»Carter wird ein großer Präsident«
»Barnum and Bailey« und die »Ringling Brothers« hatten als letzte gastiert. An den Pforten zur Arena des Madison Square Garden hingen noch vereinzelt die Hinweisschilder: »Circus Tickets here«.
Vorige Woche aber hielt ein Mammut-Zirkus dort Einzug. Alle waren dabei: politische und Society-Prominenz, Tausendschaften von Journalisten und dazu das ganze Volk am Bildschirm. Es gab die denkwürdigste Nummer seit langem zu bestaunen: einen Parteitag der Liebe und Einheit, die »Convention 1976« der traditionell zerstrittenen amerikanischen Demokraten.
Gekrönt wurde James Earl ("Jimmy") Carter, 51, Ex-Gouverneur von Georgia, vor fünf Monaten noch ein Mr. Nobody, jetzt -- als erster seit den Tagen des amerikanischen Bürgerkriegs nominierter Präsidentschaftskandidat des Südens -- die Symbolfigur für eine »endgültige Wiedervereinigung von Nord und Süd« (Hubert Humphrey).
Angeführt von den heimlichen Bossen der Familie, Carter-Mutter »Miß Lillian«, 78, und Carter-Tochter Amy, 8, waren Clan (Ehefrau Rosalynn, Bruder Billy, Söhne, ein Enkel, Vettern, Cousinen, Schwiegermutter, Schwiegertöchter, Tanten) und Stab aus Georgia in 250 Zimmer der Nobelherberge »Americana sowie drei weiteren Hotels New Yorks eingefallen.
In einem Dutzend anderer Top-Hotels übernahmen Kleinstadt und Provinz das Kommando: Knapp 5000 Delegierte und Ersatzleute plus Familien. Sie alle sorgten für ein Love-in, wie es weder die Partei noch die Bürger der Metropole hatten erhoffen können.
Delegierte aus der Provinz, die vor Antritt ihrer Reise aus Angst vor Raub und Überfall die Kreditkarten gut versteckt, die Geldbörsen verzurrt oder wie Gloria Borland aus Hawaii Karate-Kurse in Erwägung gezogen hatten, stürzten sich bald in Vergnügen wie Chinatown, Central Park, U-Bahn oder Off-Broadway und fanden New York schließlich unisono »einfach wunderbar«. Und die eingesessenen New Yorker, sonst skeptisch gegenüber dem ganzen Rest von Amerika, fanden die Provinzler plötzlich -- so der Barkeeper im »Belmont Plaza« -- durchaus »amüsant«, auch wenn sie nur nach Milch verlangten.
Die stärkste Zerreißprobe für die Delegierten sah die »New York Times« darin, daß sie »ertragen müssen, sich vier Tage lang im Garten Eden gegenseitig anzugrinsen.
In diesem Paradies bedurfte es keiner Schlagstöcke und Tränengasbomben wie 1968 in Chicago, die Delegierten gingen nicht wild aufeinander los wie 1972 in Miami Beach. Sogar die militanten Feministinnen wurden zahm: Statt für die Convention 1980 eine ihrem Bevölkerungsanteil (52,3 Prozent) entsprechende Repräsentation zu »verlangen«, wurde sie nur noch »befürwortet«.
Männer wie Frauen, Schwarze wie Weiße, Delegierte aus dem Norden wie aus dem Süden jubelten geschlossen der farbigen Kongreßabgeordneten Barbara Jordan, 40, aus Texas zu, die sich mit einer zündenden Rede selbst als Beweis für die neue Einheit der Partei präsentierte.
Die gelernte Juristin, die sich 1973 als Mitglied des Justizausschusses nach dem Urteil eines Insiders so leidenschaftlich für ein Impeachment Nixons eingesetzt hatte, »als öffneten sich die Pforten des Himmels«, erwies sich im Madison Square Garden als charismatisches, ganz der Integration verpflichtetes Parteimitglied. Ihre Rede schloß sie mit einem Zitat des berühmtesten Republikaners Abraham Lincoln: »So wie ich kein Sklave sein will, will ich kein Herr sein.
Friede als Programm, programmierter Friede, das war die Nacht, in der Jimmy Carter von der überwältigenden Mehrheit der Delegierten den Auftrag bekam, das Weiße Haus nach acht Jahren Nixon und Ford für die Demokraten zurückzuerobern.
Als am Mittwoch um 23.16 Uhr beim »roll call«. dem Stimmabruf der einzelnen Delegationen, Ohios Vertretung den Kandidaten aus dem Süden über das Soll von 1505 Stimmen brachte, rührte sich im donnernden Applaus. Hurra und »Happy Days Are Here Again« keine Hand in der 280 Mann starken Abordnung aus Kalifornien. 19 Minuten später aber -- der kalifornische Carter-Rivale Jerry Brown jr. hatte soeben seine Stimmen an den Sieger abgetreten -- ging über den Sonnenstaatlern das Supertransparent auf: »Kalifornien jetzt 100prozentig für Carter«.
»Auf dieses Erlebnis. auf diesen Augenblick«, seufzte Carters Wahlkampf-Direktor Hamilton ("Kam") Jordan, 31. »haben wir vier lange, harte, wunderbare Jahre gewartet.«
Es war nicht nur ein Sieg Jimmy Carters, es war der Triumph des Südens, der über ein Jahrhundert lang von den Yankees des Nordens verlacht worden war, dem man -- so langsam nur vernarben die Wunden des Bürgerkriegs -- oben an der Ostküste stets Rückständigkeit, Trägheit und Dummheit attestiert hatte.
Und es war ein Triumph des Staates Georgia. besser, jener kleinen Schar Verschworener, die vor nunmehr vier Jahren beschlossen hatten, ihren Jimmy zum 39. Präsidenten der USA zu machen -- sie alle damals ebenso unerfahren und unbekannt wie der Kandidat selbst.
»H am« Jordan, inzwischen als genialer politischer Macher gefeiert, war einer von ihnen. Als Student ohne große Pläne und Ambitionen hatte er Jimmy Carter 1966 zum erstenmal erlebt. »Es war eine sehr schlechte Rede«. erinnerte er sich später. Der Mann aber sagte ihm dennoch zu. denn »eines kam durch: seine Aufrichtigkeit«. Ham verfaßte das Drehbuch, das Jimmy Carter den Weg von den Erdnußfeldern Georgias zur Salbung im Madison Square Garden wies.
Charles Kirbo, 59, der sich selbst als »alten Mann in der Carter-Bewegung« bezeichnet, lernte Carter 1962 kennen. als dieser für einen Sitz im Senat von Georgia kandidierte -- und mit einem Rückstand von 139 Stimmen verloren zu haben schien. Dem Staranwalt Charles Kirbo gelang der Nachweis. daß bei der Auszählung gemogelt worden war.
Seither fällt Carter kaum eine wichtige Entscheidung, ohne zuvor »Charlie« zu konsultieren. Ihn beauftragte er auch mit der delikaten Aufgabe, die Kandidaten für die Vizepräsidentschaft zu interviewen, sie über Gesundheit. Steuermoral und Privatleben ins Kreuzverhör zu nehmen.
»Wenn Jimmy mal etwas zu Kopf steigen sollte«, sagte Carters Medienberater Rafshoon, »wäre Kirbo der erste. der ihm den Kopf wieder zurechtsetzen würde.«
Rafshoon, 42, vermarktet seinen Chef seit nunmehr zehn Jahren. Als der »New York Times«-Zar James Reston klagte, Jimmy Carter vernachlässige die jungen Intellektuellen in Harvard, konterte Rafshoon: »Es gibt einen Haufen guter Leute in Harvard. Aber wir haben auch gute Leute in Atlanta«, der Hauptstadt von Georgia.
Dazu gehört Jody Powell, 32, der Pressechef. Er hatte eine Karriere hei der Luftwaffe beenden müssen, weil er in einer Geschichtsprüfung beim Schummeln ertappt worden war. Er half Carter zunächst als Fahrer, Laufbursche, Sekretär und schließlich Berater.
Zum »Kreis« zählt auch Patrick Caddell, der hauseigene Demoskop, der nebenbei noch für ein Honorar zwischen 50000 und 100 000 Dollar im Jahr Hintergrundberichte über die USA für die Regierung von Saudi-Arabien anfertigt.
Insgesamt ist Carters engster Mitarbeiterstab kaum ein Dutzend Mann stark -- genug, um die Sensation des Wahljahres 1976 zu vollbringen und den Erdnußfarmer zum neuen Idol der Nation emporzuhieven, gegen den Widerstand der Funktionäre in Partei und Gewerkschaften, gegen die Opposition von einem Dutzend zum Teil durchaus prominenter Konkurrenten.
Carter ist Profi genug, um zu wissen. daß er in den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, anders als in den Primaries, auf die alte Garde und auf die Hilfe der Partei nicht verzichten kann. So durfte Theodore Sorensen. einer der brillanten Schreiber für John F. Kennedy, bereits an Carters Antrittsrede mitformulieren.
Mit der Nominierung des liberalen Senators und Hubert-Humphrey-Protegés Walter ("Fritz") Mondale zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft baute er schließlich den bislang eher skeptischen Liberalen der Partei eine Brücke, damit sie sich um Carter scharen können. Der strahlend blauäugige Jurist Mondale, 47. aus dem mittleren Westen -- sein Vater, ein Methodistenprediger, stammt aus Norwegen -- hat vor allem einen untadeligen Charakter, aber wenig rhetorisches Talent. Noch zu Jahresanfang war er nur für drei Prozent der Amerikaner ein Begriff.
Für ihn hatte sich der Sieger von New York allerdings erst im vierten Anlauf und in letzter Minute entschieden, beraten nur von seinem Detektiv Charlie Kirbo und seiner Ehefrau Rosalynn.
In Carters Heimatdorf Plains in Georgia mußten die Anwärter auf den zweiten Platz ihre Aufwartung machen und sich mit ihren Frauen vom Ehepaar Carter begutachten lassen. Zunächst sprach man zu viert miteinander, dann Damen und Herren getrennt. Und abends, vor dem Gute-Nacht-Gebet, tauschten Jimmy Carter und Frau Rosalynn ihre Eindrücke aus.
Rosalynn, seit 30 Jahren mit ihrem Jimmy verheiratet, rückte in den vergangenen Monaten als selbständige Wahlkämpferin und Beraterin des Kandidaten nach vorn. »Jimmy«, berichtet Presse-Powell, »gibt viel auf ihr Urteil.« Sie entwickelte bereits Pläne für das Leben im Weißen Haus. Als First Lady will sie sich vor allem um geistig Behinderte kümmern.
Ein Punkt in ihrer Planung ist allerdings noch offen: Wird es in einem Carter-White-House, ebenso wie einst im Amtssitz des Gouverneurs Jimmy Carter. keinen Alkohol geben?
Siegesbewußt, eine »Jimmy Carter« -- Plakette am Busen. hauchte sie: »Ich bin überzeugt, er wird ein großer Präsident.« Die Konvents-Delegierten waren am Ende davon überzeugt: »Wir sind«, verabschiedete Parteichef Robert Strauss das Publikum, »eine sehr glückliche Partei.«
Gewählt wird am 2. November.