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Carstens: Die Vergangenheit kommt wieder

Schon beim ersten Staatsbesuch, den Karl Carstens als Gastgeber zu bestehen hatte, zeigte sich, welche Peinlichkeiten der neue Bundespräsident zu gewärtigen hat: Der italienische Präsident und einstige antifaschistische Widerstandskämpfer Sandro Pertini brüskierte den ehemaligen NSDAP-Mann in aller Öffentlichkeit.
aus DER SPIEGEL 39/1979

Italiens Staatspräsident Sandro Pertini, für seine charakterfeste Gradlinigkeit gerühmt, blieb sich auch beim Staatsbesuch in Bonn treu. Der italienische Sozialist, einst antifaschistischer Widerstandskämpfer, mochte nicht in Anwesenheit des früheren NSDAP-Mitgliedes Karl Carstens seines 1945 im bayrischen Konzentrationslager Flossenbürg erschossenen Bruders Eugenio gedenken.

Dabei hatte der Bundespräsident besonders guten Willen zeigen wollen und seine Begleitung angeboten. Er sei bereit, so ließ Carstens die Italiener wissen, sich für Pertini über das Bonner Protokoll hinwegzusetzen. Denn nach Bonner Etikette ist es unüblich, daß der Präsident mitreist, wenn ein Staatsgast Abstecher in die Bundesländer macht.

Pertini winkte ab. Seine Abneigung gegen die Carstens-Begleitung begründete der Staatsgast aus Rom am Tag seiner Ankunft sogar öffentlich. »Nach Flossenbürg gehe ich privat«, sagte er in einem Interview, das die »Welt« am vergangenen Dienstag druckte: »Ich möchte nicht den Bundespräsidenten in eine peinliche Lage bringen, wenn er mich dorthin begleiten müßte.«

Der Hieb mußte um so schärfer schmerzen, als der Italiener sich im selben Atemzug mit einer Begleitung durch Bayerns Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, einen Unionspolitiker ohne NS-Vergangenheit, einverstanden erklärte. »Strauß ... hat mich wissen lassen, daß er an meiner Seite sein möchte, und ich weiß das sehr zu schätzen.«

So zeigte sich schon beim ersten Staatsbesuch, den Carstens zu bestehen hatte, welche Peinlichkeiten der fünfte Bundespräsident in seiner Amtszeit gewärtigen muß. Karl Carstens wird seine Vergangenheit nicht los.

Kaum hatte er das »Welt«-Interview gelesen, versammelte der Präsident am Dienstagvormittag engste Mitarbeiter zum Krisenrat. Wie sollte er reagieren, was schien angemessen?

Die Runde entschied, den Affront zu überspielen. Letzten Freitag hieß es, der Italiener habe seinen Gastgeber wohl nicht in protokollarische Verlegenheit bringen wollen.

Doch Carstens war zu tief getroffen, um auch gegenüber dem römischen Staatsgast zu schweigen. Gleich beim ersten vertraulichen Gespräch hielt er ihm das Interview in der »Welt« vor. Leider könne er, so Carstens, nur »mit fast allem« einverstanden sein, was Pertini dort gesagt habe.

Der 82jährige, längst informiert, welchen Ärger sein offenes Wort ausgelöst hatte, wich aus: Er habe das Interview gar nicht mehr gelesen. Er wisse nicht genau, was er gesagt habe, wie es übersetzt worden sei. Im übrigen, so flocht Pertini elegant ein, gebe es im Italienischen das Wortspiel von den »traduttori e traditori«, vom geringen Unterschied zwischen »Übersetzern und Verfälschern«.

Doch zurück nahm er nichts. Der römische Korrespondent der »Welt«, Friedrich Meichsner, betonte dem SPIEGEL gegenüber, er habe das Interview wortgetreu wiedergegeben.

Das Verhältnis zwischen dem »antifaschistischen Widerstandskämpfer und einem, der kein solcher war« ("Süddeutsche Zeitung"), blieb gespannt.

Beim Festbankett auf Schloß Brühl etwa würdigte Pertini »das andere Deutschland«, das »der Tyrannei und ihren Verbrechen Widerstand leistete«. Carstens wiederum formulierte in seinem Toast neutral, Pertini habe im KZ den Bruder »verloren«.

Da sprach aus Karl Carstens der deutsche Rechtsprofessor: Schließlich war der in Flossenbürg erschossene Eugenio Pertini ja Partisan gewesen und unter das strenge Kriegsrecht gefallen.

Die italienischen Journalisten, so schrieb die »Süddeutsche Zeitung«, hätten bei einem Pressegespräch auf »freche« Fragen an Carstens wohl nur deshalb verzichtet, weil sie sich »irgendwie durch ihre Gastrolle gehemmt« fühlten.

Die Unstimmigkeiten beim Pertini-Besuch zerstörten die Hoffnungen der Mannschaft in der Bonner Villa Hammerschmidt, daß mit der Wahl in das höchste Staatsamt die voraufgegangene ärgerliche Diskussion um die Vergangenheit ein Ende habe. »Wir sehen jetzt«, bekennt ein Carstens-Berater, »vieles von dem, was damals aufgewirbelt wurde, hat sich noch nicht abgesetzt.«

Anlaß zu solcher Einsicht gab es schon vorher -- etwa beim Bonn-Besuch des niederländischen Außenministers Christoph van der Klaauw im August. Auf Empfehlung des Auswärtigen Amts ersuchte Carstens seinen Gast, Holland möge doch die beiden letzten deutschen Kriegsverbrecher aus dem Gefängnis von Breda entlassen.

Die Reaktion in den Niederlanden war heftig. Parlamentarier quer durch die Fraktionen kritisierten, daß ausgerechnet das ehemalige NSDAP-Mitglied Carstens diese Bitte vorgetragen habe. »Taktlos«? rügten sogar Hollands Christdemokraten.

Auch mit seiner Fernseh-Ansprache zum Gedenken an den 1. September 1939 geriet Carstens ins Feuer: Den deutschen Überfall auf Polen ließ er in der eigenhändig redigierten Rede unerwähnt -- der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geriet zum gleichsam unabwendbaren Naturereignis, für das kaum jemand verantwortlich gemacht werden kann. Originalton Carstens: »Heute vor 40 Jahren begann der 2. Weltkrieg. In Europa dauerte er fünf Jahre und acht Monate. Er brachte über 55 Millionen Menschen den gewaltsamen Tod, stürzte Deutschland in den Abgrund einer militärischen und politischen Niederlage, zerstörte das deutsche Ansehen in der Welt.« »Eine solche Gedenkrede war schon lange nicht mehr zu hören aus solchem Anlaß«, schrieb die Hamburger »Zeit": »Sie schweigt, wo Sprechen sich gebietet.«

Daß vom Polen-Überfall nicht die Rede war, sei gute Absicht gewesen, rechtfertigte letzte Woche ein Carstens-Mitarbeiter. Der Präsident hätte sonst sagen müssen, daß auch die Russen zu jener Zeit in Polen eingefallen seien, und dies habe er aus Rücksicht auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen nicht tun wollen.

Solche Zurückhaltung scheint plausibel. Denn ausgerechnet der Ostblock hat den Präsidenten bislang überaus schonend behandelt. DDR-Staatsratsvorsitzender Erich Honecker war unter den ersten, die Carstens nach seiner Wahl ein Glückwunschtelegramm schickten, was ihm der Bonner in seiner Antrittsrede dankte. Im Ostblock, so ein Carstens-Mann, seien »eben Realpolitiker an der Macht«.

In langen Gesprächen mit seinem engsten Vertrauten, Staatssekretär Hans Neusel, hat der Präsident unterdessen darüber nachgedacht, wie er auf Vorwürfe wegen seiner NS-Vergangenheit reagieren solle.

Die beiden kamen zu der Erkenntnis, der Präsident müsse sich ohne Schuldkomplex zeigen, seinen Überzeugungen treu bleiben und dürfe sich nicht plötzlich anders darstellen als vor seiner Wahl. Demutsgesten, glaubt Carstens, könne er sich nicht leisten: Sie würden nur die Angriffe gegen ihn nachträglich noch rechtfertigen.

Ob die Art, wie Franz Josef Strauß letzte Woche mit dem Staatsgast aus Rom umsprang, für Carstens nachahmenswert ist, scheint freilich zweifelhaft.

Pertini hatte im Zweiten Deutschen Fernsehen auf einen »sehr freundlichen, sehr höflichen Brief« verwiesen, in dem ihm Strauß die Begleitung ins KZ Flossenbürg angeboten habe. Der Bayer ließ dementieren: Er beabsichtige nicht, mit nach Flossenbürg zu gehen, und einen Brief gebe es auch nicht. Ein Sprecher der Münchner Staatskanzlei: »Da hat sich Herr Pertini offenbar geirrt.«

Als sogar die konservative »Frankfurter Allgemeine Zeitung« das Benehmen des bayrischen Ministerpräsidenten kritisierte ("Die Begleitung hätte dem Bild von Franz Josef Strauß in Italien gutgetan"), schaltete der CSU-Chef schnell wieder um. Weil der italienische Präsident offensichtlich großen Wert auf die Anwesenheit von Strauß lege, so die Staatskanzlei, fahre der Regierungschef doch mit nach Flossenbürg.

Strauß über das Opfer, das er dabei bringt: »Dann gehe ich eben nicht aufs Oktoberfest, wie ich?s vorhatte.«

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