Titel Chinas gefährlicher Sommer
Der Mann, der China erklären kann, sitzt im Séparée eines alten Teehauses in Peking, er thront an einem antiken Tisch, auf dem ein Laptop steht, Schwarzweißfotos hängen an den Wänden, Seidenkissen zieren die Bänke, durchs Land draußen zieht die Fackel, das olympische Feuer, es kriecht auf Peking zu. Der Mann sagt, der Westen mache es sich zu leicht mit China, mit seiner ungeheuren Komplexität, er sagt: »In diesem Land ist jede Bewegung eine am Abgrund.«
Um den Mann sitzen, im Nebenraum des Teehauses, eine Frau, die sich zum Christentum bekennt, ein junger Chinese, der im Ausland Politik studiert hat, ein westlicher Anwalt ist da, ein afrikanischer Diplomat. Es wird sechs Stunden lang Tee getrunken werden, man wird Nüsse knabbern und getrocknete Oliven, und der Mann wird reden über sein Land, kritisch und liebevoll, über den steilen, steinigen Weg, auf dem sich alles befinde, er wird sagen, dass China sehr wahrscheinlich auseinanderbräche ohne die ordnende Hand der Partei und dass es Geduld brauche, Weisheit und, sagt er, auch Glück.
Der Mann wird keinen Namen haben, er will anonym bleiben, weil seine Verbindungen hinaufreichen in die höchsten Kreise von Partei und Regierung und weil jetzt, so kurz vor Olympia, alle Worte vermint sind. Er kennt die Bonzen und die Bauern an der Macht, denn er ist selbst der Sohn eines einst sehr Mächtigen, der noch zu Maos Lebzeiten in Ungnade fiel. Der Sohn, er mag um die fünfzig sein, führt jetzt das Leben der Boheme, aber er hält doch noch immer die Finger im großen Spiel, vermittelt Kontakte, stellt Leute einander vor, und nicht irgendwelche, denn er kann ein und aus gehen in den Palästen rund um den Tiananmen, den Platz des Himmlischen Friedens.
Der Mann spricht über China, in holprigem Englisch, und während er spricht, am Leib eine Seidenbluse nach altchinesischer Manier, stellt sich bald der Eindruck ein, dass dieses Land - nach 30 Jahren sagenhaften Wachstums, nach Jahrzehnten märchenhafter Erfolge, nach einer Epoche des wirtschaftlichen Höhenflugs - an einem Scheideweg steht, schon wieder, womöglich am Abgrund, ausgerechnet in diesem Olympia-Jahr 2008.
Es hat nicht gut begonnen, und danach ging alles immer schlechter weiter. Gleich im Januar und Februar brach in Chinas Süden aller Verkehr nach verheerenden Schneestürmen zusammen. Der März brachte den Aufstand der Mönche in Tibet, im April wurde die Fackel durch London gejagt, durch Paris und San Francisco, China sah hässlich aus draußen in der Welt, es war ein Kordon joggender Sicherheitsleute in Trainingsanzügen, und zu Hause schauten sie so wütend wie machtlos dabei zu. Im Mai bebte furchtbar die Erde unter Sichuan, 70 000, 80 000 Menschen wurden erschlagen, verschüttet, den ganzen Juni über kämpfte China mit den Nachbeben, mit gefährlichen Stauseen, die sich gebildet hatten, und im Juli nun macht sich, auf der Zielgeraden zu den Spielen, ein Gefühl der Erschöpfung breit.
Die »Reise der Harmonie«, wie sie den Fackellauf getauft haben, geht auf ihre allerletzte Etappe, in diesen Tagen wird das olympische Feuer das Ziel erreichen, das »Vogelnest« im olympischen Grün, nach 40 000 Kilometern Staffellauf durchs ganze Land, nach einer Weltflugreise zu allen fünf Kontinenten. Aber die Freude über den Beginn der Spiele von Peking ist seltsam gedämpft, die Stimmung gedrückt, und das liegt nicht nur am schlimmen ersten Halbjahr 2008.
Es ist, als kämen viele verdrängte Fragen zurück und als stellten sich täglich neue, noch drängendere. Es erscheint kühn zu sagen, dass sich China seit der Jahrtausendwende fast in gleichem Maße reformiert wie ruiniert hat, und doch stimmt es. Die Katastrophen, von denen die ökologischen nur die erschütterndsten sind, sind wie der neue Wohlstand Ausfluss des Aufschwungs, und sie lassen sich auch hinter den neuen Palästen des Konsums und des Sports nicht mehr verstecken.
Die Weltbank hat errechnet, dass in China im Jahr 750 000 Menschen an den Folgen der Umweltverschmutzung sterben. 700 Millionen Chinesen, heißt es, haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser mehr. Drei Viertel aller Seen im Land und die Hälfte seines Grundwassers gelten als vergiftet. 60 große Flüsse sind dabei zu versiegen, alle zusammen werden von der Industrie und dem neuen Wohlstandsmüll der Haushalte heillos verseucht.
Der Yangtze allein nimmt auf seinem Weg von Tibet bis zum Ostchinesischen Meer im Jahr 30 Milliarden Tonnen Abwässer auf. Auf der Weltrangliste der am ärgsten verschmutzten Städte finden sich 16 chinesische unter den ersten 20. In Peking ist die Feinstaubbelastung sechsmal höher als in New York. Das Land deckt seinen Energiebedarf zu 70 Prozent aus der Verbrennung von Kohle, 2,4 Milliarden Tonnen wurden im Jahr 2006 verfeuert, etwa 40 Prozent der Weltproduktion, und dabei sind Fabriken und Kraftwerke erbärmlich ineffizient.
Die chinesische Führung selbst hat errechnet, dass die Industrie im Land bei der Herstellung ihrer Güter siebenmal mehr Energie verbraucht als vergleichbare Betriebe etwa in Japan. Dass sie derlei zwar erkennt, aber dagegen machtlos wirkt, wirft wiederum neue, schwierige Fragen auf. Es ist, als beherrschten Chinas Partei und Regierung die Geister nicht mehr, die sie riefen; die Geister, die Deng Xiaoping rief vor 30 Jahren, im Jahr 1978, als die Parole der persönlichen Bereicherung erstmals ausgegeben wurde.
Im Jahr 30 nun, nachdem sich Chinas Milliardenvolk auf den kurzen, eiligen Marsch in die »Sozialistische Marktwirtschaft« machte, sieht es zum ersten Mal so aus, als stünde das merkwürdige chinesische Modell auf der Kippe, Diktatur und Kapitalismus zu verbinden, die Kräfte des Marktes im Dienste der Partei zu instrumentalisieren, eben jetzt, da die Olympischen Spiele seinen strahlenden Sieg markieren sollten. Und die Frage wird sein, in den nächsten Wochen, ob die größte Show der Welt den Widerspruch zwischen Markt und Diktatur, zwischen Ökonomie und Politik weiter zuspitzen oder vorerst versöhnen wird.
Darüber reden sie im Séparée des alten Pekinger Teehauses, wo der Mann thront, der so viel über China weiß. Es überrascht dabei, wie genau sie alle die Probleme benennen. Der Gastgeber, die Christin, der junge Politologe - sie debattieren darüber, wie China zu bewahren und mit dem Rest der Welt zu versöhnen wäre. Aber es sind dabei Gespräche, wie man sie als Deutscher aus den späten, nicht den letzten Jahren der DDR kennt.
Der Staatsführung wird noch immer zugetraut, dass sie die Probleme bewältigen kann, und es wird ihr zuerkannt, dass die Herausforderungen riesig sind. Dass aber das ganze System, der komplette politische Überbau am Ende einstürzen könnte, ist selbst für viele seiner schärfsten Kritiker noch immer unvorstellbar. Wer China bereist, in diesen Wochen, in denen die Fackelläufer das olympische Feuer nach Peking tragen, erlebt ein Land, das schon wieder im Umbruch ist, doch nun ist es nicht mehr die politische Führung, die für Bewegung sorgt. Jetzt ist es die Gesellschaft, die sich regt, bedrängt von Problemen, bestärkt durch Erfolge, unterwegs in ein Leben, dessen neue Koordinaten noch unbekannt sind.
Wenn sich Kent Chen, der Generaldirektor des Shanghaier Pilz-Exporteurs Pan-Globle, über seine Bücher beugt, sieht er, dass es ein Problem gibt. Chen ist ein schmaler, scheuer Mann, der ruppig Englisch spricht und seine Märkte kennt. Das Spitzenprodukt der Firma ist der Shiitake, getrocknet oder frisch, ein fleischiger Pilz mit brauner Kappe und eigenem Geschmack, wie ihn die asiatische Küche braucht. Pan-Globle war schon kurz nach der Gründung im Jahr 2000 Chinas größter Shiitake-Exporteur, 2000 Tonnen Jahresproduktion, davon ging der Großteil nach Japan.
Die Japaner haben vor sechs Monaten einen Importstopp verhängt, weil sich in Pilz-Lieferungen aus China Formaldehyd und enorme Mengen Schwermetalle fanden. Die Pilz-Exporteure fanden sich mit einem Schlag in der Situation der Spielzeugfabrikanten wieder, die schon seit Jahren mit dem Made-in-China-Stigma kämpfen. »Gift in Pilzen«, sagt Chen, »das ist das Letzte, was ich brauchen kann.«
Er sitzt in einem Bürocontainer am nordöstlichen Rand von Shanghai, die Stadt beginnt hier auszufransen in Industriebrachen und räudige Felder, von fern sind die Schlote gewaltiger Stahlwerke zu sehen. 200 Leute arbeiten für ihn, meist Mädchen aus Fujian und Yunnan, Provinzen mit großer Pilz-Tradition, sagt Chen. Teils sind es die Töchter der Bauern und Sammler, von denen er seine Ware kauft, sie schlafen in Baracken auf dem Fabrikgelände, zwischen denen zarte Wäsche auf gespannten Schnüren trocknet.
In der Fabrik sitzen die Arbeiterinnen unter Neonlicht in fensterlosen Räumen zu Dutzenden um große Tische, es ist nicht mehr so leicht wie noch vor vier, fünf Jahren, sagt Chen, billige Kräfte zu finden. Außerdem hat die Regierung Mindestlöhne verordnet, die Mädchen verdienen jetzt 1600 Yuan, 150 Euro, das ist dreimal so viel wie am Beginn des Jahrzehnts. Und während sie früher hier ankamen wie Bettler, sagt Chen, haben sie nun den Kopf voller Ideen, und manche von ihnen kündigen sogar nach kurzer Zeit, »weil sie unzufrieden sind, das muss man sich vorstellen!«
Während der Arbeitsschichten haben die Frauen Berge getrockneter Pilze vor sich, in Räumen wie Operationssäle. Die Ware wird per Hand in 30-Kilo-Säcke sortiert, eine Lieferung für Südkorea muss eben fertig werden, an der Wand hängen Parolen, die sich Kent Chen selbst ausgedacht hat: »Wenn unsere Ware keine Qualität hat, ist sie Abfall« und »Erfolg liegt im Detail«.
Chen ist unruhig, das ist spürbar, er hätte Lust, ganz offen zu reden über das schlechte Wasser, das den Pilz-Züchtern zu schaffen macht, über die Versäumnisse der Regierung beim Umweltschutz, überhaupt: über die Regierung. Er setzt dazu an, immer wieder, stoppt sich aber dann selbst beim Reden, es gehört sich nicht für einen Chinesen, schlecht über das eigene Land zu sprechen, und außerdem ist es gefährlich. So sagt Chen nur: »Wir haben Qualitätsprobleme«, und: »Die Regierung kann ihre Arbeit noch besser machen.« Es sind Worte, gesprochen in einem Ton unterdrückter, kalter Wut.
Die Regierung kennt diese Tonlage längst, und sie kann den Unmut der Leute nicht mehr einfach nur ignorieren. Die Berichte über »Zwischenfälle« häufen sich, selbst in Staatsmedien. Elizabeth Economy, eine der besten China-Kennerinnen weltweit, hat in der renommierten US-Zeitschrift »Foreign Affairs« jüngst ein aufregendes Tableau der Lage gemalt. Im ganzen Land rege sich Widerstand angesichts des ökologischen Desasters und der Ohnmacht der Regierung. Allein im Jahr 2005 habe die Staatsmacht auf 51 000 kleine und große Protestaktionen reagieren müssen.
Im Frühjahr, damals, 2005, fielen 30 000 Demonstranten in der Zhejiang-Provinz an der Ostküste über 13 Chemiefabriken her, um sie zu demolieren, und es brauchte den Einsatz von 10 000 Soldaten, um die Lage zu befrieden. Ein Jahr darauf probten sechs Dörfer in der zentral gelegenen Provinz Gansu den Aufstand, auf Kundgebungen verbündet gegen die Zink- und Eisenhüttenwerke der Region, vor deren Abgasen und Abwässern sie sich fürchteten, und auch das war nur ein einziger isolierter »Zwischenfall« von womöglich Hunderten, die sich in China tagtäglich ereignen, ohne dass die Welt davon erfährt.
In Xiamen, einer kleinen Millionenstadt, an der Straße von Taiwan gelegen, soll es im Mai vorigen Jahres Professoren und Studenten gelungen sein, eine Million Textnachrichten an die Mobiltelefone ihrer Mitbürger zu versenden, um sie zu einer Demonstration gegen den Bau einer neuen Petrochemiefabrik am Stadtrand aufzurufen. Wirklich fand im Juni vor einem Jahr eine große Demonstration statt, 10 000, vielleicht 20 000 Leute marschierten, es gibt davon verwackelte Videos auf YouTube, und es darf als sicher gelten, dass Chinas Partei- und Regierungsapparat panische Angst vor solchen Bildern hat.
Die Bilder sagen: Es geht etwas vor, etwas Unheimliches, für chinesische Verhältnisse Unerhörtes. Und es hat damit zu tun, dass die Staatsführung jetzt häufiger die Kontrolle verliert, weil der Kapitalismus die Untertanen verwandelt. Sie nehmen sich, durch eigenes Unternehmertum gestärkt und in der neuen Warenwelt des käuflichen Konsums mit Wahlfreiheit bekannt gemacht, das Recht auf politischen Protest, die Lizenz zu praktischer Politik vor der eigenen Haustür.
Xiamen ist eine schläfrige Küstenstadt, aufgeputzt mit spiegelnden Hochhäusern, entlang den Promenaden am Wasser stehen große Propagandaplakate, die Chinas Präsidenten Hu Jintao in einem roten Meer zeigen, die Parole dazu heißt: »Lasst uns die kommunistische Fahne hochhalten und hart arbeiten für eine bessere Zukunft«. Die Stadt ist von Wasser durchzogen, es gibt heitere, vorgelagerte Inseln und vor allem frische Luft. Xiamen ist die angeblich sauberste Stadt Chinas, und wer aus den verpesteten Großstädten kommt, aus Shanghai, Chengdu oder Peking, kann das bei der Ankunft riechen.
Im alten Villenviertel sind die Preise für Immobilien binnen fünf Jahren von 6000 auf über 25 000 Yuan pro Quadratmeter gestiegen, auf über 2000 Euro, das ist für die Verhältnisse der chinesischen Provinz unfassbar viel. In die Villen, in denen noch vor kurzem Großfamilien wohnten, sind jetzt Restaurants eingezogen mit Namen wie »Buon Appetito« oder »Elegant«, und wer durch das Viertel geht, könnte sich ein paar Schritte lang in Australien glauben und an manchen Ecken selbst in Europa.
Ein wenig weiter abseits sitzt Herr Wu vor seinem Muschel-Restaurant, zwischen Aquarien und Plastikeimern gefüllt mit Schalengetier, er spielt Würfel mit einem Gast und trinkt Bier aus großen Flaschen, während sein Bruder blumige Reden auf die Völkerverständigung hält. Herr Wu, der Bruder, arbeitet als Manager in einem Schnellimbiss, er spricht über Frieden und Liebe und darüber, dass er »Helmut Kohl«, er sagt: Helmut Kohl, »für seinen Kniefall in Warschau« bewundere. Niemals, sagt er, werde es Krieg geben in der Straße von Taiwan, »wir sind alle Chinesen«, sagt er, »und so wird das auch bleiben«.
Das Erdbeben von Sichuan ist noch nicht lange her, es ist Thema im ganzen Land, es wird auch die Spiele von Peking noch überschatten, in Wus Muschel-Restaurant haben alle Angestellten Geld und selbst Blut gespendet für die Opfer. »Wir müssen zusammenstehen«, sagt Herr Wu, »als Volk, als Nation. Vor uns liegen die Olympischen Spiele, und es soll doch ein Fest werden für die ganze Welt.«
Zum Thema Tibet sagt Herr Wu nichts, und er verbietet den Freunden am Tisch das Wort, wenn sie erklären wollen, warum in China jetzt Carrefour-Märkte boykottiert werden. Hat er voriges Jahr eine SMS bekommen? Herr Wu tut verwundert. Eine SMS wegen der petrochemischen Fabrik? Den Demonstrationsaufruf? »Ich bekomme viele Nachrichten jeden Tag«, sagt Herr Wu, »und meine Antwort ist: Ich wäre ganz bestimmt nicht hingegangen.«
Trotz der Meldungen über Proteste wäre es falsch anzunehmen, dass die neue Aufmüpfigkeit der Chinesen grundsätzlich gegen Partei und Regierung gerichtet ist. Tatsächlich gehen nur kleine Splittergruppen mit den reinen Prinzipien der Demokratie hausieren. Selbst junge, gutausgebildete Städter interessieren sich wenig bis gar nicht für Wahlrecht, Meinungsfreiheit und Menschenrechte, sondern mehr für Wirtschaftswachstum, Inflation und Aktienkurse, und höchstens für deren Vereinbarkeit mit einem ungestörten, friedlichen, gesunden Leben.
Praktisch niemand, den man sprechen kann, und auf dieser Recherchereise allein fanden gewiss 60 Gespräche mit Chinesen unterschiedlichster Hintergründe statt, hätte Zweifel daran, dass »ein Land wie China«, so riesengroß und komplex, klare Ordnung und starke Führung braucht, weil es andernfalls auseinanderflöge. Es ist derzeit in China, als hätten Volk und Führung einen Deal abgeschlossen, der ungefähr nach der Formel funktioniert: Solange ihr uns gut leben lasst, lassen wir euch am Leben. So ist das China von heute ein Staat, der nach aller Theorie keine Demokratie ist, dessen Gesellschaft sich aber jedes Jahr ein paar mehr quasidemokratische Rechte erobert und erobern darf.
Die Partei, die Führung, sie greifen nur in Einzelfällen hart und symbolisch durch, sind generell aber zum Dulden verurteilt in einem Land, so groß, dass Europäer dafür keine griffigen Messgrößen haben. Wenn eine deutsche Kanzlerin Peking besucht, kommt sie in ein Land, in dem ihr eigenes der Fläche nach nur die neuntgrößte Provinz wäre. Die ganze Landmasse der Europäischen Union mit ihren 27 Staaten ist nicht einmal halb so groß wie China.
Ein solches Land kann nur zusammenhalten, wenn seine Einwohner zusammenhalten wollen. Kein Partei- und Spitzelapparat, keine Militärmaschine der Welt, auch die chinesische nicht, könnte 1,3 Milliarden Menschen gegen ihren Willen zusammenzwingen. Deshalb ist im Jahrzehnt vor den Olympischen Spielen von Peking ein seltsamer staatlicher Zwitter gewachsen, eine Diktatur, die vom Wohlwollen der Untertanen abhängig ist, ein Einparteienregime, das nur durch harte Arbeit am Gemeinwohl überleben kann, ein Land des unausgesprochenen politischen Deals.
Aber die Partei sieht sich wachsenden Zweifeln gegenüber, nicht zuletzt, weil sich das wirtschaftliche Wachstum verlangsamt, verlangsamen muss. Die Volksführer, voran Premierminister Wen Jiabao, Präsident Hu Jintao, viele Minister und Politkommissare, halten laufend Reden darüber, dass der Fortschritt nachhaltiger, besser, dass er entschleunigt werden müsse. Tatsächlich beschließt die Partei fortlaufend kühne Projekte, der Volkskongress nickt ehrgeizige Fünfjahrespläne ab, aber fortlaufend wirkt es, als hätten die Führer die Kontrolle über deren Umsetzung verloren.
Im Jahr 2001 wurde etwa das Ziel formuliert, Chinas Schwefeldioxid-Emissionen bis 2005 um 10 Prozent zu senken, tatsächlich aber stieg der Ausstoß bis zum Stichtag um 27 Prozent. Solche Beispiele ließen sich viele aufzählen, zahlreich sind die Gesetze mittlerweile, die der Industrie scharfe Umweltauflagen machen, die die Provinzgouverneure anhalten, den schlimmsten Umweltsündern die Lizenzen zu entziehen, »grüne« Energien zu fördern, »neu« zu denken, aber es geschieht wenig bis nichts.
Nur zehn Prozent der einschlägigen Gesetze, heißt es, würden wirklich angewandt. Die Vorhaben gehen unter auf dem Weg durch die Apparate; Fabrikanten zahlen lieber Strafen, als in neue Technik zu investieren, und lokale Parteiführer ziehen es vor, sich bestechen zu lassen, statt die richtige Politik ins Werk zu setzen. Aber auch das Volk, jeder Einzelne, trägt seinen Teil der Verantwortung.
Im Irrglauben, sich in der Wunderwelt des Kapitalismus ausschließlich und straflos bedienen zu können, verprassen viele Chinesen bedenkenlos jedweden Rohstoff. Wer zu Geld kommt, baut sich Bäder ins Haus, die so viel Wasser verbrauchen wie eine kleine Landwirtschaft, und landauf, landab ist binnen weniger Jahre eine Wegwerfgesellschaft gewachsen, gegen die sich europäische Städte wie Öko-Dörfer ausnehmen. Staatliche Auflagen werden ignoriert, umgangen oder gleich auf kriminellem Weg ausgehebelt.
Die Quittungen dafür können bitter ausfallen, und eine davon wurde beim Erdbeben von Sichuan ausgestellt.
Dort wuchs in den Tagen nach dem großen Schlag der Hass der Opfer auf die lokalen Behörden und Bauunternehmen. Zeitungen in Hongkong, und nur dort, brachten Berichte darüber, dass sich Bürgermeister und Bauräte von Unternehmern hatten bestechen lassen, damit sie es mit den Auflagen nicht so genau nähmen. Trotz der Zensur sickerte durch, dass vor allem die Schulhäuser und Kindergärten und auch viele erst kürzlich gebaute Hospitäler im Moment der Erdstöße wie Kartenhäuser einstürzten, weil sie zu schnell und zu schlecht gebaut waren.
Es machten sich Eltern verschütteter Kinder zu Protestzügen auf, Witwen randalierten vor Parteibüros, ganze Dörfer standen gegen ihre kommunalen Fürsten auf. In Dujiangyan, einer hart getroffenen Stadt nordwestlich der Provinzhauptstadt Chengdu, stand Herr Hua vor der Ruine des Krankenhauses, in dem 300 Patienten, Ärzte und Pfleger gestorben waren, und er sagte, laut und demonstrativ: »Wenn ich könnte, würde ich den Gouverneur umbringen.« Und er redete selbst dann noch weiter, als ein Soldat herantrat und ihm den Mund verbieten wollte. »Der kann mich mal«, sagte Herr Hua, und dann rief er wieder, nur noch lauter: »Wenn ich könnte, würde ich den Gouverneur umbringen.«
Später ging das Bild von Jiang Guohua um die Welt, dem Parteichef von Mianzhu, nahe am Epizentrum, wie er seine Mitbürger auf Knien bittet, ihre Proteste zu beenden. Aber das Foto zeigte auch die Demonstranten, wie sie ihm Bilder ihrer Toten hinhalten, wie sie ihm ins Gesicht schreien. Die Welt ist solche Szenen aus China nicht gewöhnt. Aber sie wird sich daran gewöhnen müssen. Die Chinesen lassen sich mit Gesten, und seien es solche der Demut, nicht mehr beschwichtigen. Sie wollen Taten sehen, sie wollen Schutz von der Partei, von der Regierung, an die sie so viele Rechte abgetreten haben. Sie wollen, dass sich der Staat hält an den chinesischen Deal.
Angelica Cheung ist die Chefredakteurin von »Vogue« China, sie trägt die Haare asymmetrisch geschnitten, um ihren Hals hängt ein christliches Kreuz aus Silber, sie ist eine weltläufige, einnehmende Frau. Wenn sie über ihre Leserinnen spricht, klingt es wie grobe Soziologie. Es gebe jetzt, sagt Cheung, eine schnell wachsende Gruppe mit Geld, die sich die in »Vogue« gezeigte Ware wirklich leisten könne, junge Businessfrauen, die in Shanghai oder Shenzhen arbeiteten, in Thailand Urlaub machten und zum Shopping nach London flögen. Und daneben gebe es das Heer mittelloser Mädchen, Arbeiterinnen, Bauerntöchter, die die zwei Euro, 20 Yuan, für ein Heft zusammenlegten, um sich für einen Nachmittag lang aus ihrem Alltag fortzuträumen.
Angelica Cheungs kühles, kleines Büro liegt im Zentrum von Peking, in einem brandneuen, schneeweißen Bürokomplex, wo die Lobby mit Marmor gefliest ist. Die krumme neue Zentrale des Staatsfernsehens der Stadt steht ganz in der Nähe, vor den Fenstern quält sich dichter Autoverkehr über Straßen breiter als deutsche Autobahnen. Auf einem Stuhl im Büro steht ein großer Strauß weißer Rosen, geschickt von Balenciagas Chefdesigner. Ihre eigene Mutter, sagt Cheung, fände es noch immer unanständig, ein extravagantes Leben zu führen. »Sie will nicht verstehen, dass es heute nicht mehr nur ums bloße Überleben geht.«
Dass es jetzt ziemlich viele ziemlich extravagante Yuppies gibt, die in den Cafés von Shanghai ihre iPhones aufladen und hauchfein parfümiertes Wasser aus Frankreich trinken, während entlang dem Gelben Fluss bettelarme Bauern verrecken, weil der Strom versiegt, macht Angelica Cheung durchaus zu schaffen. Sie sagt deshalb Sätze, die von einer »Vogue«-Chefin eher nicht zu erwarten wären. »Natürlich denke ich manchmal darüber nach, alles hinzuschmeißen und mich einem Kinderhilfswerk anzuschließen«, sagt sie. »Aber all die Widersprüche, wissen Sie, in China, und überhaupt, das ist das Business, es ist das Leben, was soll ich groß darüber sagen, und was kann ich allein schon tun?«
Wie alle Medien untersteht auch »Vogue« der staatlichen Zensur. »Wir haben damit nicht viel zu tun«, sagt die Chefredakteurin, »aus naheliegenden Gründen.« Konfliktfälle können sich ergeben, wenn auf einer Fotostrecke zu viel Haut zu sehen ist, ansonsten wird ihr Blatt stets unbeanstandet durchgewinkt. Die Artikel und Bilder erzählen vom neuen, strahlenden China, mit einheimischen Top-Models, eigenen Stars, eigenen Modedesignern. Cheung kann jetzt auch Chinesinnen auf dem Titelblatt zeigen, ohne um die Auflage fürchten zu müssen. »Liu Dan verkauft sich genauso gut wie Kate Moss«, sagt sie, »das wäre vor fünf Jahren sicher noch anders gewesen.«
Es gibt ein neues Selbstbewusstsein der Chinesen, es zeigt sich auf allen Feldern. Gewiss schürt die staatliche Propaganda den Nationalismus, wo sie ihn brauchen kann, den Stolz auf das eigene Land aber muss niemand verordnen. Hart haben sich die Chinesen zu Hunderten Millionen ihren neuen Wohlstand erarbeitet, und sie lassen ihn sich nun nicht einfach madig machen durch Meinungen über Menschen- und andere Rechte.
Wer die harschen Reaktionen im Land auf die weltweiten Tibet-Proteste verstehen will, muss sich vor Augen halten, dass die allermeisten Chinesen in Tibet, auch dank der Zensur, nur einen selbstverständlichen und dabei sehr schönen Teil Chinas sehen. Die Provinz ist berühmt für ihre Berge und kristallklaren Seen, sie gilt als eine Urlaubs-, nicht als eine Unruheregion. Dass es »Probleme« gibt, ist im Land so gut wie unbekannt, und wer vom Dalai Lama überhaupt gehört hat, sieht in ihm ungefähr das, was ein Brite in einem IRA-Mann sieht.
Einer der Shanghaier Yuppies, die auf Einladung des SPIEGEL zu einem Abendessen gekommen sind, sagt das so; zehn Leute um einen schicken, großen Tisch im französischen Viertel der Stadt, es gibt Yunnan-Küche und wieder die Zusicherung, keine Namen zu nennen, weil gerade in diesen Wochen vor den Olympischen Spielen jedes Zitat gefährlich werden kann. Der Mann, der über den Dalai Lama spricht, ist Architekt, er kann fließend Deutsch, weil er acht Jahre in München studiert hat, er sagt: »Ich habe, ehrlich gesagt, erst in Deutschland zum ersten Mal davon gehört, dass man mit Tibet ein Problem haben kann.«
Er hat bis heute trotzdem keines damit. Die Forderung nach Unabhängigkeit sei »völlig lächerlich« sagt er, »illusorisch«, und was den Dalai Lama angehe, könne man viel über ihn sagen, aber gewiss nicht, dass er ein guter Diplomat sei. Der Architekt hat eine Frau und einen Hund, mit denen er für 4000 Yuan Monatsmiete, 370 Euro, auf 140 Quadratmetern wohnt, das ist üppig für Shanghaier Verhältnisse, beides, der Preis und die Fläche.
Seine Frau, die neben ihm mit am Tisch sitzt, sagt, dass sie Ingolstadt viel schöner finde als Wien, weil es in Ingolstadt so viele Blumenkästen vor den Fenstern gebe. Beide lieben Deutschland sehr, sagen sie, allein schon deshalb, weil die Menschen dort an den Sonntagen zum Brunch ausgehen mit ihren Kindern, während die Kleinen in China immer nur zu den Großeltern abgeschoben würden.
Sie dürften selbst, als Ein-Kind-Politik-Kinder, geboren 1978 und 1981, zwei Kinder haben, das ist die Regel, tatsächlich gibt es sehr viele Ausnahmen von der Ein-Kind-Politik. Bauern dürfen häufig zwei Kinder haben, Menschen kleiner Minderheiten drei; insgesamt, heißt es, unterliegen nur noch 40 Prozent der Bevölkerung der Ein-Kind-Politik, das kann nur heißen, dass China immer weiter wachsen wird. Wird es ihnen nicht zu eng? »Es gibt Probleme«, sagt der Architekt, »es wird Probleme geben. Aber China wird der Welt bald auch zeigen, dass es nicht nur Probleme schafft, sondern auch lösen kann, durch Fortschritt, durch Wissenschaft.« Genauso, fast wortgleich, redet die Partei. »Ich bin nicht in der Partei«, sagt der Architekt, »und ich will auch nichts mit ihr zu tun haben. Ich rede als Bürger.«
Ein anderer in der Runde, ein Manager, der vor seiner Rückkehr nach China vor drei Jahren lange in den USA gelebt hat und der jetzt gewaltige Werbeetats für westliches Fast Food mit vollen Händen ausgeben darf, erzählt von seinem Kulturschock. Er habe das Land, sein Land, China, nicht wiedererkannt. Die Entwicklung sei unfassbar und großartig, und er verstehe nicht, warum der Rest der Welt dazu nicht endlich einmal gratuliere.
Aber der Aufschwung, sagt der Manager, komme an ein Ende jetzt. »Glauben Sie keiner offiziellen Zahl, die sind alle falsch, das sehe ich allein aus unseren Bilanzen.« Es sei in diesem Jahr, im Olympia-Jahr, zum ersten Mal so, dass die Inflation die höheren Löhne gleich wieder auffresse. »Die Leute haben jetzt zum ersten Mal seit Jahren weniger Geld«, sagt er, »und das merkt man überall. Wenn man in seiner Stadt an 20 Prozent Wachstum gewöhnt ist, fühlen sich 8 Prozent schon wie eine Krise an. Und das wird noch schlimmer werden.«
Der anhaltende sorglose Aufschwung geht vorüber - und ist dabei der wichtigste Teil des Deals zwischen Führung und Volk. Wenn die Partei nicht fortgesetzt immer mehr Wohlstand liefern kann, wird ihre Arbeit in Frage gestellt werden. Und es sind dann bald nicht mehr nur unzufriedene Bauern, die sich in unbeholfenen Aktionen Luft machen, sondern es werden verbürgerlichte Eliten auf den Plan treten, die als Ventil für ihren Unmut bessere, gefährlichere Wege finden. Die Zahl der Gerichtsverfahren Bürger gegen Staat wächst rapide, die Medien haben sich während des Erdbebens, als die Pekinger Führung erst alle Berichterstattung verbieten wollte, emanzipiert. Die Reporter fuhren trotzdem, auf eigene Faust, fast wie im Westen. Das Land lässt sich mit Drohungen nicht mehr einfach so regieren.
Wenn in dieser Woche die Olympischen Spiele eröffnet werden, wird deshalb nach außen hin die symbolische Ankunft Chinas auf der Weltbühne gefeiert, die Rückkehr ins Konzert der großen Nationen, wie das seit Jahren minutiös geplant wurde. Aber dieses Bild wird nach innen im selben Augenblick brüchig. Es gibt schon Stimmen im Land, und es sind gewiss nicht wenige, die die Spiele nur als »Konjunkturprogramm« für Peking verspotten, auch die Yuppies am Tisch in Shanghai sehen das so, sie kritisieren den olympischen Kraftakt als sinnlos angesichts der nicht symbolischen handfesten sozialen, ökologischen, politischen Probleme, die im Land anzugehen wären.
Es kehrt ein Gefühl dafür zurück ins Land, dass die glitzernden Bürotürme China nur als Zerrbild spiegeln. Denn China ist noch immer vor allem ein Land der Bauern, der tiefen Provinz, und wer nur einmal gesehen hat, in welchen Verhältnissen kleine Reispflanzer in Jiangxi leben oder wie sich Landfrauen in Yunnan durchs Leben schlagen, die Nacht für Nacht ihre Holzschubkarren zum Blumenmarkt von Kunming schieben, dem stockt der Atem vor der sozialen Kluft, vor den Widersprüchen, den Schieflagen, die sich im heutigen China überall einstellen.
Hier im tiefen Süden, in Kunming, der Provinzhauptstadt von Yunnan, führt Chinas Regierung vor, wie sie sich Minderheitenpolitik vorstellt. Die Region grenzt im Westen und Süden an Burma, Laos und Vietnam, 25 Ethnien leben hier zusammen, ohne Vorkommnisse, es sind kleine Gruppen mit Namen Yi und Bai, Miao und Zhuang, im Stadtbild von Kunming fallen sie kaum auf, ihre Hautfarbe ist mal dunkler, mal heller, ihr Gesichtsschnitt variiert leicht, aber im Yunnan Minority Village am Stadtrand dürfen sie sich zeigen in voller Tracht und ihre Besonderheiten vor zahlenden Besuchern ausleben.
Li Eyima führt durch den Themenpark, eine schöne Tibeterin aus Shangri-La, sie trägt eine weiße Fuchsmütze auf dem Kopf und um den Leib Seidentücher mit regenbogenfarbenen Bordüren. Sie ist eines von 80 Mädchen, die die Besucher hier zu den falschen Dörfern und den Andenkenläden führen. Es geht über Brücken, vorbei an Fabeltieren aus Stein und Holz, zu steinernen Plätzen, auf denen die Geister hausen, man kann auf Elefanten reiten oder trommeln auf Kuhschädeln, wie das der Stamm der Wa angeblich tut.
Li Eyima lächelt stets und sagt: »Welcome to China.« Im Minderheitendorf arbeitet sie seit vier Jahren, zuvor hat sie drei Jahre die Tourismusschule besucht. Sie verdient jetzt 1500 Yuan, 140 Euro, im Monat, sie hat ein Ein-Zimmer-Apartment in der Stadt für 200 Yuan, und eigentlich träumt sie davon, nach Macau zu gehen, um dort in den Casinos reich zu werden. Gern spricht sie über ihren Traummann, und sie hat sehr handfeste Vorstellungen von ihm. Er müsse eine Wohnung haben, ein Auto, gut aussehen, ihr immer Geld schenken und hundertprozentig gehorchen, sagt sie, in dieser Reihenfolge, kokettiert dann ein bisschen und fragt: »Bin ich zu gierig?«
Der Weg nach Tibet führt durch die Spaßzone des Parks, dort sind große Wasserrutschen aufgebaut, man könnte rudern über einen künstlichen See. Das tibetische Themendorf besteht aus ein paar Bauten mit den typischen Dachgiebeln, den Fassadenmalereien um die Fenster, es ist ein Montag nach dem Erdbeben von Sichuan, das sich am Pfingstmontag um Punkt 14.28 Uhr ereignete. Im tibetischen Tempel der Anlage sitzen um diese Zeit deshalb Mönche und sprechen Gebete. Auch Li Eyima kniet sich dazu, macht Gesten des Gesichtwaschens, zündet Räucherstäbchen an, Touristen machen schüchtern ein Bild, dann verharren auch sie, mit gesenktem Kopf.
Es gibt dann Tee mit ranziger flüssiger Butter, das gehört zum Programm, und Li Eyima macht schon beim Ansatz einer Frage deutlich, dass sich zu »Problemen« nicht äußert wird, nicht zu »Geschehnissen« in Lhasa, nicht zu Fragen der Unabhängigkeit und vor allem nicht zum Dalai Lama, kein Wort, sie schüttelt den Kopf und macht ein böses Gesicht, für chinesische Verhältnisse führt sie sich fast brutal unhöflich auf, dann sagt sie: »Ich bin dumm, ich weiß nichts über Politik.« Und das muss noch nicht einmal gelogen sein.
Minderheiten werden in China folkloristisch abgehandelt, jede Form politischer Äußerung wird als Anschlag auf die Einheit des Landes betrachtet, das wissen die Tibeter, das wissen die Uiguren im fernen Westen, sunnitische Muslime zumeist, die schärfer verfolgt werden, seit sie für ihre Rechte streiten. Man muss die Politik der Pekinger Führung kritisieren, aber man kann ihre Angst vor den 60, 70 Minderheiten im Land auch verstehen, manche so groß wie kleine europäische Völker. Wenn sie sich wirklich aufmachten, über Autonomie oder gar Abspaltung zu reden, wäre China als Staatsgebilde bedroht. Die Führung müht sich deshalb auch um das Wohlwollen selbst kleinster Gruppen, und wer es bis in die mandschurischen Wälder schafft, kann die Erfolge bezeugen.
Die Ortschaft Heihe liegt am Amur, an der fernen Grenze zu Russland, die Temperaturen dort sinken im Winter auf minus 40 Grad und noch darunter, in der kleinen Stadt ist zu lernen, dass in China allen Fliehkräften zum Trotz auch starke Bindekräfte wirken. Auch Heihe im fernen Nichts des Nordostens nimmt auf seine Weise an den Entwicklungen Chinas teil.
Ganze Neubauviertel sind in den vergangenen Jahren hier hochgezogen worden, dafür wird die »Altstadt« abgerissen, wie sie sagen, ein großer Slum aus Holzbaracken, durch den unbefestigte Wege führen, wo die Bewohner sich ihr Wasser noch aus verrotteten Brunnen schöpfen. Die neuen Häuserblocks könnten auch in Cottbus oder Lyon stehen, wer mit Leuten aus den Baracken spricht, hört Vorfreude auf den baldigen Umzug, keinerlei Nostalgie, der Fortschritt hat auch Heihe erreicht.
Wenn am Nachmittag die 800 Kinder der 3. Elementarschule ein olympisches Massenballett mit Tischtennisschlägern einstudieren und die Einwohner abends zu Hunderten auf den Terrassen entlang dem Fluss zu Discomusik Formationstänze aufführen, sieht alles aus wie ein realsozialistisches Idyll. In den endlosen Laubwäldern ringsum testen koreanische Autofirmen ihre Wagen unter Extrembedingungen, wer daran nichts verdient, führt ein Leben als Jäger und Sammler fast wie am Beginn der Menschheit. Aber der Staat hat für Behausungen gesorgt, für Dörfer mit Ärzten und Lehrern, mit Bauern und Maschinen, es ist eine wundersame Welt.
Der Boden hier oben taut erst im Mai langsam auf, ehe er im Oktober schon wieder zufriert, die Sommer sind kurz, und wer sich hineinbegibt in diese Wälder, stößt nach zwei Stunden Irrfahrt auf das Dorf Elunchun. Es gibt dort 20 Häuser und kleine Höfe, ein Rathaus, eine Schule, ein Museum und eine Gastwirtschaft, die Hu Zhenbing betreibt, ein Mann wie ein Schrank, der im Winter hoch zu Pferd auf die Hirschjagd geht und in den vier Monaten Sommer Weizen und Sojabohnen zieht. Auf dem Tresen steht ein Gefäß, gefüllt mit Schnaps und eingelegten Stücken vom Elchgeweih.
Am Nebentisch zechen die drei Lehrer der Dorfschule, sie haben Besuch von einem Professor aus Harbin, ihre Gesichter sind rot von den Schnäpsen, ihre Stimmen rau von Zigaretten, sie ignorieren die Fremden erst, dann siegt ihre Neugierde, und der Professor hält eine Rede auf den Weltfrieden. Der Zweite Weltkrieg sei zwar lange vorbei, sagt er, dürfe aber niemals vergessen werden. Dann wankt er zu seinem Tisch zurück, trinkt und ruft seinen Kollegen zu: »Ich gebe ihm ein bisschen nationale Erziehung.«
Auf den Tisch kommt in großen Schüsseln Fleisch, das von Wildtieren stammt, die sämtlich auf der Roten Liste stehen. Die Elunchun-Minderheit, sie heißt wie das Dorf, lässt sich ihre alten Gebräuche nicht vorschreiben von Menschen, die im fernen Peking an Schreibtischen sitzen. Der Wirt, Hu Zhenbing, schwärmt von der Jagd, vom Glück, bei minus 40 Grad über die Höhen zu reiten und die Härte des Lebens zu spüren.
Das Museum im Dorf ist der Minderheit gewidmet, angeblich zählen die Elunchun noch 3000 Menschen. Der Wächter, der den Schlüssel bringt, trägt eine Bomberjacke mit Aufnähern der US-Eliteeinheit 101st Airborne Division, er sagt: »Love America, never made it.«
Draußen am Bach waschen sie Wildkräuter in dicken Büscheln und ein Gemüse, das an wilden Spargel erinnert, begehrte Ware, die leicht bitter schmeckt und getrocknet bis nach Südkorea verkauft wird. Die Sammler sind Frauen, sie stehen im Kreis zu neunt, zu zehnt, die Füße im eiskalten Wasser, nur sie wissen, wo die besten Stengel stehen. Dafür wandern sie 15, 20 Kilometer jeden Tag, steigen die Höhen hinauf und hinunter und bekommen am Ende zwei Yuan pro Pfund, 18 Cent, ihr Tagesverdienst schwankt zwischen einem und 1,50 Euro. »Aber das ist doch nicht schlecht«, ruft eine Dicke und stemmt sich lustig die Fäuste in die Hüften, »dafür könnte ich in Peking eine schöne Kanne Tee trinken.«
Es wird noch zu selten erzählt, dass die Chinesen auch ein lebenslustiges, angenehmes Volk sind, nicht nur eine Milliardenmasse. Im Rausch der Zahlen kommt immer zu kurz, dass Menschen hinter all den Statistiken stehen, die nicht viel anders sind als andere Menschen. Aber im Fall Chinas hat sich von jeher ein Denken breitgemacht, das immer nur die gewaltige, anonyme Zahl sieht und kaum die vielen Einzelnen, aus denen sie besteht. In diesen Zeiten aber werden die Einzelnen immer wichtiger in China. Die Chinesen sind nicht mehr nur ein von oben dirigiertes Staatsvolk, sie werden gerade eine Gesellschaft.
Einer ihrer neuen Zirkel sitzt in Peking, im Séparée eines alten Teehauses, versammelt um den Mann, der China erklären kann. Es geht schon gegen Mitternacht, die Luft steht schwülheiß im Raum, kein Fenster geöffnet, es geht noch um den Fallout der chinesischen Industrialisierung, um die Folgen für die ganze Welt. Darum, dass über Südkorea und Japan ständig saurer Regen niedergeht, der sich aus den schwefligen Kohleabgasen Chinas speist. Darum, dass über Südasien und dem Himalaja ein brauner Dreckschleier zwischen Himmel und Erde liegt, die »Asian brown cloud«, von China mit angerichtet. Darum, dass an manchen Tagen ein Viertel des in Los Angeles gemessenen Feinstaubs aus chinesischen Schloten stammt.
Es geht darum, sagt der Mann, in seiner traditionellen Seidenbluse, dass kein Chinese diese Verschmutzung je gewollt habe, dass sie als Schande empfunden werde, als Gesichtsverlust auf die asiatische Art. Aber es geht eben darum, sagt er, wie das bessere Leben für alle Chinesen zu erreichen und zu beherrschen sei. Es ist die Eine-Million-Dollar-Frage des 21. Jahrhunderts.
Sie sind sich einig, die Christin, der junge Politologe, der westliche Anwalt, der Diplomat aus Afrika, dass es ohne die Partei, ohne zentrale Kontrolle nicht gehen kann, und sie sagen das, obwohl sie sich in den Stunden zuvor als oft scharfe Kritiker des Systems geäußert haben. Der Mann in der Seidenbluse, dessen Vater an der Geschichte des Landes mitschrieb und der selbst so viel weiche Macht besitzt, sagt, es werde sehr schwer, sehr schwer. Und dass er sich wünsche, dass das Ausland sich mehr Mühe gebe, die Probleme Chinas zu begreifen.
Jede Bewegung des Landes sei eine am Abgrund, sagt er, das liege an der Masse der Menschen, an der unfassbaren Größe des Landes, an der wilden Entwicklung der vergangenen Jahre. Die Staatsgäste, sagt er, die heute anreisten mit ein paar Fragen zu Menschen- und anderen Rechten, während sie in den Hinterzimmern Wirtschaftsabkommen unterzeichneten, »dürfen sich nicht wundern, wenn sie von ihren Gastgebern nicht ernst genommen werden«.
Die Runde im Teehaus lacht, als wüssten alle schon, was jetzt kommt. »Sie kommen aus Ländern«, sagt der Mann, »zehnmal kleiner als die größten chinesischen Provinzen, und doch wollen sie uns Chinesen erklären, was gut für uns ist.« Er macht eine Pause, trinkt Tee, es ist seine achte, neunte Tasse. »Aber wie sollen sie das wissen?«, fragt er. »Wie können sie klüger sein in unseren Angelegenheiten als wir selbst?«
Es sind Fragen ohne Antworten, so wie der ganze Abend ohne Antwort auf die Frage bleibt, was aus China werden wird. Was nach den Olympischen Spielen kommt. Was sich ändern muss. Was nicht. Was übrig bleibt vom Gestern, was das Morgen bringt. »Sie dürfen wiederkommen«, sagt der Mann, der China erklären kann, er steht in der Tür des Teehauses, müde und schmal. Viele Stunden, und viele Tassen Tee, hat er allein dafür gebraucht, die wichtigsten Fragen zu finden. Die Antworten werden Jahre brauchen, Jahrzehnte vielleicht, oder das ganze Jahrhundert.