PROZESSE / CONTERGAN Chiffre K 17
Karin, 8, hat langes, blondes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz geknüpft trägt. Ihre Hände sitzen an den Schultern, das rechte Schulterblatt fehlt.
Sie schreibt und malt geschickt mit den Füßen. Besonders gern zeichnet sie Menschen (mit vollständigen Gliedmaßen). Als unlängst Capes für Mädchen Mode wurden, wünschte sie sich eines. Sie trägt es nun, auch wenn es draußen heiß ist.
Zweimal mußte Karin, der Schulter wegen, operiert werden. Der Vater, städtischer Angestellter mit mäßigem Einkommen, mußte ein Drittel der Kosten selbst tragen. Die Behörde meinte, der Großvater, selbständiger Bauer, könne dazu beitragen. Der aber weigerte sich: »Aus dem Elend wird doch nichts Rechtes. Das Kind gehört in eine Anstalt.«
Seit einem Jahr besucht Karin, begleitet von ihrer älteren, gesunden Schwester, eine städtische Volksschule. In der Schule hat sie schon jetzt ihre Schwester überflügelt.
Gretel, 8, liegt, wie ein großer Säugling, in einem Wäschekorb. Handstummel, den Schwimmflossen einer Robbe ähnlich, wachsen aus den Schultern, die Beine sind zu gebogenen Stummeln verkürzt. Beide Augäpfel waren mißgebildet und mußten entfernt werden. Das Kind ist, wie die Mediziner es umschreiben, »geistig schwerst-retardiert«. Kostspielige Versuche, dem Kind zu helfen, sind nicht nötig, weil keinerlei Erfolgsaussicht besteht.
Die Eltern, wohlsituierter Mittelstand, haben »unsere kleine Gretel« als Gottesfügung hingenommen. Der Wäschekorb, mit rosa Rüschen wie ein Babykörbchen dekoriert, steht mitten im Wohnzimmer, auch wenn Besuch kommt.
Christiane, 7, schiebt und lenkt ihren Puppenwagen mit der Brust; sie ißt und wäscht sich mit den Füßen. Beim Ringeireihen fassen die Nachbarkinder die beiden einzelnen Finger, die aus Christianes Schultern wachsen.
Mit den Stummeln kann Christiane sich beim Schaukeln festhalten und -- wenn auch noch mühsam -- pneumatische Armprothesen steuern. Die Kosten dafür (11 000 Mark) teilten sich Ortskrankenkasse und Sozialbehörde. Das Pflegegeld, das die Behörde seit Christianes drittem Lebensjahr an die Familie zahlt, wurde, seit ihr Vater Amtmann ist und etwas mehr verdient, von 75 auf 50 Mark gekürzt,
Christiane besucht seit Herbst vorigen Jahres eine Sonderschule für Körperbehinderte. Sie schreibt schon flott (mit den Füßen). Bei ihren Spielkameraden gilt sie als Rädelsführerin -- weil sie besonders kecke und pfiffige Streiche ausheckt.
Wie Karin, Gretel und Christiane leben 2625 Kinder (so viele jedenfalls sind von den Behörden registriert) in der Bundesrepublik. Einige von ihnen, etwa hundert, sind so schwer geschädigt, daß sie für immer werden in Helmen oder zu Hause im Zimmer leben müssen. Etwa tausend werden ihr Leben lang auf Prothesen, Rollstuhl und die tätige Mithilfe ihrer Umgebung angewiesen sein.
Aber auch sie leben, ebenso wie jene 1500 Kinder, die weniger stark, vielleicht nur an einem Finger oder an einem Ohr geschädigt sind, zumeist als wache, selbstbewußte, lachende und weinende Kinder, akzeptiert von ihren Spielkameraden, bereit und fähig, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen -- wenn er ihnen eingeräumt wird.
Viele von ihnen haben, als sie gehen und sich bewegen lernten, Sturzhelme tragen müssen. Mühsamer und gefährdeter als andere Kinder mußten sie üben, ihre verkümmerten oder künstliche Gliedmaßen zu beherrschen. Aber nun tollen sie mit ihren Armstummeln herum, purzeln sie, ihrer Gehbehinderung zum Trotz, ins Schwimmbecken wie ihre gesunden Altersgenossen. Einige hundert gehen schon zur Schule, etwa tausend werden im Laufe dieses Jahres eingeschult.
Sie teilen ihr Schicksal mit insgesamt etwa 200 000 Kindern, die körperlicher oder geistiger Behinde-
* Verteilung von Kindesmißbildungen in der Bundesrepublik; vor der Karte: Helmut Hering, Vorsitzender des Bundesverbandes der Eltern körpergeschädigter Kinder.
rungen wegen besondere Fürsorge brauchen -- einem Heer von Hilfsbedürftigen, das im westdeutschen Wohlfahrtsstaat das Grundrecht auf gleiche Lebenschancen und Menschenwürde bisher fast nur als Phrase erfuhr.
Und doch bilden die 2600 Kinder, von denen in diesen Tagen wieder die Rede ist, eine Schicksalsgemeinschaft. Sie sind Opfer eines katastrophalen Mißgeschicks, das in den gläsernen Retorten eines wissenschaftsgläubigen Jahrhunderts zusammengebraut wurde; Leidtragende eines geheimnisvollen Wirkungsmechanismus, der in einem zehntel Gramm einer weißen Substanz eingebaut war: in dem Schlafmittel Contergan.
310 Millionen Tagesportionen der Einschlaf-Droge sind in den Jahren 1957 bis 1961 verkauft worden. In massiven Werbekampagnen hatte die Herstellerfirma -- die »Chemie Grünenthal GmbH« in Stolberg bei Aachen -- Ärzten, Apotheken und Patienten suggeriert, das Mittel sei »atoxisch«, »gefahrlos«, »völlig ungiftig«. Contergan-Umsatz der Firma Grünenthal in den vier Jahren bis zum Produktionsstopp: 24 197 144 Mark.
Sieben Männer, die an Entdeckung, Herstellung und Vertrieb des »Jahrhundert-Schlafmittels« maßgeblich beteiligt waren, saßen auf der Anklagebank, als am Montag letzter Woche mit dem Versuch begonnen wurde, für die größte Arzneimittelkatastrophe der Geschichte Schuld und Schuldige zu suchen.
Nicht im Gerichtssaal saßen zwei Mitangeklagte, der Grünenthal-Inhaber Hermann Wirtz, 71, und der frühere wissenschaftliche Abteilungsleiter Dr. Heinz Wolfgang Kelling, 48. Ihre Verfahren waren kurz vor Prozeßbeginn wegen Krankheit abgetrennt worden.
So blieben übrig: der wissenschaftliche Leiter der Chemie Grünenthal, Diplom-Chemiker Dr. Heinrich Mückter, 53; der Geschäftsführer Jacob Chauvistré, 70; der kaufmännische Leiter Hermann Josef Leufgens, 56; der Prokurist und Vertriebsleiter Klaus Winandi, 54; der frühere wissenschaftliche Abteilungsleiter Dr. Gotthold Erich Werner, 44; der wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. Günther Sievers, 45; der Prokurist Dr. Hans Werner von Schrader-Beielstein, 48.
Die ihnen zur Last gelegten Delikte lauten im wesentlichen:
* fahrlässige Körperverletzung -- teils in Form von Nervenschäden, die bei Patienten nach der Einnahme von Contergan beobachtet wurden, teils durch die Mißbildungen während der Schwangerschaft;
* fahrlässige Tötung -- von Kindern, die infolge schwerer Contergan-Mißbildungen lebensunfähig waren;
* vorsätzliche Körperverletzung -- gleichfalls in Fällen von Nervenschädigungen durch Contergan;
* Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz -- nach dem es verboten ist, »Arzneimittel in den Verkehr zu bringen, die geeignet sind, bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hervorzurufen, die über ein ... vertretbares Mali hinausgehen ...«
Vor 100 Zuschauern und 200 Journalisten aus aller Welt begann im Kasino-Saal der. Grube »Anna« in Alsdorf bei Aachen einer der größten Strafprozesse in der Geschichte der deutschen Justiz. Voraussichtliche Dauer: ein bis zwei Jahre.
Drei Berufsrichter und zwei Schöffen sitzen zu Gericht. 14 Verteidiger der Angeklagten werden mit drei Vertretern der Staatsanwaltschaft und den bis zu zehn Vertretern der 300 bislang zugelassenen Nebenkläger ringen. 352 Zeugen, darunter 190 Mediziner, und außerdem 29 medizinische und pharmakologische Sachverständige (darunter 26 Professoren) hat allein die Staatsanwaltschaft benannt. Die Anklageschrift umfaßt 972 Seiten. Die Prozeßakten füllen 264 Leitz-Ordner: 750 000 Blatt Dokumente, Gutachten, Aussagen.
Aber der Monster-Prozeß in Alsdorf bei Aachen ist mehr als eine kafkaesk anmutende Rechts-Schlacht in papierenen Labyrinthen. Er ist das zur Schau gestellte Alibi einer Gesellschaft und eines Staates, die sich nicht fähig und nicht willens zeigten zu erfüllen, was ihr Teil gewesen wäre: eine von Menschen ausgelöste Katastrophe, deren Folgen überschaubar und deren Ursachen erkennbar waren, in gemeinschaftlicher Hilfe aufzufangen und ihre mögliche Wiederholung nach Kräften auszuschließen.
Neun Männer wurden angeklagt. Nicht angeklagt ist die Bereitschaft eines wissenschaftsgläubigen Zeitalters, Medikamente in Tonnen-Quantitäten zu konsumieren, obwohl die Wissenschaftler bei den meisten Medikamenten bis heute nicht wissen, auf welche Weise sie im menschlichen Organismus wirken.
Strafrechtlich kaum faßbar ist das Gewinnstreben eines überschießenden. unkontrollierten Unternehmertums, das mit massiver, unwahrhaftiger Werbung einen Massenbedarf für Drogen erst schafft und dann befriedigt, mit derselben Bedenkenlosigkeit, als seien es Herrensocken oder Plastikbadewannen; das Verkauf und Werbung unbekümmert fortsetzt, auch wenn Gefahren -- ernste Gesundheitsschäden -- sich schon abzeichnen; das nach wie vor, trotz einer Katastrophe, Arzneimittel-Kontrollen, die eine größere Sicherheit gewährleisten könnten, ablehnt und zu umgehen sucht.
Und nicht vor Gericht zu stellen ist eine Gesellschaft, die einem »nationalen Unglück« (Medizin-Journalist Friedrich Deich über die Contergan-Katastrophe) fast unbeteiligt zusah, sich von den Opfern abwandte und finanzielle Hilfe, wie sie nötig wäre, in Bürokratie und in den Elfersüchteleien monopolistischer Wohlfahrtsverbände sich verstricken ließ.
Maßstäbe dafür, wie Staat und Gesellschaft die Katastrophe hätten beantworten sollen, setzten andere, von Contergan-Folgen weit weniger betroffene Länder.
* In England konnte die Elternorganisation contergangeschädigter Kinder für ihre 350 Schützlinge in einem Jahr 3,3 Millionen Mark sammeln.
Als die deutsche Parallel-Organisation ("Contergankinder-Hilfswerk") im vorletzten Jahr 40 000 Bittbriefe an Industrie-Betriebe verschickte, kamen knapp 55 000 Mark ein. Und für das in München geplante Zentrum für gliedmaßengeschädigte Kinder -- geschätzte Kosten des »eingeschränkten« ersten Bauabschnitts: 3,6 Millionen Mark -- gingen zwischen 1963 und 1965 ganze 1000 Mark Spenden ein.
* In England wurde nach der Contergan-Affäre das sogenannte Dunlop-
* Hintere Reihe, v. l.: Schrader-Beielstein, Sievers, Werner, Winandi, Leufgens, Chauvistré.
** Benannt nach seinem Vorsitzenden, Sir Derrick Dunlop.
Committee ** gegründet, ein Gremium unabhängiger Wissenschaftler. Sie prüfen, ob neue Arzneimittel zur Erprobung an Menschen und eventuell für den Handel freigegeben werden sollen. Die britische Pharma-Industrie hat sich freiwillig dem Schiedsspruch dieser unabhängigen Wissenschaftler unterworfen.
In Deutschland entwickelten Pharmakologen und Ärzte gleichfalls, zwei und vier Jahre nach dem Contergan-Unglück, Richtlinien für die Erprobung und Prüfung neuer Medikamente. Aber keine dieser Richtlinien ist bis heute von der Pharma-Industrie als verbindlich akzeptiert worden. Auch die deutschen Wissenschaftler befürworteten eine unabhängige Schiedskommission über Arzneimittel -- aber sie wurde bis heute nicht gebildet. In Amerika, das von der Contergan-Tragödie weitgehend verschont blieb (das Mittel war dort nie frei im Handel), wurde trotzdem sogleich nach Bekanntwerden der Nebenwirkungen ein Untersuchungsausschuß des Senats gebildet. Präsident Kennedy appellierte an den Kongreß, den Bundesbehörden größere Vollmachten für die Arzneimittelprüfung zu erteilen. In Deutschland hingegen, wo die Schädigungen durch Contergan ungleich schwerer waren, geschah nichts dergleichen.
Die Welle der Contergan-Mißbildungen kam wie eine Naturkatastrophe über dieses Land. Als 1960 mehrere Städte in Chile durch eine Erdbeben-Serie verwüstet wurden, stiftete die Bundesregierung zehn Millionen Mark. Nach der Hamburger Flutkatastrophe von 1962 zahlten Bund und Land 100 Millionen Mark an die Geschädigten; 44 Millionen Mark Spenden gingen ein. Und das Hamburger Stadtparlament bildete einen Sonderausschuß, der Maßnahmen gegen eine Wiederholung des Unglücks traf.
Im Zusammenhang mit der Contergan-Katastrophe hat das Bundesgesundheitsministerium bisher insgesamt 11,5 Millionen Mark ausgegeben. Dieser Betrag kam teils dem -- ohnehin geplanten -- Ausbau von Fachkliniken, Helmen und Sonderschulen, teils der Entwicklung von Prothesen und anderen Hilfsmitteln zugute, nicht aber unmittelbar den Betroffenen.
Der Staat zeigte sich zum Improvisieren nicht bereit und zu vorsorglichem Handeln unfähig. Kein Abgeordneter in Bonn forderte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß, der unbürokratisch (und ohne Vorgriff auf mögliche Gerichtsverfahren) hätte klären können:
* Was kann und muß für die Opfer des Contergan-Unglücks getan werden? 4000 Kinder waren betroffen (jedes dritte von ihnen ist inzwischen, meist an den Folgen der Mißbildungen, gestorben. Es war überschaubar, was für sie -- durch orthopädische Behandlung, Prothesenversorgung, Ausbildung in Sonderschulen -- getan werden konnte und auch: daß es frühzeitig getan werden mußte, wenn die Hilfe sinnvoll sein sollte.
* Welche Sicherheitsvorkehrungen -- sei es durch Gesetz, sei es durch unabhängige Kontrollinstanzen -- müssen vorgesehen werden, um die Gefahr eines zweiten Contergan-Desasters zu verhindern? Ein Vorbild lieferte etwa der amerikanische Kefauver-Senatsausschuß*, der jahrelang den Mißständen in der amerikanischen Arzneimittel-Industrie nachspürte und entsprechende Empfehlungen gab.
Statt dessen verschanzte sich der Bonner Staat, was Hilfe für die betroffenen Familien anging, hinter dem (schon einige Monate vor Bekanntwerden der Contergan-Mißbildungen beschlossenen) Bundessozialhilfe-Gesetz, das die Opfer der Katastrophe in· die Rolle von Almosenempfängern und Bittstellern drängte.
Und die Frage, ob die tieferen Ursachen für das Contergan-Debakel nicht womöglich in einem allzu liberalen Unternehmerklima der deutschen Pharma-Industrie zu suchen seien, wurde gar nicht erst gestellt. Staat und Gesellschaft wichen der Frage aus. Die Justiz mußte ein weiteres Mal herhalten, die Schuld zu personalisieren, Schuldige namhaft zu machen und, falls strafrechtlich faßbar, zu bestrafen.
Daß die Justizmaschinerie dieses Alibi für die Gesellschaft nur schwerlich wird produzieren können, bewies schon die Vorgeschichte des Contergan-Prozesses. Sechseinhalb Jahre waren nötig, ihn in Gang zu bringen.
Wann immer Eltern gliedmaßengeschädigter Kinder, gedrängt von finanzieller Not, von der Herstellerfirma Grünenthal Entschädigung zu erklagen suchten, wurden sie hinhaltend beschieden: Erst müsse geklärt werden, ob sich die Firma im strafrechtlichen Sinne schuldig gemacht habe. Aber schon bei der Entscheidung, ob es zur Anklageerhebung reiche, sah sich die Aachener Staatsanwaltschaft den kniffligsten Problemen gegenüber.
Eine neue Form von Schuld und Verstrickung, scheint es, war da mit im Spiel, die sich mit herkömmlichen Rechtsnormen nicht fassen läßt -- eine Schuld, bei der die Taten einzelner Beteiligter oft nur den Stellenwert eines Atoms in einem Makrokosmos haben:
Der Werbetexter bei Grünenthal, der auf dem Beipackzettel für Contergan das Wort »ungiftig« durch Fettdruck hervorheben ließ; der Grünenthal-Wissenschaftler, der das Erscheinen einer kritischen Fachveröffentlichung über das Schlafmittel zu verhindern suchte; der Ärztebesucher, der die beunruhigten Apotheker »durch mein fröhliches Gelächter« (Grünenthal-Vertreter Freiberger in einem Tätigkeitsbericht) wieder von der Harmlosigkeit des Präparats überzeugte; aber wohl auch der Ministerialbeamte, der die schon beantragte Rezeptpflicht
* Benannt nach dem Vorsitzenden, dem US-Senator Estes Kefauver.
für Contergan verschleppte; der Klinik-Arzt, der sich durch ein entsprechendes Honorar zu unwissenschaftlich positivem Urteil zugunsten Grünenthals hinreißen ließ -- wo liegt hier welches Maß an Schuld?
Auch für die neun Männer in Aachen, die nun angeklagt sind, wird das Gericht solche Tatsplitter abwägen müssen, ans Licht gezogen aus einem schier unübersehbaren Wust von Geschäftsbriefen, Besprechungsprotokollen, Zeugenaussagen.
Aber noch im Vorfeld solcher Beweisaufnahme werden juristische Doktorfragen zu klären sein, deren Spitzfindigkeiten vor dem Hintergrund der durch Contergan verursachten Tragödie fast grotesk anmuten.
Zum einen: Das deutsche Strafrecht kennt -- außer der Abtreibung -- kein Delikt gegen ein ungeborenes Kind; der Embryo ist durch das geltende Strafrecht nicht geschützt.
Zum anderen: Die für den Juristen zwingend wichtige Frage nach dem Kausalzusammenhang« dem Konnex zwischen Ursache und Wirkung (hier: zwischen Einnahme des Medikaments und Nervenschäden beim Patienten beziehungsweise Mißbildungen eines Ungeborenen), verliert sich beim Fall Contergan im Nebel einer wissenschaftlichen Diskussion, die nach menschlichem Ermessen nie mehr wird eindeutig entschieden werden können. Auf welche Weise Thalidomid, der Wirkstoff des Contergans, im Organismus schwangerer Frauen zur Mißbildung der Frucht geführt hat, wird im dunkeln bleiben.
Kaum minder verworren ist die Rechtslage bei jenem anderen Komplex von Nebenwirkungen, dessentwegen die Staatsanwaltschaft meint, die Firma Grünenthal hätte das Schlafmittel Contergan schon viel früher, lange vor den ersten Meldungen über Kindes-Mißbildungen, aus dem Handel ziehen müssen: bei den Nervenschäden (Polyneuritiden), die bei erwachsenen Patienten nach Einnahme von Contergan auftraten.
Die ersten Berichte über solche Nebenwirkungen erreichten die Firma Grünenthal schon eineinhalb Jahre nachdem das Präparat in den Handel gebracht worden war. Und ihre Zahl stieg in den folgenden Jahren, entsprechend dem Contergan-Umsatz, rapide.
Die betroffenen Patienten klagten über »Kribbeln« und »Ameisenlaufen« in Zehen und Fingerspitzen, über schmerzhafte Wadenkrämpfe, brennende Schmerzen in den Füßen und nervöse Zuckungen, teils im Gesicht, teils am ganzen Körper. Einige Patienten litten unter Sprachstörungen und konnten sich einfache Dinge nicht mehr merken. Bei den meisten Patienten klangen die Störungen, wenn sie aufhörten, Contergan zu nehmen, wieder ab, bei einigen jedoch nur langsam, bei manchen angeblich gar nicht.
Inzwischen gibt es kaum einen Ordinarius an den einschlägigen westdeutschen Fachkliniken, der nicht in die Gutachter-Schlacht verwickelt wäre, die um das Thema Polyneuritiden, lange vor Prozeßbeginn, entbrannt Ist.
Gleichwohl hofft die Aachener Staatsanwaltschaft, daß der Monsterprozeß im Kasinosaal zu Alsdorf sein Gepräge nicht entscheidend von den rund hundert wissenschaftlichen Gutachtern erhalten wird, die vor dem Tribunal erscheinen sollen.
Die Vertreter der Anklage meinen vielmehr, daß sie. den Beweis einer subjektiven Schuld der Angeklagten auf eine weit eindrucksvollere, ja dramatische Weise mit jenem Prozeßmaterial werden führen können, das nun in Alsdorf eine ganze Aktenkammer füllt: Dokumente, Firmenkorrespondenzen, Aktennotizen, die zumeist aus den Tresoren und Büros der Firma Grünenthal stammen.
Freilich, der Blick in diese Dokumente fördert mehr zutage, als für die Urteilsfindung der Aachener Richter nötig ist. Er gewährt Einblick in ein nicht unbedenkliches Stück bundesdeutscher Wirklichkeit: Er enthüllt, bis zu welch gefährlichem Malle unternehmerisches Erfolgsdenken jenes »Bewußtsein der Verantwortung« zu bedrängen und zu verdrängen vermag, dessen sich gerade die Pharma-Industrie vor allem anderen rühmt.
Im Treibhausklima des nachkriegsdeutschen Wirtschaftsbooms hatte sich denn auch geradezu modellhaft der Aufstieg der Firma Chemie Grünenthal vollzogen, die heute zu den zehn umsatzstärksten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie zählt.
Als Tochter der Waschmittel-, Seifen- und Kosmetik-Firma Dalli Werke Maurer & Wirtz war die Chemie Grünenthal 1946 gegründet worden -- laut offizieller Firmenhistorie aus gemeinnützigen Motiven: um das Aachener Grenzland, das damals »von jeder Arzneimittelversorgung ganz und gar abgeschnitten war ... durch rasche Entschlüsse und tatkräftiges Handeln ... mit Desinfektionsmitteln und anderen unentbehrlichen Arzneimitteln« zu versorgen.
Den raschen Entschlüssen folgte ein steiler Aufstieg. Zehn Jahre nach Gründung hatte das Unternehmen einen Jahresumsatz von 14 Millionen Mark erreicht. Damit aber war die Firma in eine Größenordnung vorgestoßen, die ihr zugleich die harten Wettbewerbsgesetze im Ringen um Marktanteile auf zwang. Wichtigste Schlußfolgerung in der Grünenthal-Zentrale »Kupferhof« Anfang der fünfziger Jahre: Die Firma muß aus dem bis dahin engen Sortiment von Antibiotika heraus und sich zumindest noch auf einem zweiten Pharma-Sektor Marktanteile erkämpfen.
Diese Chance schien sich zu eröffnen, als 1964 die Grünenthal-Wissenschaftler Dr. Herbert Keller und Dr. Wilhelm Kunz unter den Piperidin-Verbindungen der Glutaminsäure die neue Substanz N-Phtalyl-glutaminsäureimid fanden, die später unter der internationalen Bezeichnung Thalidomid geführt und zunächst unter der Labor-Chiffre K 17 geprüft wurde.
Die neue Substanz wirkte beruhigend und machte Schlaf. Darüber hinaus bot sie eine Überraschung, von der die Chemiker und Ärzte in Stolberg fasziniert sein mußten: Eine Dosis Letalis 50, eine Dosis also, die bei 50 Prozent der Tiere einer Versuchsreihe zum Tode führt, ließ sich nicht ermitteln.
Die Chemie Grünenthal schien einen Königsweg zu Schlaf und Beruhigung jenseits der Gefahren entdeckt zu haben, die bis dahin jedes wirksame Schlaf- und Beruhigungsmittel zu einer zweischneidigen Waffe gemacht hatten: In zu hoher Dosis eingenommen -- ob nun absichtlich oder unabsichtlich -, konnte es tödlich wirken und obendrein bei anhaltendem Gebrauch zur Sucht führen.
Die klassischen Schlaf- und Beruhigungsmittel vom Stamm der Barbiturate waren aus diesen Gründen ohne Ausnahme unter Rezeptpflicht geraten. Beim Contergan hingegen ist bis heute kein Unglücksfall oder Selbstmordversuch mit tödlichem Ausgang bekanntgeworden. In dieser Hinsicht hat die Faszination von K 17 nicht getrogen.
Mit seiner Unfähigkeit zu töten aber täuschte das Präparat über andere ihm innewohnende Gefahren hinweg -- und unterwanderte die wissenschaftlichen Kontrollen, denen es unterworfen wurde.
Wie wenig klar damals -- und heute kaum anders -- der Begriff etwa der »klinischen Prüfung« gewesen sein muß, verdeutlichen indes zwei Beispiele, die in der Anklageschrift erwähnt sind. In einem Fall hatte der Internist Dr. Hermann Jung das Medikament K 17 getestet. Jung, der für solche Routine-Prüfungen von Grünenthal ein regelmäßiges Honorar von monatlich 200 Mark bezog, kam bereits nach vierwöchiger Verordnung bei 20 Patienten zu einem positiven Ergebnis, und schon bald darauf meinte er, das Präparat scheine »reif für den Handel«.
Im zweiten Fall war der Chemie Grünenthal das Angebot gemacht worden, Professor Paul Martini, Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Bonn, sei bereit, das Schlafmittel zu erproben. Bedingung: mindestens neun bis zwölf Monate Prüfungszeit, bevor ein Urteil abgegeben werden könne. Das aber erschien der Firma unzumutbar lang, sie machte von dem Anerbieten keinen Gebrauch.
Am 25. Juni 1957, drei Monate bevor der Wirkstoff Thalidomid unter der Herstellungsbezeichnung Contergan erstmals in den Handel gebracht wurde*, legten die Grünenthal-Leute in einer internen Besprechung die Slogans fest, unter denen das Präparat in
* Der Wirkstoff wurde alsbald zusätzlich auch in Kombinationspräparaten wie Grippex, Algosediv und Prednisediv feilgeboten.
den Konkurrenzkampf segeln sollte. Der wissenschaftliche Leiter Dr. Mückter und Vertriebschef Wiriandi kamen überein, in der Werbung »besonders die außerordentlich gute Verträglichkeit« herauszustellen.
Fasziniert von der Tatsache, daß sich mit Contergan niemand umbringen konnte, sahen die Grünenthal-Kaufleute keinen Hinderungsgrund, mit Werbeslogans wie »völlig ungiftig«, »atoxisch«, »gefahrlos« ihren potentiellen Kunden -- Ärzten, Apotheken, Kliniken -- die vermeintliche Harmlosigkeit des Wundermittels einzuhämmern. In fast jubilierendem Ton hieß es beispielsweise in einer Arbeitsanweisung für Grünenthal-Ärztebesucher vom 26. September 1957:
»Der Grundsatz »primum nil nocere« (Vor allem niemandem schaden) ist somit auch in der Therapie mit Sedativa und Schlafmitteln verwirklicht«
-- eine Formulierung, die freilich erst im nachhinein ihren makabren Beiklang erhielt.
Aber auch noch im Juli 1961, als bei Grünenthal schon rund 1600 Fälle von nach Contergan-Einnahme aufgetretenen Nervenschäden bekannt waren, betonte die Firma in ihrem Rundbrief an Ärzte:
»Die Sicherheit von Thalldomid ist das hervorstechende Merkmal des Präparats.« Und selbst am 20. November 1961, fünf Tage nachdem der Hamburger Mediziner Widukind Lenz wegen der von ihm beobachteten Kindesmißbildungen Alarm geschlagen hatte, verließen noch einmal 66 000 Ärzte-Rundbriefe das Stolberger Werk, in denen Contergan als »sicheres Medikament« bezeichnet wurde.
Besonders in der Startphase der neuen Schlaf-Droge mußte der Firma Grünenthal daran gelegen sein, positive wissenschaftliche Veröffentlichungen vorweisen zu können. Beispiele für die Gepflogenheiten beim Beschaffen solcher Arbeiten sind wiederum der Anklageschrift zu entnehmen.
Ein Assistenz-Arzt Dr. Helmut Loos, so ermittelte die Staatsanwaltschaft, bot der Firma Grünenthal von sich aus eine positive Veröffentlichung an, falls das Herstellerwerk sich »in irgendeiner Weise erkenntlich zeigt«.
Deutlicher wurde der ehemalige Leiter des Auslandsdienstes bei Grünenthal, Jaques Künzli, in einem Brief an die Geschäftsleitung (30. März 1960). Künzli berichtete, die ersten Contergan-Versuche des persischen Arztes Dr. Rezai seien »nicht sehr erfolgreich« gewesen, und fügte hinzu:
»Da aber der iranische Arzt sehr materiell eingestellt ist, dürfte man doch rasch zu konkreten Resultaten gelangen.« »Zweckpublikationen«, bei denen »zeitraubende wissenschaftliche Ausarbeitungen« nicht als unbedingt notwendig galten, wurden besonders auch in den für Thalidomid-Export vorgesehenen Ländern inspiriert, als Voraussetzung für die Registrierung des Mittels bei den dortigen Behörden. So schrieb die Grünenthal-Zentrale am 25. Juli 1960 an ihren Vertreter in Portugal:
»Wir möchten Ihnen vorschlagen ... einen »geeigneten« Prüfer zu suchen, der über dieses Praparat eine wohlwollende Publikation abfaßt. Ein angemessenes Honorar ... steht natürlich zur Verfügung.« Und Kernstück der Gegenpublikationen, mit denen die Stolberger Firma im Herbst 1960 den Sturm der Nebenwirkungs-Meldungen abzuwehren suchte, war die Arbeit eines Hamburger Neurologen, dessen wissenschaftliche Unabhängigkeit von privaten Beziehungen zum Werk überschattet war: Er war mit dem Grünenthal-Wissenschaftler und jetzigen Mitangeklagten Dr. Sievers »seit einer gemeinsam verbrachten Militärzeit befreundet« (Anklageschrift), und die Chemie Grünenthal hatte ihm eine Amerika-Reise finanziert -- mit insgesamt 10 000 Mark.
Hand in Hand mit solcher Arbeit an der Verschönerung des Contergan-Image ging bei den Grünenthal-Leuten das Bemühen, die Veröffentlichung negativer wissenschaftlicher Arbeiten zum Thema Contergan zu verzögern, abzumildern oder gar zu verhindern.
Als im Sommer 1959 im Kreiskrankenhaus Hellersen (Niedersachsen) Contergan wegen »schwerer Allergien«, die man dort beobachtet hatte, von der Verordnungsliste abgesetzt wurde, begab sich ein Grünenthal-Wissenschaftler an den Gefahrenherd, »um eine gefürchtete Publikation hierüber zu verhindern« -- Sie unterblieb.
Ähnlichem Einfluß sah sich ein Jahr später beispielsweise ein Klinik-Chef in Bad Pyrmont, Dr. H. W. Lentrodt, ausgesetzt (der Grünenthal-Gesandte meldete allerdings: »Eine Beeinflussung meinerseits kaum möglich"). Und als Ende 1960 die Welle der Meldungen von Nervenschäden immer mehr anschwoll, wurde bei Grünenthal solche Taktik noch forciert. Vertrauliche Notiz über eine innerbetriebliche Contergan-Besprechung vom 16. Januar 1961:
»Nach Beleuchtung der Situation von verschiedenen Seiten herrscht Einigkeit darüber. daß als wichtigstes zu betrachten sei die Verhinderung negativer Contergan-Arbeiten
In den sogenannten Monatsberichten des -- nun mitangeklagten -- Grünenthal-Wissenschaftlers Dr. Werner hieß es ergänzend:
»Wir bemühen uns gemeinsam intensiv weiter, die betreffenden Herde abzuriegeln; auf die Dauer werden Veröffentlichungen nicht zu verhindern sein. obwohl wir jeden Einfluß geltend machen ... Die Bemühungen um ... Aufschub und die Abänderung negativer Publikationen über Contergan wurden gemeinsam mit der Forschungsabteilung intensiv fortgesetzt.«
Daß diese Bemühungen gelegentlich Erfolg hatten, bewies das Schicksal einer kritischen wissenschaftlichen Arbeit über Contergan, verfaßt von dem Frankfurter Nervenfacharzt Dr. Horst Frenkel. Sie erschien schließlich im Mai 1961 in der Fachzeitschrift »Die Medizinische Welt« und trug wesentlich dazu bei, daß Contergan im Sommer 1961 unter Rezeptzwang gestellt wurde.
Eingereicht bei der Redaktion der »Medizinischen Welt« hatte Frenkel die Arbeit schon im September 1960 -acht Monate vor ihrem Erscheinen-Daß sie so lange ungedruckt blieb (und daß zudem eine später eingereichte, Contergan-positive Arbeit von Dr. Ingeborg Schiefer noch vorher abgedruckt wurde), erklärt sich aus Zusammenhängen, die der frühere Grunenthal-Abteilungsleiter Dr. Kelling in seinem »Jahresbericht für 1960« so formulierte:
»Die freundschaftliche Verbindung zu Dozent Dr. Matis hat zu verschleppender Behandlung des eingereichten Manuskripte wirksam beigetragen.«
Privatdozent Dr. Paul Matis war Leiter der Redaktion der »Medizinischen Welt«; das »eingereichte Manuskript« war das von Dr. Frenkel.
Im Frühjahr 1961, als der Artikel von Frenkel endlich gedruckt wurde, hatte der Contergan-Umsatz bei Grünenthal mit 1,3 Millionen Mark (Monat März> seinen Höhepunkt erreicht. Das, laut Grünenthal-Werbung, »auch in hohen Dosen« und »auch für einen längeren Zeitraum ungefährliche« Präparat war zum meistgekauften Schlafmittel in Deutschland geworden (Marktanteil: 25 Prozent).
Menschen, die früher nie Schlafmittel genommen hatten, griffen nun unbedenklich zu Contergan, das in jeder Apotheke frei erhältlich war. Mütter hatten sich angewöhnt, einen Löffel Contergan-Saft als sogenannten »Kinosaft« ihren Kindern zu verabreichen, wenn sie abends weggehen wollten.
Zur gleichen Zeit freilich waren in Stolberg schon über 1000 Nebenwirkungsfälle bekannt. Und auf dem Wiesbadener Internisten-Kongreß Anfang April 1961 hatten führende Spezialisten, darunter die Professoren Ferdinand Hoff (Frankfurt), Josef Kimmig (Hamburg) und Werner Koll (Göttingen), öffentlich Alarm geschlagen.
Aber den Angestellten und Mitarbeitern der Firma Grünenthal war es schon zur Gewohnheit geworden, in Gesprächen und in der Korrespondenz mit Ärzten und Apothekern die nicht mehr zu verheimlichenden Nebenwirkungen zu bagatellisieren oder gar zu vertuschen.
Ein Dr. Heinz Printzen bei Grünenthal wurde zum »Contergan-Nebenwirkungs-Feuerwehrmann« ernannt. Und die leitenden Angestellten bei Grünenthal folgten mit Elan einer Devise, die der wissenschaftliche Leiter und jetzige Angeklagte Dr. Mückter bereits am 14. April 1960 so formuliert hatte: »Alles tun, um Rezeptpflicht schon im Vorstadium abzubiegen.«
»Für Contergan kämpfen wir bis zum letzten«, hatte Verkaufsleiter Winandi in einem privaten Gespräch mit dem damaligen Leiter der Handelspolitischen Abteilung bei Grünenthal, Dr. Günter Nowel, geäußert. Und im Monatsbericht der kaufmännischen Leitung für Dezember 1960 hatte es geheißen:
»Das Präparat stellt z. Z. fast 50 Prozent unseres gesamten Inlandumsatzes, und es geschieht alles, um diesen »Augapfel« ... abzusichern.«
Schon im Mai 1960 hatte Vertriebsleiter Winandi einmal Bedenken, daß manchen Ärzten und Apothekern das massive Anschwellen des Contergan-Verbrauchs in der Bevölkerung vielleicht unheimlich sein könnte; dagegen müsse vorgegangen werden. Winandi damals an das Grünenthal-Büro in Essen: »Nicht alle Ärzte können ihre ethische Einstellung in »marktwirtschaftlichen Grenzen« halten.«
Nun aber, da es galt, die drohende Rezeptpflicht (und den damit befürchteten Umsatzrückgang) abzuwenden, mußten sich die Aktionen an andere Adressen richten. Ex-Grünenthaler Dr. Nowel, jetzt wichtigster Zeuge der Anklage, in einer Notiz vom Dezember 1960:
»Dr. Oswald und ich wurden auf Reisen geschickt mit dem Auftrag, in den Ministerien darauf hinzuweisen ... daß keine Nebenwirkungen bekannt sind. die auf Contergan zurückzufUhren sind.«
-- obwohl zu dieser Zeit bei Grünenthal schon mehr als 120 Fälle von Nervenschädigungen bekannt waren.
»Vorsichtige Fühlungnahme mit den maßgeblichen Gesundheitsbehörden« war damals (laut einem Monatsbericht des Vertriebsleiters Winandi) »in allen deutschen Bundesländern« angeknüpft worden. Und es gab dafür sogar eine bestimmte Taktik des Vorgehens, die in einem Vermerk »betr. Sicherung des rezeptfreien Verkaufs von »Contergan"« von Dr. Nowel am 17. November 1960 formuliert wurde:
»(Unsere) Aktion soll so vorbereitet werden, daß ... Dienststellen unter keinen Umständen den Eindruck bekommen, daß wir eine gezielte Beeinflussung geplant oder durchgeführt haben ... Erst noch ... einführenden Gesprächen soll vorsichtig das Thema auf Contergan gebracht werden, wobei keineswegs der Eindruck entstehen dort, daß dieses Thema der Hauptgrund unseres Besuches ist.«
Aber sechs Monate später hatte sich die Situation -- Grünenthal-Justitiar Hilmar von Veltheim nannte es eine »Wanderung auf der Rasierklinge« -- dann doch so zugespitzt, daß die Rezeptpflicht für Contergan nicht länger vermeidbar schien. Am 26. Mai 1961 wurde sie von Grünenthal beantragt, am 27. Juli wurde sie in Nordrhein-Westfalen ausgesprochen.
Es dauerte noch Monate, bis auch die letzten Bundesländer nachzogen -- in zwei Fällen mit grotesken Resultaten: In Berlin wurde das Mittel neun Tage, in Bayern erst 23 Tage nachdem es aus dem Handel gezogen war, unter Rezeptpflicht gestellt.
Die erwartete Umsatzeinbuße verzeichnete Grünenthal jedoch nicht, als die Rezeptpflicht eingeführt wurde, sondern nach einem Ereignis, das die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift rückblickend als »einschneidend« bezeichnete: Am 16. August 1961 berichtete der SPIEGEL erstmals über die Nervenschädigungen von Contergan (SPIEGEL 34/1961).
Im darauffolgenden Monat, im September, stürzte der Contergan-Umsatz bei Grünenthal von (im August) 1,1 Millionen auf nur mehr 595 000 Mark. »Dieser Umsatzrückgang«, meint die Anklageschrift, »war vornehmlich auf die Veröffentlichung der Zeitschrift »DER SPIEGEL« zurückzuführen.« Und in einer (Grünenthal-internen) Aktennotiz vom 17. November 1961 hieß es ergänzend, daß »die Veröffentlichungen in der medizinischen Fachpresse ... sehr wenige und dann meist nur Fach- oder Krankenhaus-Ärzte gelesen« hätten und daß mithin die Information der Ärzte »weitgehendst durch den SPIEGEL-Artikel, also damit hauptsächlich durch Patienten erfolgt« sei.
Freilich, als diese Aktennotiz niedergeschrieben wurde, war die Kontroverse um Contergan bereits in ein neues, in ihr letztes Stadium getreten.
Zur selben Stunde lag auf dem Schreibtisch des Wissenschaftlichen Leiters der Chemie Grünenthal, Heinrich Mückter, ein eingeschriebener Brief; sein Inhalt machte einen kleinen Ausschnitt jenes Unglücks sichtbar, das hernach die Welt erschütterte: »Sehr geehrte Herren ...
Seit etwa 1957 -- der exakte Zeitpunkt läßt sich noch nicht festlegen -- ist in der Bundesrepublik ein bestimmter Typ von Mißbildungen in zunehmender Häufigkeit aufgetreten. Es handelt sich dabei in erster Linie um schwere Defekte der Gliedmaßen, insbesondere der Arme, welche gewöhnlich nur als kleine Stummel mit zwei bis vier Fingern angelegt sind, welche aber auch ganz fehlen können ...
Eine sehr intensive Fahndung ... hat in Hamburg nur einen einzigen Faktor erkennen lassen, der regelmäßig in der Anamnese vorhanden war. in jedem einzelnen von 14 Fällen, in denen mir eine zuverlässige Anamnese mit lückenlosem Nachweis der verordneten Rezepte vorlag. wurde in den ersten Schwangerschaftsmonaten Contergan genommen, eine Ausnahme macht nur ein Fall -Der Brief stammte von Widukind Lenz, damals Privatdozent und Oberarzt an der Universitäts-Kinderklinik Hamburg (jetzt Professor in Münster). Zwei Tage zuvor hatte Lenz in Stolberg angerufen und dem Wissenschaftlichen Leiter Heinrich Mückter seine Entdeckung am Telephon dargelegt. Und am darauffolgenden Tag hatte Lenz den Brief abgesandt, den er mit der schwerwiegenden Bemerkung eröffnete, daß »nach meinem Eindruck Herr Dr. Mückter der Angelegenheit nicht die Bedeutung beizumessen schien, die sie nach meiner Meinung hat ...«
In der Tat wird die Art, wie sich Chef-Chemiker Mückter und einige seiner Mitangeklagten in den elf Tagen zwischen dem ersten Anruf des Hamburger Mediziners Lenz und der Zurücknahme des Medikaments aus dem Handel am 26. November 1961 verhielten, zu den am schwersten belastenden Momenten im Aachener Contergan-Prozeß zählen.
Mindestens einen Tag lang behielt Mückter die Alarmmeldung aus Hamburg für sich. Auch dann (laut Anklageschrift am 16. November) unterrichtete er zunächst nur die kaufmännische Leitung des Unternehmens, nicht aber den sogenannten Contergan-Ausschuß der Firma (der einige Monate zuvor aus leitenden Angestellten gebildet und vom Firmenchef Wirtz ausdrücklich mit allen Entscheidungen in Sachen Contergan betraut worden war). Der Ausschuß erfuhr erst nach drei Tagen von dem Hamburger Anruf.
Jeder Tag, der ungenutzt verstrich, konnte bedeuten, daß noch weitere schwangere Frauen das Schlafmittel einnehmen würden -- mit unabsehbaren Folgen. Aber erst fünf Tage nach dem ersten Telephonat, drei Tage nach Eintreffen der schriftlichen Hiobsbotschaft, besuchten drei Grünenthal-Mitarbeiter den Hamburger Mediziner.
Einer der drei Besucher war der Justitiar des Stolberger Unternehmens, Dr. von Veitheim. Daraus und aus bestimmten Formulierungen seitens der Grünenthal-Vertreter -- wie etwa »geschäftsschädigendes Verhalten« und »Rufmord an einem Medikament« -- gewann Dr. Lenz damals den Eindruck, daß es der Firma eher darum ginge, ihn von seinem ungeheuerlichen Verdacht wieder abzubringen, als dessen Berechtigung zu erörtern.
Dieselbe starre Haltung der Grünenthal-Vertreter beherrschte auch die stürmischen Verhandlungen mit Dr. Lenz bei der Hamburger Gesundheitsbehörde (am Nachmittag des 20. November) und im nordrhein-westfälischen Innenministerium (am 24. November). Den Fragen der Medizinalbeamten, ob unter diesen Umständen Contergan nicht sofort aus dem Handel gezogen werden müsse, setzten die Grünenthal-Sprecher ein entschiedenes Nein entgegen.
Ein Höchstmaß an Gelassenheit aber zeigte der Chef-Wissenschaftler Mückter am darauffolgenden Sonnabend (25. November), als die Firmen-Spitze in Stolberg (allerdings ohne den geschäftsführenden Gesellschafter Hermann Wirtz, der zur Jagd gefahren war) über die Lage beriet.
Beiläufig ließ Mückter die übrigen Gesprächsteilnehmer wissen, er habe einen Brief des englischen Lizenznehmers (Distillers Company) erhalten; darin werde mitgeteilt, daß ein australischer Arzt -- unabhängig von Dr. Lenz -- gleichfalls einen Zusammenhang zwischen bestimmten Kindesmißbildungen und dem Contergan-Wirkstoff Thalidomid annehme.
Tatsächlich hatte der australische Gynäkologe Dr. William G. McBride schon einmal im Mai 1961 -- sechs MOnate vor dem Hamburger Dr. Lenz -- anhand von nur zwei Mißbildungsfällen in seiner Klinik den Verdacht gefaßt, das Schlafmittel könne an den Mißbildungen schuld sein. Sein erster Hinweis an die australische Niederlassung von Distillers war jedoch offenbar gar nicht erst nach London, geschweige nach Deutschland weitergemeldet worden.
Doch als nun die neuerliche Warnung von Dr. McBride an die Stolberger Zentrale gelangt war, sah Dr. Mückter darin keinen Grund, Contergan aus dem Handel zu ziehen. Mehr noch: Er erklärte in der Sonnabend-Runde, er werde den Brief vorerst zurückhalten. Als sich Widerspruch erhob, konterte Mückter, er sei bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen.
Das einzige, wozu sich die Firmenleitung an diesem zehnten Tag nach dem Anruf von Lenz durchrang, war eine mahnende Mitteilung an Ärzte und Apotheker, Contergan solle »während der Schwangerschaft nicht gegeben werden«. Die Mitteilung wurde in 1000 Exemplaren versandt, genügte also nicht entfernt zur Unterrichtung der insgesamt 60 000 westdeutschen Ärzte und 8500 Apotheken.
Erst am darauffolgenden Tag, am Sonntag, dem 26. November, traf Grünenthal-Chef Wirtz die längst fällige Entscheidung -- unter dem Druck der Öffentlichkeit. Informiert von dem Vater eines mit Mißbildungen geborenen Kindes, hatte die Hamburger »Welt am Sonntag« über den Verdacht von Dr. Lenz berichtet. Erst auf diesen Artikel hin entschloß sich die Geschäftsleitung der Stolberger Firma, Contergan aus dem Handel zu ziehen.
Ob die Chemie Grünenthal nicht schon viel früher, oder wenigstens unverzüglich nach den Verdachtsmeldungen aus Hamburg und London das Präparat hätte zurückziehen müssen -- diese Frage wird nun das Aachener Gericht beschäftigen. Sicher ist: Mindestens ein Zeuge wird vor dem Tribunal in Alsdorf bekunden, daß die Elf-Tage-Frist nach dem Lenz-Anruf weiterem Schaden Vorschub leistete. Ein westdeutscher Universitätsprofessor wird aussagen, daß seine Frau am 20. und 21. November 1961 je eine Tablette Contergan einnahm. Am 22. Juli 1962 gebar sie ein Kind, dem Arme und Beine fehlten; es starb, an den Folgen innerer Mißbildungen, zwei Tage nach der Geburt.
Augenfällig aber ist auch, daß die Stolberger Chemie-Firma selbst nach der Rücknahme des Präparates noch immer nicht zu einer Tonlage fand, die dem Ausmaß des Unglücks angemessen gewesen wäre.
In den Monaten nach November 1961 mühten sich Grünenthals PR-Leute, »die ja auf jedenfall erfolgende Pressebeteiligung so weit wie möglich in unsere Hand zu bekommen«. Wissenschaftler, Ärzte und Apotheker, die sich kritisch über Grünenthal äußerten, wurden als »Meckerer«, »Demagogen«, »Opportunisten« oder »Fanatiker« bezeichnet. Man war bemüht, Zeitungsartikel zu »steuern« und zu »lancieren«. Und am 27. Dezember kam eine Grünenthal-interne Anweisung heraus, wonach »die Meinungsbildner, die negative Äußerungen tun, mit aller Kraft bearbeitet werden sollen, um diese Leute umzustimmen oder aber zumindest zu neutralisieren«.
Nicht erst vor solchem Hintergrund muten die Formulierungen eines Rundschreibens fast wie Hohn an, das die Firma Grünenthal am 6. Dezember 1961 »an die Mitarbeiter des Außendienstes« in Umlauf brachte:
»Der wissenschaftliche Mitarbeiter soll dem verordnenden Arzt kenntnisreicher Berater sein. Sachlichkeit, Klarheit und Wahrheit rangieren bei unseren Informationsgesprächen vor merkanten Wünschen
... In diesem Sinne wollen wir das Kapitel Contergan abschließen und uns in verantwortungsbewußter Weise unseren neuen Aufgaben widmen.«
Mit nur wenigen Ausnahmen haben die leitenden Grünenthal-Angestellten sich bei ihren Einlassungen bei der Aachener Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis auf ihre stets befolgte »moralische Verpflichtung« (Vertriebsleiter Winandi), auf ihr »verantwortungsbewußtes Handeln« (Prokurist Chauvistré) oder gar ihr »vorbildliches Verantwortungsbewußtsein« (kaufmännischer Leiter Leufgens) zu entlasten gesucht. Im gleichen Sinne betonte Mückter, er habe sich »niemals von Prestige- und kommerziellen Gründen« leiten lassen.
Aber mindestens zwei der Einvernommenen verweisen demgegenüber auf eine Konstellation im Hause Grünenthal, die geeignet ist, Zweifel an der Qualität des so oft berufenen »Verantwortungsbewußtseins« zu begründen:
* Ein entscheidenes Hemmnis für die Arbeit der Wissenschaftler, so beklagte der frühere Leiter des wissenschaftlichen Außendienstes von Grünenthal, Dr. Kelling, habe »in dem Übergewicht der Kaufleute gegenüber den Medizinern bestanden«.
* Insgesamt sei die Frage der Nebenerscheinungen, so ergänzte der ehemalige Leiter der Wissenschaftsabteilung, Dr. Werner, primär »unter dem Gesichtspunkt ihrer kommerziellen Bedenken gesehen« worden. Dadurch seien ärztliche Überlegungen »so gut wie wertlos gewesen«. Jeder Hinweis auf die ärztliche Verantwortung sei dem Einwand begegnet, »man befände sich nicht in einer Klinik oder ärztlichen Praxis, sondern in einem Industriewerk«.
Nur eine Instanz, scheint es, wäre bei solcher Gewichtsverteilung -- und solange Kontrollen von außen strikt abgelehnt werden -- imstande gewesen, dem kaufmännischen Interesse Widerstand zu leisten, wenn sich Gefahren abzeichneten: die wissenschaftliche Führungsspitze des Unternehmens.
Bei Grünenthal war sie personifiziert in Heinrich Mückter -- jenem Mann, der »die Rezeptpflicht schon im Vorstadium abzubiegen« sich bemühte (April 1960); der »zu einer Dramatisierung der bisher berichteten Nebenerscheinungen keine Veranlassung« sah (Juni 1960); der »alles zu tun« vorschlug, »das Verfahren der Rezeptpflicht ... zu verzögern« (Mai 1961); der im Juli 1961 einmal im kleinen Kreis von Mitarbeitern meinte: »Wenn ich Arzt wäre, würde ich Contergan heute nicht mehr verordnen« -- aber dann einen Monat später gegenüber Mitarbeitern des Außendienstes Contergan wieder als das »beste Schlafmittel der Welt« rühmte.
Es wird zu den bedenklichsten Arrangements im Hause Grünenthal zu zählen sein, daß dieser Mann trotz seiner mit einem Höchstmaß von Verantwortung belasteten Position von kaufmännischen Rücksichten nicht frei sein konnte: Der ehrgeizige, stets mit brillanten Examensnoten ausgestattete Chemiker bezog bei Grünenthal ein reguläres Monatseinkommen von nur 1200 Mark. Aber außerdem war ihm eine Gewinnbeteiligung von insgesamt einem Prozent des Umsatzes garantiert.
Vor Einführung des Schlafmittels Contergan bewegte sich diese Umsatzvergütung zwischen 100 000 und 180 000 Mark im Jahr. Dann aber, mit dem »Jahrhundert-Schlafmittel«, kletterte die Summe innerhalb von drei Jahren auf 325 000 Mark (im Jahr 1961).
Rund 40 Prozent dieses Betrages stammten allein aus dem Contergan-Verkauf. Das aber bedeutete, daß Heinrich Mückter mit jedem Monat, um den Contergan früher aus dem Handel genommen worden wäre, rund 12 000 Mark persönlicher Einnahmen eingebüßt hätte.
Zu der Zeit, da Contergan schließlich aus dem Rennen gezogen wurde, mochte noch ein Rest von Zweifel daran bestehen, ob die in so massiver Häufung auftretenden Mißbildungen von Neugeborenen wirklich mit Contergan zusammenhingen. Ein dreiviertel Jahr später aber wurden solche Vorbehalte eindrucksvoll widerlegt.
Fast auf den Tag genau acht Monate nach dem SPIEGEL-Bericht, der den Rückgang des Contergan-Umsatzes bewirkt hatte, sank in den deutschen Entbindungs-Kliniken auch die Rate der Kindesmißbildungen; und fast auf den Tag genau acht Monate nach der Rücknahme des Präparates aus dem Handel fiel die Mißbildungskurve fast wieder auf Null-Niveau (siehe Graphik Seite 58).
Über einen Zusammenhang zwischen Contergan-Einnahme und den typischen Mißbildungen bestehen denn auch heute kaum mehr Zweifel. Zwar haben nicht alle Mütter, die in der kritischen Phase der Schwangerschaft -. zwischen dem 23. und dem 36. Tag nach der Empfängnis -- Contergan einnahmen, mißgebildete Kinder geboren. Dies gab der Verteidigung Grund zu der Annahme, daß möglicherweise nicht Contergan allein die Schäden verursacht habe, sondern daß noch andere Faktoren, etwa eine Stoffwechsel-Anomalie der Mutter, mitgewirkt haben müßten.
Aber zeitlicher Verlauf und geographische Verbreitung der Mißbildungs-Epidemie sprechen so augenfällig gegen Contergan, daß die Hersteller-Firma es schwer haben wird, an diesen Beweisen zu rütteln.
In allen Ländern, in denen der Wirkstoff Thalidomid in größerem Umfang verkauft worden war, traten typische Mißbildungen auf, so beispielsweise in Japan (932 Fälle), in England (350 Fälle), in Schweden (150 Fälle), in den Benelux-Ländern (60 Fälle) und in Österreich (18 Fälle).
Bis heute ist freilich in dem am schwersten betroffenen Land, der Bundesrepublik, das Ausmaß der Katastrophe nie exakt ermittelt worden. Der Grund: Die Bundesregierung scheute sich, eine gesetzliche Meldepflicht für körpergeschädigte Kinder einzuführen.
So beruhen alle Zahlen (ursprünglich 4000 Kinder) nur auf Schätzungen. Auch für die noch lebenden 2625 Kinder, die bei Behörden registriert sind, gibt es bislang keine genaue Aufstellung darüber, mit welchen Schäden jedes einzelne von ihnen behaftet ist. Und die Experten vermuten, daß vereinzelt noch immer, etwa in holsteinischen oder bayrischen Bauerngehöften, behinderte Kinder aus Scham vor der Nachbarschaft verborgen gehalten werden.
Schock, wenn nicht Verzweiflung waren naturgemäß die ersten Reaktionen bei den meisten Eltern, als sie in der Entbindungsklinik ihr Kind mit verkümmerten Armen oder Beinen oder anderen Mißbildungen sahen. 80 Prozent der Mütter, so ergab eine Befragung in Nordwestdeutschland, erlitten eine »tiefgreifende seelische Verwundung«, als sie von der Behinderung ihres Kindes erfuhren. Als Symptome nannten die befragten Mütter Gliederstarre, Schüttelfrost, Fieberanfälle, Eß- und Kreislaufstörungen oder auch eine Empfindung, als seien sie »vom Schlag getroffen«. Schuldgefühle und die Angst, wie ihr Kind wohl im späteren Leben bestehen solle, peinigten die meisten.
Verzweiflungstaten lieferten der Boulevard-Presse billige Schlagzeilen. Suzanne Vandeput, Mutter eines Thalidomid-Kindes in Belgien, tötete ihr mit schweren Mißbildungen geborenes Kind (und wurde von einem Lütticher Gericht freigesprochen). Sherri Finkbine, eine amerikanische Fernsehansagerin, ließ die Welt durch Presse, Funk und Fernsehen an ihren erst vergeblichen (in den USA), später erfolgreichen Bemühungen (in Schweden) um die Abtreibung ihres vermutlich contergangeschädigten Ungeborenen teilhaben (ihr Verdacht bestätigte sich nach dem Eingriff).
Daß Ehen auf eine Zerreißprobe gestellt wurden, daß ein Vater nur mit Mühe von seinem Vorsatz, das Kind zu töten, abgebracht werden konnte, daß manche Eltern bis heute Innere Widerstände gegen ihr geschädigtes Kind nicht haben abbauen können, gehört zum Alltag des Elends, in das diese Kinder hineingeboren wurden. Denn allzuoft trägt die Umwelt rücksichtsloser oder verständnisloser Erwachsener noch zu jener Getto-Stimmung bei, der sich viele der betroffenen Familien bis heute ausgesetzt sehen. »Krüppel sollte man umbringen«, »Solche Kinder müßten vergast werden« -- derlei Äußerungen mußten Mütter mit ihrem Kind in der Frankfurter Straßenbahn hinnehmen. »Das ist kein Anblick für die Öffentlichkeit, das Kind gehört in die Anstalt«, hieß es in einem niedersächsischen Dorf, als im Pfarrhaus ein contergangeschädigtes Kind heranwuchs.
Christliche Diffamierungsformeln wie »Gottesstrafe« und »Sündensold«, bestärkt wohl durch NS-Irrlehren von sogenannter »Erbgesundheit«, beherrschen noch weithin die Gesellschaft eines hochzivilisierten Landes, das nun die Opfer dieser Zivilisation am liebsten ignorieren will.
Die Mehrheit der Bundesbürger scheint geneigt, die Contergan-Kinder als »Krüppel« an den Rand der Gesellschaft zu verweisen -- obwohl Medizin und Technik bei gehörigem Aufwand durchaus imstande wären, den meisten der betroffenen Kinder zumindest so weit aufzuhelfen, daß sie sich ohne fremde Hilfe werden behaupten können. Fachärzte wie der (inzwischen verstorbene) Orthopäde Oskar Hepp in Münster und sein Kollege Ernst Marquardt in Heidelberg entfalteten mit diesem Ziel ein bewundernswürdiges Maß an Initiative und Erfindungsreichtum -- allerdings mit immer wieder beschränkten Möglichkeiten.
Wahre prothetische Wunderwerke -- etwa künstliche Arme, die mit Druckgas betrieben und durch bloße Schulter- oder Kinnbewegung gesteuert werden und trotzdem so komplizierte Bewegungsabläufe wie Essen, Schreiben, An- und Ausziehen ermöglichen -- wurden im Dysmelie-Zentrum der Heidelberger Universitätsklinik entwickelt.
Mit geschickter Operationstechnik vermochten die Ärzte Zeigefinger zu Greifdaumen umzuwandeln, Klumphandformen zu korrigieren und Beinstummel so weit zu richten, daß sie komplizierte Beinprothesen steuern können.
Aber die Dysmelie-Station in Heidelberg hat nur 26 Betten. Kinder, die der Behandlung dringend bedürfen, müssen sechs oder gar neun Monate warten, ehe sie aufgenommen werden können. »Das kann bedeuten«, erläuterte Dr. Marquardt, »daß zu der Katastrophe der Gliedmaßen-Fehlbildungen ... bei vielen Kindern noch eine geistige Retardierung hinzukommt, die wir bei rechtzeitiger Behandlung ausgleichen könnten.«
Ein gleichfalls bundesweit renommiertes Dysmelie-Zentrum existiert in Tübingen. Aber die Raumnöte dort sind, wie Helmut Hering, Vorsitzender des Bundesverbandes der Eltern körpergeschädigter Kinder, erklärt hat, »schon ein Skandal«. Für contergangeschädigte Kinder stehen nur fünf bis sechs Betten zur Verfügung. So mußte in einem Fall der Vater eines frisch operierten Kindes zur Nachbehandlung zweimal wöchentlich mehr als 200 Kilometer weit nach Tübingen fahren. Wartefristen in Tübingen: bis zu zwei Jahren.
Pädagogen entwickelten Speziallehrgänge zur Frühschulung gehörgeschädigter Kinder (sie soll im zweiten Lebensjahr beginnen). Aber schon 1965 nannte es der Hamburger Taubstummen-Lehrer Walter Eckel einen »lautlosen Skandal«, daß »Monat für Monat ungenutzt verstreicht«; nur wenigen der 400 schwer Gehörgeschädigten unter den Contergan-Kindern konnte rechtzeitig geholfen werden -- weil zuwenig Spezialschulen für diesen Zweck eingerichtet wurden.
Der Bundesverband der Eltern körpergeschädigter Kinder ließ von 1963 an mehrere speziell ausgebildete Krankengymnastinnen über Land reisen, um die Eltern von Contergan-Kindern in den erforderlichen Trainingsmethoden zu unterweisen. Aber 1965 war plötzlich kein Geld mehr da, sie zu bezahlen. Ähnlich erging es den Eltern in Schleswig-Holstein: Zwei Krankengymnastinnen mußten am 31. Dezember 1966 wegen Geldmangels aus den Diensten des Contergan-Hilfswerkes entlassen werden. Die Kinder, die sie bis dahin versorgt hatten, sind seither ohne solche geschulte Hilfe.
Geplant und erwogen wurde viel -- so beispielsweise ein Sonderschulzentrum für behinderte Kinder im schwäbischen Neckargemünd; in zeitraubenden Ausarbeitungen errechnete die Baubehörde dafür Mindestkosten in Höhe von 75 Millionen Mark.
Doch das -- nach jetziger Finanzlage utopische -- Vorhaben wird, wenn es überhaupt je verwirklicht werden sollte, den Contergan-Kindern kaum mehr zugute kommen. Die Landesbehörden kauften vorerst nur ein Grundstück. Die betroffenen Eltern machten sich Hoffnung, daß ein 57 Jahre altes Stiftshaus auf diesem Gelände (Victor-Lenel-Stift) sich als Provisorium für die Einschulung der Kinder würde herrichten lassen.
Im vorigen Herbst endlich rückten Handwerker an, um einen Fahrstuhl und wärmende Bodenbeläge einzubauen. Aber es stellte sich heraus, daß die Decken des alten Hauses nicht tragfähig genug sind. Das Gebäude abzureißen und wenigstens eine Notunterkunft für Contergan-Schulkinder zu errichten, ist noch nicht einmal begonnen worden.
Das Beispiel veranschaulicht die im Fall Contergan zutage getretenen Mängel eines Sozialstaats, dem das Mitleid fremd ist. Fast stets sahen sich die betroffenen Eltern auf ihre eigene Initiative zurückgeworfen -- auch im Hinblick auf die enorme finanzielle Belastung, die ihnen aus dem Mißgeschick erwuchs.
Mehr als die Hälfte aller betroffenen Eltern in Baden-Württemberg haben schon jetzt bis zu 10 000 Mark aus eigenen Mitteln für ihr behindertes Kind aufwenden müssen. In anderen Fällen waren viel höhere. Beträge nötig. Ein jetzt siebenjähriges Kind beispielsweise, das mit Armstummeln geboren wurde und dem Anfang vorletzten Monats das dritte Prothesen-Paar angepaßt wurde, hat insgesamt zehnmal in der Heidelberger Klinik stationär behandelt werden müssen. Gesamtkosten bisher: 69 785 Mark.
Fast immer -- so auch in diesem Beispiel -- sind die Eltern, mitunter auch die Großeltern, in erheblichem Maße zu den Kosten mit herangezogen worden. Die Krankenkassen verhielten sich unterschiedlich. In einem Fall beispielsweise erklärte eine private Krankenkasse mit einem einmaligen Hilfsbetrag von 300 Mark alle Ansprüche der Eltern für abgegolten.
Auch das Bundessozialhilfe-Gesetz, das nach Behörden-Ermessen in jedem westdeutschen Landstrich unterschiedlich ausgelegt wurde, half nur bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze. So wurde im westfälischen Iserlohn ein Antrag auf Fahrgeld (für die Fahrt zum täglichen Gymnastikkurs) von der Behörde abschlägig beschieden, »weil mein Mann mit etwa 700 Mark nach Hause kommt, und das waren 13 Mark zuviel«.
Bis heute sind die Hilferufe der Eltern, die sich längst am Ende ihrer finanziellen Kräfte sehen, nicht verstummt. Ein betroffener Vater: »Es ist, wie wenn eine Achse ohne Öl läuft. Eines Tages frißt sich alles fest. Dann Ist das Geld verbraucht, und wir haben nichts erreicht -- außer, daß Karl noch lebt.«
Der gleiche knirschende Mahlgang, mit dem die Behördenmaschinerie Almosen ausstreut, kennzeichnet auch jene andere Form gemeinschaftlicher Hilfsbereitschaft, die in Ländern wie Amerika, Schweden oder England noch stets mit bewunderswertem Schwung Notfälle zu mildern vermocht hat: Stiftungen, Sammlungen und Spenden.
Vereinzelte Anstrengungen dieser Art gab es auch in der Bundesrepublik. Vor der 1. Kompanie des Panzer-Bataillons 34 In Nienburg beispielsweise erspielte die Liverpooler Damen-Beat-Kapelle »The Liverbirds« 2000 Mark Spenden. Günter Graß spendete 12 000 Mark Einnahmen aus seiner Wahlkampf-Tournee »Es-Pe-Deh«, Eislauf-Star Marika Kilius ein Filmhonorar.
Aber fast alle Versuche, etwa nach dem Muster der amerikanischen »National Foundation"** Spendenhilfe in größerem Stil zu organisieren, verfingen sich in Deutschland im Dickicht von Stiftungen und Wohlfahrtsverbänden. Ein halbes Dutzend Institutionen, so umschrieb es die »Süddeutsche Zeitung«, »raufen sich in eiskalten Machtkämpfen um die Zuständigkeit«. Und ein Vertreter der betroffenen Eltern erläuterte: »Diese irrsinnige Vereinsmeierei führt dazu, daß die lautesten Kläffer oft das Geld bekommen.«
So kamen von der einträglichsten deutschen Spendensammlung« der »Aktion Sorgenkind« im Zweiten Deutschen Fernsehen, die in eineinhalb Jahren rund 6,4 Millionen Mark ausschütten konnte, nur jeweils etwa zehn Prozent den Contergan-Kindern zugute (und auch diese satzungsgemäß nicht zur Linderung von Einzelfällen, sondern für Heime und Kliniken). Und als der Norddeutsche Rundfunk im Sommer 1965 eine eigene Fernsehlotterie für Contergan-Kinder plante, wurde das Vorhaben auf Einspruch der Innenminister und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wieder abgesagt: Eine zusätzliche Fernsehlotterie war nach den Satzungen nicht statthaft.
Unabhängige Stiftungen andererseits, die ausschließlich körperbehinderten Kindern gelten sollen, sind bis heute fast durchweg vom Siechtum bedroht. Die in Hamburg 1965 gegründete Stiftung »Delphin« etwa segelte von Anfang an im Schatten einer ursprünglich als umfassend gedachten »nationalen« Stiftung »Für das behinderte Kind«.
Aber als diese -- nach vierjähriger Vorbereitung -- im letzten Jahr endlich ausgerufen wurde, zogen sich große Industriefirmen der Pharma-Branche, die beträchtliche Hilfe zugesagt hatten, teilweise schon wieder aus ihrem Wort zurück. Zudem krankt auch diese Stiftung an ihrer mißlichen Satzung, wonach die gespendeten Gelder vornehmlich der Forschung und der Verhütung von körperlichen und geistigen Defekten zukommen sollen -- statt, wie wohl die meisten Spender sich wünschen würden, in erster Linie den hilfsbedürftigen Kindern.
Diese Versäumnisse müssen um so bedrückender erscheinen, als die meisten der Kinder, um die es geht, inzwischen den Beweis erbracht haben, daß keine Illusion war, was Fachmediziner und Pädagogen vor sechs Jahren voraussagten: Es sei bei genügender Hilfestellung möglich, auch den Behinderten die desolate Abseitsstellung des lebenslänglich Fürsorgebedürftigen zu ersparen.
Soziologische Untersuchungen haben inzwischen erwiesen, daß die körperbehinderten Kinder nur in den wenigsten Fällen in die Rolle des Ausgestoßenen geraten sind. In 87 Prozent der Fälle erklärten die Eltern (bei einer Untersuchung in Baden- Württemberg>, daß die Spielkameraden das behinderte Kind voll akzeptiert hätten.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich jetzt in den Schulen ab. Die körperbehinderten Kinder, geistig mindestens so aufgeweckt wie ihre Mitschüler, werden oft sogar ihrer besonderen Fertigkeiten wegen -- etwa wenn sie mit dem Fuß schreiben und malen können -- von den anderen bewundert.
Solch relativ günstigen Befunden ist von einigen Optimisten schon die Hoffnung angefügt worden, daß vielleicht die Contergan-Kinder in Deutschland eine Art Pionier-Arbeit geleistet hätten: bei dem Bemühen, die Gesellschaft aufgeschlossener zu machen für die Eingliederung auch der anderen Gruppen von Behinderten, die
* Mit Ehemann, Bewacher.
** Die National Foundation ("March of Dimes") sammelte in den 30 Jahren ihres Bestehens rund 1,6 Milliarden Mark.
bisher nur unzulänglich versorgt sind. Für 22 000 vor oder bei der Geburt hirngeschädigte Kinder (spastisch Gelähmte) und 130 000 geistig Behinderte beispielsweise müßten Sonderschulen und andere Hilfseinrichtungen bereitgestellt werden -- wie es etwa in den Vereinigten Staaten und Schweden weithin geschehen ist.
Freilich, welches Maß an Schwerfälligkeit die bundesdeutsche Gesellschaft bei der Lösung sozialer Fragen von dieser Größenordnung wird überwinden müssen, läßt ein anderer, deprimierender Aspekt der Contergan-Katastrophe erkennen: Konsequenzen, die eine Wiederholung dieses Unglücks unwahrscheinlicher gemacht hätten, sind auf der ganzen Front verpaßt, wenn nicht gar vermieden worden.
Eindringlich hat der Fall Contergan vor Augen geführt, daß die Gesellschaft neuer Schutz- und Kontrollvorkehrungen bedarf -- wenn sich bei Medikamenten-Herstellern ökonomische Interessen und wissenschaftliche Verantwortung so unheilvoll überlagern können wie bei der Stolberger Firma Chemie Grünenthal.
Zumindest einige der Faktoren, die zum Contergan-Unglück entscheidend beigetragen haben, waren schon kurz nach der Katastrophe sichtbar. Aber die Lehren, die solche Erkenntnis nahelegte, sind bis heute nicht oder nur unzulänglich gezogen worden -- so hinsichtlich der
* Arzneimittelprüfung. Das Bonner Arzneimittelgesetz, seit 1. Oktober 1961 in Kraft, schreibt für jedes Medikament, das neu In den Handel kommt, »Registrierung« beim Bundesgesundheitsamt vor. Aber nur vier fachlich geschulte Prüfer begutachten dort an jedem Werktag durchschnittlich acht Registrierungs-Anträge; ihre Arbeit ist, wie jüngst die »Stuttgarter Nachrichten« formulierten, »kaum mehr als ein papierener Verwaltungsakt«;
* Arzneimittelwerbung. Bis heute enthält das einschlägige Bonner Gesetz keine Bestimmung, die unsachliche, marktschreierische, über Gefahren hinwegtäuschende Werbung untersagen würde, wie sie im Fall Contergan zum unkontrollierten Massenkonsum eines nicht hinlänglich erprobten Medikaments geführt hat.
Jahr für Jahr wendet Westdeutschlands Pharma-Industrie schätzungsweise eine halbe Milliarde Mark, den neunten Teil ihres gesamten Umsatzes, für Werbung auf. Tag für Tag flattern den Ärzten an die zwei Dutzend Reklame-Sendungen ins Haus. Pop-bunt bemalte Nacktschöne werben für Rheumamittel ("Arlef 100"), Witzblattzeichnungen und -Verse für Schlafmittel ("Frisch steht man am Morgen auf, froh beginnt der Tageslauf -- Staurodorm").
Die Fragestellung der Studie lautete: »welche Vorstellungen und Erwartungen verbindet die Ärzteschaft mit dem Medikament und der pharmazeutischen Industrie?«
Während in Amerika Hinweise auf Gefahren und mögliche Nebenwirkungen eines angepriesenen Medikaments oft zwei Drittel der Inserat-Fläche füllen, beschränken sich deutsche Pharma-Anzeigen fast durchweg auf markige Slogans. Ungeachtet des sechs Jahre zurückliegenden Contergan-Debakels sind Suggestiv-Parolen, ein Medikament sei »sicher« (Schlafmittel »Mogadan") oder gar »ohne Risiko« (Beruhigungsmittel »Valmane"), immer noch zulässig.
Die Bonner Arzneimittelgesetzgebung, so hatte Ludwig Hamm, bis 1965 Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag, formuliert, gehe »von der verantwortungsbewußten Zusammenarbeit zwischen Industrie, Apotheke und Arzt aus
Die Wahrheit Ist, daß Westdeutschlands Ärzte ihr Vertrauen in die pharmazeutische Industrie als Partner des ärztlichen Heilauftrags weithin verloren haben. So ergab eine Meinungsstudie*, die Deutschlands Pharma-Firmen im Herbst 1966 vornehmen ließen und deren Ergebnisse sie verständlicherweise geheimhalten, daß den Ärzten ihre »Rolle des eigenverantwortlichen und unabhängigen Partners der Industrie ... heute mehr denn je gefährdet, wenn nicht gar schon völlig ausgeschlosssen« erscheint.
Weitere Befunde: »Der Praktiker fühlt sich abhängig vom Medikament, nur noch als Verteiler und nicht mehr als Arzt. Aber auch als Verteiler fühlt er sich unzureichend gerüstet, weil er in seiner pharmakologischen Ausbildung mit der Medikamentenentwicklung nicht Schritt zu halten vermag.« Und: »Die Industrie erscheint für die Ärzte... als gewinnstrebig kapitalistisches Unternehmen, als Widersacher bei der Wahrung der Volksgesundheit« als produktions- und zweckgebundene Forschungsstelle ohne Grundlagenforschung.«
Ganz im Geiste der Pharma-Industrie« die jede Erweiterung staatlicher Arzneimittelkontrolle als Hemmnis für den wissenschaftlichen Fortschritt zu disqualifizieren und zu verhindern sucht, rühmte sich Gesundheits-Politiker Hamm, der Ausschuß habe unter seiner Leitung »einen harten Kampf um die Erhaltung der Herstellerverantwortung geführt«.
Vieles aber, was nun im Alsdorfer Gerichtssaal zur Debatte stehen wir spricht dafür, daß die Pharma-Industrie über den Konflikt zwischen dem öffentlichen und ihrem eigenen ökonomischen Interesse nicht erhaben, daß sie in der Rolle des Richters In eigener Sache überfordert ist.
Unvorhersehbares, wie es das Einschlafmittel Contergan hervorbrachte, läßt sich auch für die Zukunft nicht vollends ausschalten. Aber auch das mögliche Maß an Vorsorge, wie es nach dem Fall Contergan geboten war, ist bislang versäumt worden.
In diesem doppelten Sinn zog Heinz Weicker, Professor für Humangenetik an der Universität Bonn, ein beunruhigendes Fazit: »Ein Unglück wie die Contergan-Katastrophe kann uns jederzeit wieder treffen.«