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CDU/CSU-Wähler: Gorbatschow besser als Kohl

SPIEGEL-Umfragen in Moskau und in der Bundesrepublik über Perestroika, über Russen und Deutsche
aus DER SPIEGEL 23/1989

In ihren Pässen haben die einen den Adler, die anderen Hammer und Sichel.

Den einen geht's gold mit gut 2000 Mark netto pro Monat, den anderen mit 230 Rubel eher schlecht als recht.

Von Deutschen und Russen ist die Rede, genauer gesagt: von den Bürgern der Bundesrepublik und der Sowjet-Union.

Die einen könnten sich von heute auf morgen mit Zentnern von Zucker eindecken, wenn ihnen danach wäre. Den anderen werden in Moskau und andernorts zwei Kilo pro Kopf und Monat zugeteilt, ganz gleich, ob im Herbst Marmelade gekocht oder zu anderen Jahreszeiten nur Tee gesüßt und Kuchen gebacken werden soll.

Für die jeweilige Kommunistische Partei und deren Kandidaten entschieden sich bei den Wahlen in den vergangenen Jahren 0,2 oder 0,3 Prozent der Bundesbürger und zwischen 99,47 und 99,94 Prozent der Sowjetbürger.

Unter den Rentnern hüben und drüben ist die Quote derjenigen relativ hoch, die schon mal den Boden des anderen Landes betreten haben.

Die einen kamen als Soldaten Hitlers bis kurz vor Moskau und bis nach Stalingrad, die anderen als Soldaten Stalins nach Berlin und bis an die Elbe.

Die einen hinterließen zwischen Bug und Wolga 20 Millionen fremde und zwei Millionen eigene Tote. Die anderen säten neuen Haß, als sie sich zu Zehntausenden als Besatzungssoldaten in Siegerlaune deutsche Frauen, Fahrräder und Uhren griffen.

Heute sind die Bewohner der damaligen Ostzone für die einen die getrennten, für die anderen die sozialistischen Brüder, deren Staatsembleme - Hammer und Zirkel - den eigenen nachempfunden sind und die wie sie selbst viel zuwenig Waren in den Läden und viel zu viele Apparatschiks in den Büros haben.

Die Einstellung zur DDR, der Alltag und das politische System trennen die Westdeutschen und die Sowjetrussen. Aber in einigen wichtigen Punkten stimmen im Jahre 1989 die Bürger jener Bundesrepublik, die der sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow nächste Woche besucht, und dessen Landsleute daheim in Moskau in so hohem Maße überein, als lebten sie in ein und demselben Land.

»Mit der Politik Gorbatschows einverstanden« sind fast gleich große Mehrheiten dort wie hier, entweder ohne Einschränkung oder zumindest »teils, teils«. Und nur je 2 Prozent mißbilligen den Kurs des Kremlchefs.

Das ergaben die erste SPIEGEL-Umfrage, die in der Sowjet-Union durchgeführt wurde, und eine weitere, die parallel dazu in der Bundesrepublik lief. Die eine Umfrage ist repräsentativ für die Bewohner der sowjetischen Hauptstadt Moskau, die andere für alle Bundesbürger, jeweils von 18 Jahren an.

Vom Erfolg der Politik Gorbatschows, die mittlerweile fast allen Deutschen als »Perestroika« und »Glasnost« ein Begriff ist, sind die Bundesbürger sogar in größerer Zahl überzeugt als dessen eigene Landsleute (82 gegenüber 59 Prozent). Daß er irgendwann scheitert, nehmen hier wie dort je 17 Prozent an. Während nahezu alle Befragten in Deutschland diese Frage beantworteten, konnte oder wollte sich in Moskau jeder vierte dazu nicht äußern.

Die an den beiden SPIEGEL-Umfragen beteiligten Bundes- und Sowjetbürger fühlen sich so eng verbunden, als hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben und als stünden nicht hüben und drüben die Raketen abschußbereit auf den Rampen.

58 Prozent der Befragten in der Bundesrepublik empfinden »große Sympathie« oder »Wohlwollen« für die Sowjetmenschen, 56 Prozent der in Moskau Befragten haben die gleiche Einstellung zu den Deutschen im kapitalistischen Westen. »Mißtrauen« ist auf 17 und 19 Prozent, »Feindseligkeit« auf 1 und 2 Prozent beschränkt.

Das sind noch längst nicht alle Gemeinsamkeiten. Das Interesse für das jeweilige andere Land ist etwa gleich groß, die Furcht vor dem Militär der Gegenseite etwa gleich gering. Und auch darüber, daß es kein zweites Afghanistan und kein zweites Tschernobyl in Ost oder West, keinen neuen Stalin und keinen neuen Hitler geben dürfe, sind sich die allermeisten einig.

In Moskau setzte das Institut für Soziologie, das zur Akademie der Wissenschaften gehört, junge Wissenschaftler und Studenten an Telephone, um 1000 Männer und Frauen zu befragen. Das Bielefelder Emnid-Institut schickte seine Interviewer in 2000 Wohnungen zwischen Flensburg und Passau.

Es war ein Joint-venture sowjetischer und deutscher Wissenschaftler, die gemeinsam die Fragebögen entwarfen und die Ergebnisse werteten. Das Moskauer Team leitete Elena Baschkirowa, die Moskauer Meinungsforscherin mit den größten Auslandserfahrungen. Für das Bielefelder Team war Klaus-Peter Schöppner verantwortlich, der bei Emnid seit Jahren die SPIEGEL-Umfragen betreut.

Durchgängiges Ergebnis beider Umfragen ist ein Gorbatschow-Effekt, der ohne Beispiel in der Geschichte der Demoskopie ist. Noch kein Politiker hat in Ost und West die Einstellungen und Empfindungen derart verändert, seit die einschlägigen Institute sie abfragen und beziffern.

Der Mann, der die Perestroika eine Revolution nennt und sich damit selbstbewußt ein welthistorisches Ziel gesetzt hat, hat in der Bundesrepublik einen Meinungsumschwung bewirkt, der den Durchschnittsdeutschen vom antisowjetischen Saulus zum prosowjetischen Paulus werden ließ.

»Wie denken Sie ganz allgemein über die Sowjet-Union?« fragte Emnid im November 1983 und nun wieder, fünfeinhalb Jahre später. Damals sagten 13 Prozent, sie hätten eine »gute« oder »sehr gute« Meinung, heute sind es 73 Prozent. Eine »schlechte« oder »sehr schlechte« Meinung hatten damals 67, haben heute 26 Prozent.

Die Mehrheit wechselte auch bei den Antworten auf die Frage nach dem militärpolitischen Ziel der Sowjet-Union. Noch vor knapp drei Jahren nahmen 62, heute nehmen nur noch 30 Prozent an, sie strebe eine Überlegenheit über den Westen an. Umgekehrt stieg die Zahl derer, die ein Gleichgewicht für das Ziel Moskaus halten, von 34 auf 64 Prozent.

Für die meisten Bundesbürger ist Gorbatschow der Größte unter den Großen dieser Welt. Auf einer Skala mit Werten von +5 bis -5 steht er mit +2,2 Punkten einsam an der Spitze, viel höher als der Franzose Mitterrand (+1,1), der Amerikaner Bush (+0,7) oder die Britin Thatcher (+0,5). Und von zwei seiner kommunistischen Genossen hebt er sich ab, als komme er aus einer anderen und nicht aus derselben Welt: Der Pole Jaruzelski und der DDR-Deutsche Honecker stehen aus bundesdeutscher Sicht tief im Minus (-2,2 und -2,7).

So populär wie Gorbatschow heute waren auch in ihren besten Zeiten weder Kennedy noch de Gaulle, die beiden einzigen ausländischen Staatschefs, die Bundesbürger nachhaltig zu beeindrucken vermochten.

Dabei brauchten sie nicht, wie der Charismatiker aus dem Kreml, weit unter Null zu beginnen. Dessen Vorgänger Breschnew war für die Deutschen eine so negative Figur, wie es heute Jaruzelski und Honecker sind.

Zur Breschnew-Zeit überwogen die Antipathien gegen »die Russen«. Dank Gorbatschow sind sie heute den Bundesbürgern kaum weniger sympathisch als US-Amerikaner und die Deutschen in der DDR. Nur die Franzosen erfreuen sich deutlich stärkerer bundesdeutscher Zuneigung.

Erstaunlichstes Ergebnis der Emnid-Umfrage aber ist es, daß Gorbatschow den Bundesbürgern sympathischer ist als irgendein deutscher Politiker, ausgenommen lediglich Bundespräsident von Weizsäcker, der seinerseits populärer ist als alle seine Vorgänger.

Niedriger als Gorbatschow steht auf der Sympathie-Skala sogar Rita Süssmuth (mit +2,0 Punkten allerdings nur um 0,2 Punkte), die seit langem den Platz eins in der Reihe der 20 Politiker besetzt, nach denen Emnid zweimonatlich im Auftrag des SPIEGEL fragt.

Der Abstand zwischen dem Kreml-Chef und den anderen ist weit größer. Für Genscher ermittelte Emnid +1,4, für Vogel +0,8, für Brandt +0,7, für Lafontaine +0,6 Punkte. Und sogar unter Null liegen zwei Parteichefs, der Christdemokrat Kohl (-0,6) und der Kommunist Mies (-1,7).

Da mag mancher vermuten, Gorbatschow komme zugute, daß sein Bild nicht in der Parteien Haß und Gunst schwankt, während Bonner Politiker Sympathien meist nur von einem Teil der Bundesbürger, den Anhängern ihrer eigenen und befreundeter Parteien, erwarten dürfen.

Doch wer diesem Einwand nachgeht, stößt in den Tabellen auf Daten, die selbst Emnid-Experte Schöppner »überhaupt nicht erwartet hatte": Der Kremlchef ist sogar bei den CDU/CSU-Wählern so populär wie deren Spitzenmann (Kohl: +2,0, Gorbatschow +1,9 Punkte), er ist bei den SPD-Wählern populärer als deren eigene Genossen Brandt, Vogel und Lafontaine, bei den FDP-Wählern populärer als Genscher.

Als die Emnid-Interviewer ein Dutzend Eigenschafts-Paare präsentierten ("weitblickend« - »kurzsichtig« zum Beispiel) und der sowjetischen Nummer eins die guten oder die schlechten zugesprochen werden sollten (wie bei früheren Umfragen deutschen Politikern), ermittelte das Institut für ihn ein besseres Ergebnis als einst für Helmut Schmidt in dessen besten Kanzler-Zeiten.

Und Schmidt-Nachfolger Kohl kann nach bundesdeutscher Volksmeinung in keinem einzigen Punkt mit Gorbatschow mithalten. Grundgedanke aller Bundesdeutschen: Er ist einfach besser.

Da denken die CDU/CSU-Wähler nicht anders als die Anhänger anderer Parteien, auch für sie steht, wenn es um Eigenschaften und Qualitäten geht, Gorbatschow vor Kohl.

95 Prozent der CDU/CSU-Wähler halten Gorbatschow für weitblickend, 94 Prozent für ideenreich, 95 Prozent für fleißig. Die entsprechenden Werte für Kohl: 58, 46 und 81 Prozent.

Die meisten Bundesbürger sehen in Gorbatschow die Hoffnung verkörpert, daß es - wider alle Erfahrung in viereinhalb Nachkriegs-Jahrzehnten - doch noch gelingt, den Frieden zu sichern, ohne die Gegenseite zu schrecken.

Für Gorbatschows Landsleute geht es nicht nur darum. Die meisten Sowjetmenschen hoffen darauf, daß dieser Kremlchef anders als alle seine Vorgänger sie von bedrückenden Alltagsnöten befreit und ein »russisches Wunder« (so eine in Moskau populäre Losung) in dem Sinne vollbringt, daß die Sowjet-Union kein politisch und wirtschaftlich rückständiges Land bleibt, sondern das Entwicklungstempo drastisch erhöht und zu westlichen Staaten aufschließt.

Sollte Gorbatschow dieses Ziel verfehlen, so würde aus der Weltmacht ein »isoliertes Randgebiet der Welt« (so einer der 31 Autoren des informativen Sammelbandes »Es gibt keine Alternative zu Perestroika«, herausgegeben von Jurij Afanasjew).

Noch hat Gorbatschow mit wirtschaftlichen Reformen kaum begonnen und sich im wesentlichen auf einen politischen Kurswechsel beschränkt. Die Moskauer SPIEGEL-Umfrage vermittelt ein eindrucksvolles Bild, in welchem Maße sich das neue Denken in der Moskauer Bevölkerung schon durchgesetzt hat, gleichermaßen bei der Abrechnung mit der Vergangenheit wie hinsichtlich der Vorstellungen darüber, wie sich die Sowjet-Union in Zukunft wandeln soll.

Gefragt wurde nach dem 1938 zum Tode verurteilten und hingerichteten Bucharin und nach dem 1940 auf Befehl Stalins in Mexiko ermordeten Trotzki, nach Stalin selbst sowie nach den Gorbatschow-Vorgängern Chruschtschow und Breschnew.

Während Bucharin, den Lenin einst den »Liebling der Partei« genannt und den Stalin als »Lakaien der Faschisten« beschimpft hatte, 1988 parteiamtlich rehabilitiert worden ist, gilt Trotzki offiziell noch immer als Unperson. Stalins Haßtiraden werden nicht wiederholt, aber auch nicht widerrufen.

Ergebnis der Frage nach den fünf KP-Führern: Bucharin ist weitaus der populärste, über ihn hat jeder zweite Moskauer eine positive Meinung, über Chruschtschow jeder dritte, über Trotzki jeder fünfte, über Stalin jeder zehnte und über Breschnew jeder 20.

Und was die Zukunft angeht, so bejahen Mehrheiten zwischen 62 und 95 Prozent die Forderungen, die entweder partiell schon realisiert werden oder die von der Partei im Prinzip bereits gutgeheißen wurden. Dazu gehören die Aufstellung mehrerer Kandidaten bei Wahlen, die Wahl von Betriebsleitern durch die Belegschaft und die »Erweiterung der Rechte von nationalen Minderheiten«. Da hat Gorbatschow die Bevölkerung der Metropole auf seiner Seite.

Aber es gibt auch Mehrheiten, die ihn in Schwierigkeiten bringen können, wenn sie darauf drängen, andere Forderungen zu verwirklichen. 48 Prozent der Moskauer Befragten bejahen, nur 28 Prozent verneinen eine Forderung, zu der sich die Partei bislang nicht offiziell geäußert hat: deren von Lenin etablierte und 70 Jahre lang nie in Frage gestellte Alleinherrschaft zu beenden und ein Mehrparteiensystem einzuführen.

Jakowlew, Gorbatschows engster Vertrauter im Politbüro, hat über diese Forderung gescherzt: »Wissen Sie, wir Russen sind chaotisch und anarchisch, wenn wir das zulassen würden, gäbe es im Nu eine Million Parteien, und nichts käme dabei heraus.« Ein anderer Politbüro-Genosse, der für Ideologie verantwortliche Medwedew, hat die Frage immerhin für diskutabel erklärt.

Die SPIEGEL-Umfrage enthält eine Zahl, die für die Parteispitze noch alarmierender sein muß als das Gesamtergebnis: Die Genossen der Parteibasis denken über diese Forderung genauso positiv wie die Parteilosen. 47 Prozent der Moskauer KP-Mitglieder sind mit einer Konkurrenz für ihre Partei einverstanden, nur 34 Prozent sind dagegen.

Als das Akademie-Institut (wahrscheinlich als erstes) fragte, ob die Wehrpflicht abgeschafft und eine Berufsarmee eingeführt werden soll, bildete sich geradezu spontan eine Mehrheit von 53 Prozent, die sich dafür aussprach (dagegen: 26 Prozent). Diese Forderung ist öffentlich bislang kaum erörtert worden. Und mindestens so gewichtig wie das Gesamtergebnis sind die Teilzahlen je nach dem Alter der Befragten. Zwar nur 34 Prozent der Befragten im Rentenalter, aber 67 Prozent der Moskauer unter 30 Jahren sind dafür, daß der Wehrdienst nicht mehr von allen jungen Männern, sondern nur noch von freiwilligen Profis geleistet wird.

Noch vor wenigen Jahren wäre in der Sowjet-Union an solche offenen Fragen und Antworten nicht zu denken gewesen.

Einige Jahre lang wird es allerdings keine für die gesamte Sowjet-Union repräsentative Umfrage geben können. Entweder müßten Meinungsforscher in dem Riesenland für einzelne Interviews Hunderte von Kilometern reisen, um auch entlegene Dörfer, etwa in Sibirien, zu erreichen. Oder aber das Telephonnetz müßte sehr viel dichter werden, als es derzeit ist. Die Zahl der Anschlüsse ist viel zu gering, fast nur von Moskau und Leningrad abgesehen.

Darüber, ob die Sowjetmenschen außerhalb Moskaus ähnlich denken wie die Hauptstädter, läßt sich nur spekulieren. Unterschiede wird es schon deshalb geben, weil die Moskauer besser mit Lebensmitteln versorgt werden, weil sie höher gebildet sind, weil sie sich politisch stärker engagieren, aber auch, weil es wegen der vielen Parteizentralen, Ministerien und anderen Dienststellen weit mehr Funktionäre gibt als anderswo.

Über die wirtschaftliche Misere des Landes dürften die Ansichten in etwa übereinstimmen, denn deren Folgen wirken sich auf die Arbeit und das Privatleben fast aller Sowjetmenschen aus. Dort, wo Versorgungs-Engpässe wesentlich häufiger entstehen als in Moskau, wird die Mißstimmung allerdings noch größer sein.

Sie ist auch in Moskau weit verbreitet, wie die Antworten auf die entsprechenden Fragen zeigen.

Die allgemeine wirtschaftliche Lage des Landes bezeichnen nur 6 Prozent als sehr gut oder gut, hingegen 61 Prozent als schlecht oder sehr schlecht.

Emnid ließ zum Vergleich die Deutschen die Lage in der Bundesrepublik einschätzen. Das Ergebnis war umgekehrt: 60 Prozent entschieden sich für sehr gut oder gut, 6 Prozent für schlecht oder sehr schlecht.

Als die Moskauer Befragten die Sowjet-Union mit den USA vergleichen sollten, erklärten mehr als 80 Prozent ihr eigenes Land hinsichtlich der Industrie, der Landwirtschaft und des Lebensstandards für unterlegen.

Mit der eigenen wirtschaftlichen Lage sind nur 16 Prozent, mit der Lebensmittelversorgung 18 Prozent zufrieden.

Die meisten Moskauer sind skeptisch, ob sich an all ihren Nöten viel ändert. Nur 28 Prozent erklärten, daß sich die materielle Lage ihrer Familie in den letzten Jahren verbessert habe, nur 27 Prozent vermuten, daß sie sich in den nächsten Jahren verbessern werde.

Die Unzufriedenheit bekommt schon ein Ziel: die Frage, ob die höheren Instanzen der Partei - nach sowjetischem Verständnis die Stadt- und Gebietsleitungen - ihre Aufgaben erfüllen, verneinten 46 Prozent, bejahten lediglich 35 Prozent der Befragten.

Und die Erinnerung an frühere Versuche, insbesondere Chruschtschows, die Dauermisere des Landes zu beseitigen, schwingt mit, wenn 76 Prozent der Moskauer Bevölkerung dem Statement zustimmen: »In der Vergangenheit wurde des öfteren schneller Wandel zum Besseren versprochen. Daher glauben viele an solche Versprechungen nicht mehr.«

Ein künftiger Konflikt zeichnet sich in den Antworten auf die Frage ab, was man davon halte, »daß staatliche Subventionen für Brot, Fleisch und einige andere Nahrungsmittel gekürzt oder gestrichen und die Preise dadurch erhöht werden«.

Die meisten Fachleute erklären dies für unumgänglich, weil Brot und andere Lebensmittel teurer produziert als verkauft werden und die dafür aufgewendeten Staats-Milliarden anderweitig gebraucht werden. Diskutiert wird, in welchem Maße den Familien mit niedrigem Einkommen ein Ausgleich für die höheren Preise gewährt werden kann.

Derzeit wird dieser brisante Weg zur Wirtschaftssanierung von 82 Prozent der Moskauer Bevölkerung abgelehnt.

Welches Risiko der Kremlchef eingeht, wenn er nicht bald mit durchgreifenden Wirtschaftsreformen beginnt, machen die Antworten auf eine weitere Frage massiv deutlich.

76 Prozent der Moskauer Befragten stimmten der Meinung zu: »Die Perestroika wird von der Bevölkerung nicht mehr unterstützt werden, wenn sich die Versorgungslage nicht verbessert.«

Mit dem radikalen Reformer Jelzin gibt es in Moskau einen Volkstribun, der die Massen mobilisieren kann. Wie überaus populär er in der Hauptstadt ist, zeigte sich, als das Akademie-Institut die Befragten bat, zwei oder drei Namen von Politikern zu nennen, die sie besonders schätzen.

Das Ergebnis: Zwar liegt Gorbatschow mit 72 Prozent weit vorn, aber ihm folgt Jelzin mit 56 Prozent.

Alle anderen Politiker wurden weit seltener genannt: Regierungschef Ryschkow von 30 Prozent, Außenminister Schewardnadse von 8 Prozent, andere Politiker von jeweils weniger als 1 Prozent.

Volksheld Jelzin scheint zum Kampf entschlossen zu sein. Vorige Woche ging er in seiner Kritik an Gorbatschow weiter als bislang irgendein anderer Spitzengenosse.

Vor dem Kongreß der Volksdeputierten nannte er die Wirtschaftslage im Lande »äußerst besorgniserregend«.

Und in einem Interview mit der »Washington Post« warf er dem Staats- und Parteichef »Unbeständigkeit, Unentschlossenheit, Halbherzigkeit und Empfänglichkeit für Druck von rechts« vor.

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