunden später über die von Republikanern besetzte Festung San Servando flog, warf es Bomben ab. Obwohl sie nicht trafen, lösten die Explosionen im Alcázar großen Jubel aus. Jedermann brüllte: »Unsere Flugzeuge sind gekommen!« Die Männer umarmten sich und schlugen einander auf die Schultern, rannten durch die Korridore und Keller und schrien »Viva«, bis sie heiser waren.

Die vier abgeworfenen Aluminiumbehälter waren zwischen der Wageneinfahrt und der Ost-Esplanade heruntergefallen. Wie reife Melonen waren sie aufgeplatzt, und Büchsenmilch, Sardinen, Schinken, Konserven und Kakao kamen zum Vorschein. Hauptmann Cuartero bahnte sich einen Weg durch die aufgeregte Menge, um die Lebensmittel in die Vorratskammer zu holen.

In einem der Aluminiumkoffer, der in eine rotgelbe monarchistische Flagge gehüllt war, befand sich ein Brief. Mit zitternden Lippen und feuchten Augen las ihn Moscardó vor: »Der General der Armee von Afrika und dem Süden. Unsere Armee grüßt die tapferen Verteidiger des Alcázar! Wir sind im Anmarsch; wir werden euch erlösen. In der Zwischenzeit leistet Widerstand. Bis dahin werden wir euch nur wenig helfen können. Unsere Kolohnen sind auf dem Vormarsch, sie überwinden alle Hindernisse und brechen den Widerstand. Viva Espana! Lang leben die tapferen Verteidiger des Alcázar! General Fr. Franco Bahamonde; den 22. August 1936.«

Diese vage Botschaft schlug ein wie ein Blitz. Die Offiziere weinten. Die Nachricht drang in den Hof, in die Treppenhäuser und hinunter in die erdrückenden Gefilde der Keller. Der Brief wurde im Hof angeschlagen, damit alle ihn lesen, bewundern und anfassen konnten. Alle waren von einem einzigen Gedanken beseelt: »Wir sind gerettet!«

Es machte gar nichts, daß Francos Armee erst bei Trujillo stand, 240 Kilometer südwestlich von Toledo. Es machte auch nichts, daß sie mit jedem Kilometer, den sie sich Madrid näherte, auf stärkeren Widerstand stieß. Wenn sie nur lange genug aushielten, würde Franco sie retten.

Das spanische Wort für Fliege heißt mosca. Unter Anspielung auf Moscardós Namen nannten die Republikaner die Verteidiger des Alcázar »Fliegen«. Dieser Spitzname traf bald auf schauerliche Art und Weise zu:

Millionen Fliegen wurden vom Schmutz und Gestank der Akademie angezogen. Kastilische Hitze hatte den Abfall. de& aus den Fenstern der Festung geworfen wurde, geschmort, und schon die geringste Brise brachte den giftigen Geruch in jeden Teil der Stadt. Um festzustellen, wo der Alcázar lag, brauchte man keine Augen.

Mitte August setzten die Republikaner auf dem Zocodover eine neue, ungewöhnlich starke Waffe ein, die bald am meisten gefürchtet war: einen Lautsprecherwagen, der außerhalb der Reichweite der Alcázar-Gewehre parkte.

»Faschisten!« plärrte der Verstärker. »Was habt ihr heute gegessen? Pferde? Was trinkt ihr? Pferdepisse? Euer Freund. Unteroffizier de Ancos, wartet jetzt auf euch auf dem Zocodover mit Krügen voller kaltem Bier. Wir haben Filetsteak und Schinken und frisches Brot. Warum kommt ihr noch nicht zu uns herüber? Ihr habt keinen Tabak? Schade. Wir werden euch gleich etwas vorrauchen.« (Eine 155-Millimeter-Granate explodierte daraufhin im Alcázar.)

Eine noch größere Tortur war der persönliche Spott. »Ventas, he, Ventas!

Lebst du noch? Du bist ein dreckiger Feigling, daß du dich da oben versteckst, Ventas. Wenn du nur wüßtest, was wir für eine schöne Zeit mit deiner Frau und deinen Töchtern hatten - bevor, wir sie erschossen!«

Nach sechs Wochen Belagerung füllten sich die Klassenzimmer mit Dreck. In den Fensternischen lagen knöcheltief leere Patronenhülsen.

In ihrer Freizeit bastelten viele nach einer Zeichnung von Major Méndez Parada Granaten. Am besten war es, wenn man in zwei Türknöpfe Dynamit tat und sie mit Bindfaden oder Hanf zusammenband. Mit einer Zündschnur zum Detonieren gebracht, erwiesen sie sich als eine tödliche Waffe - manchmal auch für den Hersteller selbst.

Uniformen und Schuhe waren staubig, verschwitzt und abgenutzt. Die Hosen sahen aus wie Flickenteppiche, die Schuhe wurden mit Bindfäden zusammengehalten. Zivilgardisten an der Westseite beschafften sich exotische

Uniformen aus dem Akademie-Museum. Für einen republikanischen Scharfschützen muß es ein seltsames Erlebnis gewesen sein, die Waffe auf eine düstere Figur zu richten, die eine Husarenuniform aus der Zeit Napoleons trug und einen Eisenhelm, wie ihn vielleicht Karl V. selbst getragen haben mochte.

Niemand war sich der Lage im Alcázar besser bewußt als die Mediziner. Für Einsätze im Kampf waren sie unzureichend ausgebildet, und ihre wenigen medizinischen Instrumente stammten aus der Akademie-Krankenstation. Früher hatte Oberarzt Dr. Manuel Pelayo schwerkranke Kadetten nach Madrid zur Behandlung geschickt. Jetzt assistierte ihm Dr. Pelayo Lozano, ein Dermatologe.

Lozano operierte. Er bereitete sich auf Operationen vor, von denen er noch nie etwas gesehen hatte, indem er in der Bibliothek Bücher studierte. Nach seiner ersten Amputation sah er so blutig aus wie ein Schlachterlehrling, seine Hände zitterten.

Nachdem er jedoch fünf Beine und vier Arme abgeschnitten hatte, fühlte er sich schon als erfahrener Chirurg. Er rühmte sich, daß keiner der von ihm Amputierten gestorben sei, solange er bei ihm in Behandlung war (mindestens zwei starben im Krankenhaus von Toledo, nachdem die Belagerung zu Ende war).

Der dritte Arzt, Dr. Daniel Ortega, war Augenarzt, und er bekam Übung darin, bei Verwundeten Metallstücke zu entfernen.

Das Lazarett hatte ursprünglich 18 Feldbetten. Diese Anzahl wurde verdoppelt, dann verdreifacht, und schließlich überfluteten die Verwundeten die Kellerräume. Sobald ein Patient gehen konnte, wurde ihm das Bett weggenommen. Beinamputierte wurden gesegnet und bekamen ein Paar Besenstiele als Krücken.

Im Laufe der Belagerung wurden die Vorräte an Medikamenten knapp, besonders Chloroform, das einzige Anästhetikum aus der Akademie-Apotheke. Die Ärzte gingen sparsam damit um und hoben es für die ernstesten Fälle auf.

Wenn Geschosse oder Splitter nicht zu tief saßen, wurden sie mit mittelalterlichen Methoden herausgezogen: Der Patient bekam einen Stein oder einen Fetzen, um draufzubeißen, während die Zangen sondierten.

Der Rokoko-Schreibtisch eines Professors diente als Operationstisch. Nach jeder Operation wischte der Pfleger das Blut mit einem Scheuerlappen auf, um Wasser zu sparen.

Während der letzten Wochen der Belagerung wurde fast im Dunkeln operiert, da die Öllampen nur sehr spärliches Licht verbreiteten und die oberen Räume wegen des unausgesetzten Beschusses nicht benutzt werden konnten. Als die Operationssäge durchbrach, mußte sich Dr. Lozano vom Küchenchef für jede Operation die Fleischsäge ausleihen und anschließend wieder der Küche zurückgeben.

Unter dem pausenlosen Artilleriefeuer zerbrach der Alcázar in Stücke wie ein nasser Zuckerwürfel. Nach dem Einsturz der nördlichen Mauer konzentrierten sich die republikanischen Artilleristen am 2. September auf den Nordostturm, in der Hoffnung, daß er auf den Innenhof stürzen würde.

Am Abend des 4. September stand die Miliz dichtgedrängt auf den Dächern der umliegenden Häuser und wartete darauf, daß der riesige Turm umfiel. Es dauerte nicht lange. Von einigen weiteren 155-Millimeter-Granaten getroffen, löste sich der Turm von der Mauer und stürzte auf die etwa 30 Meter tiefer liegende Esplanade.

Der Aufschlag war in ganz Toledo zu hören. Die Glocken wurden geläutet, und ein Begeisterungssturm brach aus, weil der Mythos von der Unzerstörbarkeit des Alcázar mit dem stürzenden Turm verschwunden war. In den Kellern des Alcázar erzitterte der Boden wie bei einem Erdbeben, aber es kam nicht zum Einsturz.

Minuten später eröffnete die Miliz ein vernichtendes Feuer auf die nach der Zerstörung des Turmes freiliegenden oberen Stockwerke. Die feindliche Artillerie konnte nun die Ostseite Raum

für Raum zerstören. Die vier Türme hatten - wie Tischbeine einen Tisch - die Mauern zusammengehalten. Nachdem nun ein Turm eingestürzt war, hatte die Festung ihren Halt verloren.

Immer deutlicher war im Alcázar inzwischen zu hören, wie die Republikaner den Tunnel vorantrieben. Nach Meinung von Leutnant Barber wurde der Sprengstoff so gelegt, daß die Mauern nach innen stürzen und den Alcázar zum großen Teil unter Trümmern begraben sollten.

Nach Schätzungen des Leutnants brauchten die Tunnelbauer, die jetzt auf Fels gestoßen waren, noch acht Tage, bis sie die Mauern der Festung erreichten, und außerdem noch ein oder zwei Tage, um den Sprengstoff anzubringen.

Die Versorgungslage wurde untragbar. Statt zweideutiger Witze war Hauptgesprächsthema der Soldaten jetzt das Essen. Moscardó war entsetzt, als er entdeckte, daß einige Gardisten nachts die Ost-Esplanade nach Pferdeknochen abgesucht hatten. Andere waren in die Akademie -Apotheke eingedrungen und hatten aus dem Medikamentenvorrat jede Tablette, die nach Zucker schmeckte, verschlungen. Glücklicherweise wurde niemand vergiftet.

Einer der Offiziere ging offen auf Oberst Moscardó zu und forderte, daß man ihm mehr zu essen gebe. Der Oberst griff in seine Tasche, zog einen 50-Peseten-Schein heraus und sagte: Hier, nimm das. Geh los und kauf dir etwas, wenn du willst. Es ist das einzige, was ich für dich tun kann.«

Die republikanische Artillerie hatte nun auch den Nordwestturm vier Tage lang unter Beschuß genommen. Man stellte allein 272 Einschläge von 155 -Millimeter-Geschossen fest. Am 8. September geriet der Turm ins Wanken und stürzte mit riesigem Getöse westwärts auf die Cuesta del Alcázar. In ganz Toledo verkündeten Autohupen den Einsturz des zweiten Turmes. Die Verteidiger bereiteten sich auf einen Infanterie-Angriff vor. Aber er kam nicht.

Um halb elf am Abend des 8. September unterbrach von den Ruinen an der Plaza de Capuchinos her ein Megaphon jäh die Stille: »Akademie! El comandante Rojo möchte entweder mit Oberst Moscardó oder mit Hauptmann Alamán sprechen.«

Die Offiziere im Alcázar waren verdutzt. Die meisten von ihnen kannten Major Vicente Rojo, einen früheren Professor für Militärgeschichte an der Akademie, persönlich. Weithin als der beste Militärstratege der Armee anerkannt, war Rojo aus dem Blickfeld verschwunden, als der Aufstand ausbrach.

»Ich habe eine dringende Mitteilung von der Regierung«, rief Rojo. »Sind Sie damit einverstanden, daß wir morgen früh um neun Uhr die Waffen eine Stunde lang ruhen lassen, so daß ich den Alcázar betreten kann?«

In den nächsten fünf Minuten, als Moscardó sich mit seinem Stab beriet, herrschte vollkommene Stille. Dann antwortete er: »In Ordnung. Sie können kommen.«

Am 9. September um neun Uhr morgens kündigte das Megaphon die Ankunft Major Rojos an. Einen Augenblick später trat eine in blaue Galahosen gekleidete Person mit gelbbrauner Feldmütze aus dem mit Einschlägen übersäten Durchgang zur Plaza de Capuchinos.

Die Offiziere des Alcázar verbanden Rojo die Augen und führten ihn durch das Tor der Wageneinfahrt, das dann wieder geschlossen und verriegelt wurde. Jeder in der Festung war angewiesen, während Rojos Besuch absolute Stille zu wahren, damit er sich kein Bild über ihren Zustand machen oder ihre Zahl abschätzen könne.

Rojo muß sich amüsiert haben, als man versuchte, ihn zu verwirren, indem man ihn mehrmals im Kreise drehte und erst dann zum Raum des Kommandanten führte; er kannte ja die Akademie genauso gut wie sie selbst. Mehrmals hielt er sich ungewollt die Nase zu, aber er wußte sich zu beherrschen.

Am Ziel angekommen, hörte er leises Flüstern. Als ihm die Binde vom Gesicht genommen wurde, sah er sich einem hochgewachsenen, kaum mehr zu erkennenden Oberst gegenüber, der steif vor ihm stand und ihn fest anblickte.

Als er Moscardó schließlich erkannte, ging Rojo einige Schritte auf ihn zu und wollte ihm die Hand reichen. Moscardó wandte sich jedoch abrupt ab. Der Oberst forderte alle Offiziere außer Leutnant Barber auf, den Raum zu verlassen.

Ohne weitere Umschweife erklärte Rojo: »Ich bringe ein Dokument vom Verteidigungskomitee von Toledo.« Er händigte Moscardó ein maschinenbeschriebenes Papier aus. Moscardó gestikulierte beim Lesen mit den Händen und bewegte die Lippen, während Leutnant Barber über seine Schulter sah.

Als er das Dokument mit den Kapitulationsbedingungen gelesen hatte, gab Moscardó es verächtlich an Leutnant Barber weiter. Dann sagte er zu Rojo: »Mag der Alcázar ein Friedhof werden, zu einem Misthaufen lassen wir ihn nicht machen.«

Am Tisch des Kommandanten sitzend, schrieb Moscardó auf ein Stück Papier: »Angesichts der vom Komitee unterbreiteten Kapitulationsbedingungen habe ich die große Freude, Ihnen mitteilen zu können, daß wir alle, vom kleinsten Soldaten bis zum Kommandanten, diese Bedingungen zurückweisen und gewillt sind, den Alcázar und die Würde Spaniens bis ans Ende zu verteidigen.« Er erhob sich, übergab Rojo dieses Papier und ging zur Tür.

Rojo fragte ihn, ob er irgend etwas für ihn tun könne. »Ja«, erwiderte Moscardó. »Sie können uns einen Priester schicken. Sonst wollen wir nichts von Ihnen.« Dann verließ er den Raum.

Bevor man ihm wieder die Augen verband, schüttete Rojo den Inhalt seines Tabakbeutels auf den Tisch und sagte: »Das ist das beste Andenken, das ich Ihnen geben kann.« Dann rief er plötzlich wie ein Soldat, der einem republikanischen Exekutionskommando gegenübersteht: »Viva Espana!«

Welches Spanien meinte Rojo? Major Pilar und Hauptmann Alamán führten ihn zurück zum Tor. Bevor das Tor geöffnet und ihm die Binde wieder von den Augen genommen wurde, sagte Rojo leise zu Hauptmann Alamán: »Um Gottes willen, sucht weiter nach den Tunnels.«

Rojo übergab die Antwort Moscardós, an den republikanischen Major Barceló und sagte einfach: »Sie haben abgelehnt.«

»Aber die Frauen und Kinder ...?« fragte Barceló.

»Einer von ihnen sagte zu mir: 'Unsere Familien werden mit uns untergehen. Wenn wir könnten, würden wir die ganze Welt mit uns in den Tod nehmen!«

Der Vorsitzende des Verteidigungskomitees von Toledo griff ärgerlich zum Telephon: »Die Artilleriebatterien? Hier spricht Major Barceló. Nehmen Sie den Alcázar Tag und Nacht unter Beschuß, lassen Sie ihn in die Luft gehen! Hören Sie erst auf, wenn kein Stein mehr zu sehen ist, der größer ist als mein kleiner Finger.

Um Viertel vor elf machten die republikanischen Geschütze der Stille in Toledo ein plötzliches Ende. Gleichzeitig gebar im Alcázar die Frau eines Kadetten ihr erstes Kind auf einem Tisch im Arbeitsraum des Elektrikers.

Wie Leutnant Barber vorhergesagt hatte, waren die Republikaner mit ihren beiden Stollen am 14. September bis zur westlichen Mauer des Alcázar gekommen. Kurz nach Tagesanbruch schwiegen die Kompressoren, und ein noch erschreckenderes Geräusch setzte ein - das Geräusch von Schaufeln, die direkt unter ihnen gruben. Damit die Grabenden ihre Position nicht genau erkennen konnten, ordnete Barber an, im südwestlichen Teil des Gebäudes absolute Stille zu bewahren.

So gut wie möglich lokalisierte Barber dann die Lage der beiden unterirdischen Tunnelenden und markierte die Gefahrenzone mit Stacheldraht. Es wurde allen untersagt, sich dort aufzuhalten.

In der Nacht vom 16. zum 17. September schaffte man 40 Säcke Weizen aus dem Lagerhaus heran. Da niemand mehr genügend Kraft hatte, die hundert Kilo schweren Säcke in den Alcázar zu tragen, wurde der Weizen in Kopfkissenbezüge umgefüllt. Denselben Männern, die noch vor sechs Wochen die Weizensäcke gehoben hatten, fiel es nun schwer, ein Viertel des Gewichtes zu tragen. Ein großer Teil des Weizens wurde im Gobierno gelagert, von dem aus die Verteidigung fortgesetzt werden sollte, falls der Alcázar durch die Sprengung zerstört oder von der Miliz besetzt würde.

Wie Moscardó, so hatte auch Major Barceló nicht übersehen, daß der Krieg am 17. September genau zwei Monate andauerte. Fünf Tonnen TNT-Sprengstoff lagen bereits in den zwei Schächten unter der Westmauer. Und Barceló war fest entschlossen, den dritten Monat des Krieges mit der vollständigen Zerstörung des Alcázar einzuleiten.

Eine Stunde vor Mitternacht ließ er die Stadt evakuieren. Die milicianos liefen von Haus zu Haus, klopften an die Türen und riefen: »Toledo geht bald in die Luft! Verlaßt schnell die Stadt!« Barceló wußte zwar, daß der größte Teil der Stadt durch die Explosion nicht gefährdet wurde, er benutzte diese List jedoch, um noch verborgene Nationalisten aus ihren Verstecken zu scheuchen.

In Schlagzeilen bereiteten die Zeitungen in der ganzen Welt ihre Leser auf die Explosion vor. In Madrid feilschten Presseleute um noch fahrbereite Autos, die sie nach Toledo bringen konnten. Am Abend des 17. September drängten sich Scharen von Journalisten, Kameraleuten, Regierungsbeamten und Sensationslustigen durch die Straßen von Toledo. Um 6.30 Uhr am nächsten Morgen sollte die Explosion durch einen Knopfdruck im Rathaus ausgelöst werden. 2500 Mann standen bereit, um dann die Ruine zu stürmen.

Am 18. September, um sechs Uhr morgens, setzte das Gewehrfeuer plötzlich aus; den Presseleuten wurde gesagt, daß die Milizsoldaten jetzt ihre Barrikaden verlassen und sich in sichere Stellungen zurückziehen würden. Die »Fliegen« waren nun ganz allein.

Es war totenstill; die Journalisten wurden nervös. Sie verglichen ihre Uhren, schauten immer wieder nach der Zeit und knurrten vor sich hin. Zehn Minuten vergingen, aber es geschah nichts. Die Hand am Auslöser ihrer Kameras, begannen die Filmleute zu fluchen. Sie verschwendeten ihren Film, aber sie wagten nicht, die Kamera zu stoppen, in der Furcht, den Augenblick zu verpassen.

Um 6.31 Uhr explodierte der Alcázar vor ihren Augen. Eine riesige schwarze Wolke stieg auf. Sekunden später fühlten die Presseleute, wie der Boden unter ihren Füßen bebte, und hörten das Geräusch der Explosion.

Der südwestliche Turm schoß empor wie eine Rakete, schwebte kurz in der Luft und stürzte dann nieder. Ein außerhalb des Tores parkender Lastwagen werde 150 Meter hoch geschleudert; der Motorblock landete im Hof eines fast einen Kilometer entfernten Hauses und grub sich dort tief in den Boden.

Einige Sekunden nach der Explosion verschwand Toledo aus dem Blickfeld: Wie flüssige Lava bedeckte eine schwarze Rauchwolke die Stadt. Das Geräusch der Explosion konnte man noch in den Vororten von Madrid, 65 Kilometer entfernt, hören.

Im Alcázar hatte man die Explosion mehr gefühlt als gehört. Dias Gebäude bebte, als ob die Mauern auseinanderbrechen würden, die Menschen stürzten übereinander, und schwarzer Qualm und Staub legte sich auf alle Kellerräume. Es Wurde so dunkel, daß viele glaubten, lebendig begraben zu sein.

Aber die Mauern und Decken im Norden, Osten und Süden hielten, und in diesen Teilen der Festung hatten fast alle Bewohner Zuflucht genommen. Den halberstickten Hustenanfällen folgten die schrillen Schreie der Frauen und Kinder. Diese Geräusche aber gaben Mut - denn Tote konnten nicht schreien.

Verwirrt liefen die Männer umher und suchten nach Lebenszeichen von ihren Familien. Nachdem sich der Qualm verzogen hatte, folgte der Panik großer Jubel: Die Minen waren detoniert - aber sie selbst lebten! Ein wahrer Begeisterungstaumel setzte ein. Man tanzte und fiel sich in die Arme.

Es vergingen einige Minuten, bevor die Offiziere wieder zur Besinnung kamen und durch die Menge schrien: »Alle Mann nach oben! Die Roten kommen! Auf eure Posten!«

Über drei, Stunden lang versuchten die Republikaner, die Festung von allen Seiten zu erstürmen. Aber immer wieder scheiterten sie sowohl an der Wachsamkeit der Verteidiger wie an den herabgestürzten Trümmern, die ihnen den Weg versperrten. Um 10.20 Uhr war Republikanern wie Nationalisten klar, daß der massive Angriff fehlgeschlagen war. Der Alcázar hatte sich nicht ergeben.

Nun setzte wieder der Beschuß mit 155-Millimeter-Geschützen auf die Ostmauern ein. Das war den Offizieren fast willkommen, denn es zeigte ihnen, daß der Feind sein Scheitern erkannt hatte. Jeder der 272 Einschläge, die am 18. September den Alcázar trafen, war ein Beweis für die Ohnmacht des republikanischen Kommandostabs.

Im Alcázar waren nur fünf Männer durch die Explosion getötet worden. Insgesamt hatte der Angriff am 18. September die Belagerten 13 Tote und 59 Verwundete gekostet.

Die Bewohner des Alcázar wußten nicht, daß die Armee von Afrika inzwischen die republikanischen Linien bei dem 40 Kilometer nordwestlich von Toledo gelegenen Dorf Maqueda durchstoßen hatte und damit an der wichtigsten Verteidigungslinie angekommen war, die General Franco noch von seinem Hauptziel, Madrid, trennte.

Franco stand vor einer schweren Entscheidung: Sollte er versuchen, den Alcázar zu befreien? Nationalistische Piloten hatten ihm berichtet, daß die Akademie kaum noch zu erkennen und wohl auch nie mehr zu verwenden sei; die Garnison schien jeden Moment zu fallen. Francos Berater drängten ihn, direkt nach Madrid vorzustoßen und den Krieg in einem Zug zu beenden.

Franco beauftragte jedoch General Jose Varela, sofort mit einer Kolonne der spanischen Fremdenlegion und der maurischen Truppe nach Toledo vorzustoßen. »Sind Sie sich klar darüber, General«, fragte Oberst Alfredo Kindelán, der Kommandant seiner Luftwaffe, »daß Toledo Sie Madrid kosten kann?«

»Ich weiß es. Ich habe lange über die Folgen meiner Entscheidung nachgedacht«, erwiderte Franco. In den nächsten zweieinhalb Jahren hatte der General sicherlich noch verschiedentlich Gelegenheit, über die Folgen seiner Entscheidung nachzudenken: Erst 1939 konnte er in Madrid einmarschieren.

Diese letzte Periode des Wartens war für die Menschen im Alcázar beinahe unerträglich. Einige Männer waren, so erschöpft und ausgemergelt, daß ihnen

alles gleichgültig erschien. Nach dem letzten Angriff vom 23. September waren Disziplin und Selbstkontrolle vollständig zusammengebrochen. Zehn Wochen der Belagerung hatten die Körper ausgezehrt und den Willen zerstört.

Die Soldaten in den oberen Räumen weigerten sich, nach unten zu kommen, um ihre Lebensmittelzuteilung in Empfang zu nehmen. Es war zu schwierig und gefährlich, wieder hinaufzuklettern.

Die Fremdenlegion und die Mauren näherten sich Toledo vom Norden und Westen. Es wurde Zeit für die Republikaner, nach Osten abzuziehen. Nach zehnwöchiger Belagerung waren aus Jägern Gejagte geworden.

Als die Geschütze der Nationalisten die Diputación unter Beschuß nahmen, erhielten die Leute im Alcázar den ersten Beweis, daß die rettenden Kolonnen nicht mehr fern waren. Die selbstgenähte nationalistische rotgelbe Fahne wurde herausgeholt und gehißt.

General Varela, ein Sportsmann, der mit weichen Glacéhandschuhen und einem Jagdanzug aus Wildleder in den Kampf gezogen war, entschloß sich, einen Wettbewerb zwischen den Mauren und der Legion zu veranstalten, wer zuerst den Alcázar erreichte.

Wettbewerbe waren nach dem Geschmack der Legionäre: Zu ihrem Zeitvertreib gehörte es, herauszufinden, wer das größte Stück Glas schlucken könne. Aber wenn es darum ging, die feindlichen Linien zu durchstoßen, waren die Mauren unübertroffen.

Während sich die Bewohner des Alcázar an die Fenster drängten, erklommen die ersten Befreier die Nord -Terrasse. Sie bellten wie Terrier - das war der Kampfschrei der Mauren.

»Wer ist dort?« rief Hauptmann Angel Frejo. »Spanier«, war die Antwort. »Schießt nicht, wir sind Freunde.« »Wer seid ihr?« wollte Hauptmann Frejo wissen. »Wir sind die Truppen von Tetuán.«

Die Verteidiger wurden von einem wahren Delirium ergriffen. Die Soldaten krochen aus ihren Deckungen und stolperten den Abhang hinunter den Mauren entgegen.

Es war Sonntag, der 27. September, 6.40 Uhr.

* »The Siege of the Alcázar«; Random House, New York; 244 Seiten; 4,95 Dollar.

** Neben Soldaten der Armee und Zivilisten kämpften im Alcázar 690 Mann der Guardia Civil, einer kasernierten Gendarmerie.

Alcázar-Hauptmann Vela bei der Kriegserklärung: »Die Chancen, durchzukommen ...

... stehen eins zu hundert": Alcázar von Toledo

Guardia Civil nach Ausbruch des Bürgerkrieges: Ausfall in der Siesta

Alcázar-Kommandant Moscardó

»Mein Sohn, ich küsse dich«

Republikanische Alcázar-Belagerer: »Zehn Minuten Bedenkzeit«

Nationalisten-General Mola

Der Bote der Festung ...

Gefälschte Siegesmeldung der Republikaner

... wurde erschossen

Scharfschützen vor dem Alcázar: Angriff mit Benzinschlauch

Rote Milizionärin

Die Wochenschau war eingeladen

Marokkanische Artilleristen beim Schwarzhandel*: Wettbewerb vor der Befreiung.

Alcázar-Bewohnerin*

Putz als Puder

Alcázar-Bekämpferin: »Wir werden euch gleich etwas vorrauchen«

Gesprengter Alcázar: Mit einem Stethoskop ...

... die Pflastersteine abgehorcht: Alcázar-Verteidiger im Hof*

Befreiter Moscardó, Befreier Franco im Alcázar: Die Soldaten der Entsatzarmee ...

Moscardó-Zimmer im Alcázar*

... bellten wie Terrier

* Mit Franco vorrückende maurische Artilleristen trieben in den Kampfpausen Handel mit Marketenderwaren.

* Die Frau trägt nach der Befreiung geschenkte Lebensmittel nach Hause.

* Kurz vor der Befreiung beim Anflug von Franco-Fliegern.

Cecil D. Eby
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