MEDIZIN / NIEHANS Chirurgie ohne Messer
Rund sechzig prominente Kliniker und Grundlagenforscher trafen sich Mitte des Monats im Hörsaal eines Heidelberger Universitätsinstituts, um eine der revolutionärsten Heilmethoden zu diskutieren, die von der Medizin in den letzten Jahren angewandt worden sind: die sogenannte Zellulartherapie. Bei dieser Heilmethode werden dem Patienten Zellen von tierischen Organen in die Muskeln gespritzt, um seine erkrankten Organe zu »revitalisieren«, zu kräftigen.
Auf der Heidelberger Tagung beschäftigten sich die Ärzte, Biochemiker, Physiologen, Gewebe-Züchter und Klinikleiter, die routinemäßig jedes Jahr einmal zusammentreffen, mit den Erfolgen und Mißerfolgen der neuen Therapie auf einem Spezialgebiet, dem Sektor der Frauenkrankheiten. Ein illustres Fachpublikum, darunter Engländer, Holländer, Belgier, Franzosen und Schweden, hatte sich versammelt, um die neuen Forschungsergebnisse der deutschen Wissenschaftler kennenzulernen.
Die Diskussion über die neuen Erkenntnisse mußte allerdings ohne den Mann ausgetragen werden, der das Heilverfahren begründet hat: Der schweizerische Chirurg Dr. Paul Niehans war wieder einmal seinem Reisetrieb erlegen. Auf Einladung des Papstes, den er vor drei Jahren von einem peinigenden Schluckauf geheilt und mit Zelleinspritzungen wieder gekräftigt hatte, weilte er in Rom, um an den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Papstwahl und -krönung teilzunehmen. Er bedachte den Kongreß lediglich mit einer telegraphischen Grußadresse.
Kurz zuvor war er erst von einer längeren Reise durch Nord- und Mittelamerika zurückgekommen. Wie immer, wenn der 74jährige alte Herr aus seinem luxuriösen Haus am Genfer See zu einer Auslandsreise aufbrach, hatten sich Gerüchte um die Fahrt gerankt, und wie so oft wurde Niehans mit dem Namen und den Leiden eines Staatsmannes in Verbindung gebracht. Diesmal hieß es, der Schweizer Arzt - mit dessen Zellulartherapie so berühmte Patienten wie Konrad Adenauer, Winston Churchill und Aga Khan »revitalisiert« wurden - wolle den Präsidenten Eisenhower mit Zelleinspritzungen behandeln.
Die Gerüchte zerstoben aber, als Niehans sich lediglich mit befreundeten Medizinern traf und alsbald in die Dominikanische Republik weiterreiste, um dort die Ernennungsurkunde zum Ehren-Professor entgegenzunehmen. Während die Studenten der Hochschule von Ciudad Trujillo den Mann umjubelten, der den Heiligen Vater geheilt hatte, beriefen die Ärzte der »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« in Düsseldorf eine Pressekonferenz ein, um für das breite Laienpublikum der Tageszeitungsleser erstmals das Gebiet der Zellulartherapie einzuengen und abzustecken.
Sie veröffentlichten eine erste verbindliche Indikationsliste, ein Register der Krankheiten, gegen die das neue Heilverfahren wirkt, das in den letzten Jahren immer mehr in den Ruf geraten ist, eine Universalkur für die ermüdeten Helden der deutschen Wunderwirtschaft zu sein. Die Großkopfeten der Ruhr, die Männer in den vom Herzinfarkt bedrohten besseren Jahren, wallfahrten zu der kleinen Klinik, die Dr. Niehans in Clarens besitzt, um sich dort mit ein paar Zellinjektionen auffrischen zu lassen.
In Düsseldorf konnten die Ärzte der Arbeitsgemeinschaft allerdings mit einer eindrucksvollen Statistik aufwarten, die die Ansicht widerlegte, daß die Zellulartherapie nur ein Heilmittel für Männer vom finanziellen Kaliber eines Ruhrherrn sei: Rund eine halbe Million Patienten sind bereits mit dem neuen Heilverfahren behandelt worden, das der Dr. Paul Niehans an einem Tag des Jahres 1931 durch einen Augenblickseinfall entdeckt hatte.
Die Ereignisse jenes Tages, der heute als Geburtsstunde der Zellulartherapie gilt, hat Niehans in der Krankengeschichte der »Frau B. F., geboren 1884« beschrieben. Niehans arbeitete damals wie auch heute noch als Chirurg in den Kliniken von Montreux, Vevey und Clarens am Genfer See. Er hatte sich durch die damals von mehreren Ärzten praktizierte Überpflanzung von Hormondrüsen einen gewissen Lokalruhm geschaffen, und dieser Tatsache verdankte er den Anruf des Professors de Quervain. In der Klinik des Professors war einem jungen Chirurgen bei einem Routinefall, einer Kropfoperation, ein »Kunstfehler« unterlaufen: Er hatte versehentlich die Nebenschilddrüsen der Patientin verletzt.
Die vier linsengroßen Nebenschilddrüsen, die hinter der Schilddrüse liegen, aber mit diesem Organ nichts zu tun haben, sind lebenswichtige Hormon-Erzeuger, die den Kalziumgehalt des Blutes regeln. Werden sie beschädigt, so entstehen heftige Krämpfe, die in der Medizin als Tetanie bezeichnet werden. Die Tetanie hat nichts mit dem Wundstarrkrampf (Tetanus) zu tun und kann tödlich enden.
An den schweren Krämpfen einer solchen »postoperativen Tetanie« litt auch die Kropf-Patientin. »Können Sie helfen?« fragte Professor de Quervain. Dr. Niehans bat, man möge ihm die Frau schicken.
Während die Patientin in einen Krankenwagen verladen wurde, bereitete Niehans die Überpflanzung tierischer Nebenschilddrüsen vor. Eilends wurde im Schlachthof von Clarens ein Kalb geschlachtet. Mit den Nebenschilddrüsen des Tieres in einem sterilen Behälter raste Niehans in seine Klinik zurück.
Die Patientin war wenige Sekunden zuvor eingeliefert worden; Niehans erkannte auf einen Blick, daß die Frau im Sterben lag. Schwere Krämpfe erschütterten ihren Körper. Keinesfalls konnte er bei diesem Zustand die Operation wagen: Die Kranke wäre ihm unter den Händen gestorben.
Da hatte Niehans einen Einfall, wie ihn nur die Not des Augenblicks hervorbringt. Wenn es nicht möglich war, Drüsen als Ganzes einzupflanzen, warum sollte man sie dann nicht zerkleinern und die Teilchen dem Körper zuführen? Fieberhaft zerschnitt Niehans mit einer Operationsschere die Nebenschilddrüsen des Kalbs in winzig kleine Teile. Mit einer Kochsalzlösung stellte er eine Aufschwemmung her, zog bei der Patientin einen kleinen Einschnitt oberhalb der Brust und ließ die breiige Masse einfließen.
Was Niehans selbst nicht zu hoffen gewagt hatte, geschah. Nach wenigen Stunden lockerten sich die Krämpfe der Patientin und ebbten schließlich völlig ab. Die Frau, die im Sterben gelegen hatte, erholte sich. Sie lebt noch heute, und so wurde der Fall »B. F.« das Modell einer neuen Heilmethode.
Die Intuition eines Augenblicks hatte die Grundlage für die Zellulartherapie geschaffen. Niehans hatte bewiesen, daß nicht nur die Überpflanzung ganzer Organe, sondern auch die Übertragung von Organzellen Heilwirkungen auslöst.
»Ich dachte damals«, berichtet Niehans, »die Wirkung werde, wie bei einer Hormon -Injektion, nur von kurzer Dauer sein, so daß ich bald nachspritzen müßte. Dem war nicht so: Überraschenderweise wurde die Frischzellen-Instillation nicht nur reaktionslos vertragen, sondern ihre Wirkung hielt an, länger als die Wirkung eines Extrakts, jeden synthetischen Hormons, jedes Kristalls, jeder Transplantation.«
Niehans hatte nicht nur eine neue Heilmethode entdeckt, er hatte auch eine alte Weisheit bestätigt: Schon im Mittelalter hatte der Universalarzt Paracelsus - ohne allerdings auf konkrete Versuchsergebnisse zurückgreifen zu können - die Behandlungsdevise verkündet: »Herz heilt Herz, Milz heilt Milz, Niere heilt Niere.« Niehans definierte, 400 Jahre nach Paracelsus, seine Zellulartherapie genauer: »Sie ist eine biologische Behandlung, die dem menschlichen Zellenstaat mit seinen 40 Trillionen Zellen diejenigen therapeutisch wirksamen Zellelemente aus frischen embryonalen oder jugendlichen Geweben zuführt, die er zu seiner Revitalisation benötigt. Durch die Zellinjektionen wird auch der chirurgische Eingriff überflüssig.«
Eine neue »Chirurgie ohne Messer« war entstanden, und Dr. Paul Niehans machte sich an die Erforschung der neuen Therapie, auf die er so überraschend gestoßen war, zu einer Zeit, da die Wissenschaftler ihre Forschungen auf dem Gebiet der Hormone und Hormondrüsen vorantrieben.
Die junge Wissenschaft von den Hormonen hatte den Medizinern - wenn auch in abgewandelter Form - eine Bestätigung der legendären Humoralpathologie erbracht. Die von griechischen und mittelalterlichen Ärzten verkündete Lehre führte das Entstehen von Krankheiten auf falsche Zusammensetzung der Körpersäfte zurück. Daß im Körper aber weit mehr als nur die vier »Kardinalsäfte« wirken, die Hippokrates einst genannt hatte (Blut, schwarze Galle, gelbe Galle und Schleim), ermittelte die Wissenschaft erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts.
Der »Feld-, Wald- und Wiesenchirurg«
Dutzende von Wirkstoffen isolierten die Forscher, nachdem sie erst einmal erkannt hatten, daß die seltsamen Zellkomplexe, die verstreut im Körper liegen und im Aufbau einer Drüse gleichen, tatsächlich Drüsen sind - nämlich Drüsen mit »innerer Sekretion«. Ursprünglich hatten die Ärzte angenommen, daß diese Zellkomplexe Fehlbildungen des Organismus seien; denn ihnen fehlte, was alle damals bekannten Drüsen, etwa Speicheldrüsen oder Hautdrüsen, besaßen: ein Ausführgang, durch den die von ihnen gebildeten Stoffe abfließen. Die Drüsen mit »innerer Sekretion« aber benötigen einen solchen Ausführgang gar nicht - sie geben den von ihnen produzierten Wirkstoff direkt an das Blut ab.
Im Jahre 1849 hatte der Göttinger Professor A. A. Berthold den ersten ernsthaften Versuch einer Drüsen-Überpflanzung unternommen. Bis dahin hatte man angenommen, daß »nervöse« Einflüsse Tiere und Menschen nach einer Kastration verändern. Berthold wollte diese Auffassung durch Experimente überprüfen.
Er operierte vier Hähnen die Keimdrüsen heraus, so daß sie zu Kapaunen wurden. Dann öffnete er bei zweien dieser Hähne die Bauchhöhlen und pflanzte je eine Keimdrüse ein. Bald darauf konnte der Arzt eine seltsame Verwandlung beobachten: Die Kapaune wurden wieder zu Hähnen, sie krähten, rauften sich und jagten - wie er schrieb - »begeistert hinter den Hennen her«. Die beiden anderen Versuchstiere dagegen blieben friedliche, dickwanstige Kapaune.
Aber erst vierzig Jahre später gaben die Selbstversuche eines französischen Physiologen den Anstoß zu Forschungen, aus denen sich die Hormonlehre als neuer Zweig der Wissenschaft entwickelte.
Im Jahre 1880 verblüffte der Physiologie -Professor Charles-Edouard Brown-Séquard die Mitglieder der Biologischen Gesellschaft in Paris mit dem Bericht über einen kühnen Selbstversuch. In knappen Sätzen schilderte der 62jährige, daß er sich Extrakte aus tierischen Keimdrüsen eingespritzt habe. Eindringlich beschrieb er die Folgen dieses Experimentes, die einem Katalog verwirklichter Wunschträume glichen: Brown -Séquard glaubte an sich einen »radikalen Umschwung meiner Natur« zu beobachten, »eine überraschende Zunahme der körperlichen Kraft, eine Steigerung meiner geistigen Funktionen und die Wiedererweckung meiner sexuellen Leistungsfähigkeit«.
Einen Monat lang war der verjüngte Professor die Sensation der wissenschaftlichen Welt, aber dann stellte sich heraus, daß er einer Autosuggestion zum Opfer gefallen war. Das Schlagwort von der Verjüngung beschäftigte in den darauffolgenden Jahren die Glossenschreiber und Karikaturisten, aber dennoch hatte der tragikomische Selbstversuch des greisen Gelehrten die Forscher zu systematischer Arbeit angeregt.
Brown-Séquard war nämlich von einer richtigen Überlegung ausgegangen. Er hatte sich nur einer falschen Methode bedient: Seine Extrakte aus den tierischen Keimdrüsen entsprachen nicht den erforderlichen Mindestmengen und waren so zubereitet, daß nach heutigen Erkenntnissen eine Wirkung ausbleiben mußte. So sehr die Gelehrten auch Grund zum Lachen hatten - eine Tatsache blieb unbestreitbar und wurde durch die Ergebnisse der nun intensiv betriebenen Hormonforschung bestätigt: daß winzige Mengen der Wirkstoffe den Körperhaushalt entscheidend beeinflussen.
In den folgenden Jahren machten sich die Forscher daran, systematisch Keimdrüsen von jungen auf alte Tiere zu verpflanzen. In vielen Fällen glaubten sie eine Belebung beobachten zu können, eine »Revitalisation« der Tiere, und alsbald drängte es die Mediziner, ihre neuen Ergebnisse in der Humanmedizin praktisch auszuwerten.
Schon kurz nach der Jahrhundertwende versuchten mehrere Ärzte, Keimdrüsen von Mensch zu Mensch zu überpflanzen. So transplantierte der Engländer Dr. Morris im Jahre 1906 menschliche Eierstöcke auf eine kastrierte Frau. Die deutschen Forscher Herrmann und Sutten übertrugen 1912 menschliche Keimdrüsen auf einen kastrierten Mann, aber im weiteren Sinne populär wurde die Drüsenüberpflanzung erst, als der in Rußland geborene französische Arzt Serge Voronoff sich des Verfahrens annahm und die Keimdrüsen-Transplantation zu einer Mode-Operation machte.
Er übertrug am 20. Juli 1920 zum ersten Male tierische Keimdrüsen auf einen 74jährigen Patienten, was angeblich dem leidenden Greis die körperliche und geistige Frische eines 45jährigen verschaffte. Die Operation war verhältnismäßig einfach: Die fremden Drüsen brauchten durchaus nicht an die normale Stelle gepflanzt zu werden. Sie wurden irgendwo in die Muskulatur eingenäht, etwa in den Oberschenkel. Bald waren sie dort von Blutgefäßen umsponnen und konnten ihre Sexualhormone direkt in das Blut ausschütten.
Voronoffs Operationen waren der Beginn eines Verjüngungsrummels, der dem eleganten Professor - und seiner wesentlich jüngeren Frau - Mitte der zwanziger Jahre Schlagzeilenberühmtheit einbrachte. Da Voronoff glaubte, daß der menschliche Körper die Drüsen von Affen am besten vertrage, richtete er sich an der Riviera eine Affenfarm ein, die den Drüsen-Nachschub sichern sollte.
Aber die Verjüngungs-Operationen, die der Professor bald reihenweise für 100 000 Goldfrancs je Eingriff ausführte, konnten keine echte Verjüngung in dem Sinne bewirken, daß die Alterungsprozesse des Körpers gebremst oder rückgängig gemacht wurden. Selbst der anregende Effekt der Drüsenüberpflanzung hielt nicht lange an: Die Drüsen gingen nach einiger Zeit zugrunde und eiterten heraus.
Auch der schweizerische Chirurg Paul Niehans hatte sich damals der medizinischen Mode ergeben und transplantierte Hunderte von Drüsen. Er übertrug Hypophysen-Vorderlappen von Kälbern auf menschliche Zwerge und beobachtete, wie die unterentwickelten Patienten bis zu 32 Zentimeter größer wurden. Er überpflanzte, ebenfalls mit gutem Erfolg, Nebennieren bei Gelenkrheuma.
Daß die Arbeiten des schweizerischen Arztes, der sich selbst einen »einfachen Feld-, Wald- und Wiesenchirurgen« nannte, nicht den Beifall seiner Fachkollegen fanden, lag nicht allein an der unwissenschaftlichen Arbeitsmethode, die den Dr. Niehans zu einem Outsider stempelte, sondern auch an dem Ruf, den er schon damals provoziert hatte.
»Niehans mußte als Außenseiter logischerweise die Fachmediziner herausfordern«, schreibt Dr. Kurt Joachim Fischer in der kürzlich erschienenen Biographie »Niehaus - Arzt des Papstes"*. »Aber die Außenseitertechnik hat er sein Leben lang betrieben, niemals eingeschränkt, in keiner Phase seiner beruflichen Entwicklung geändert, und stets ist er seiner Lebenslinie treugeblieben.«
Diese Lebenslinie begann unter Umständen, die dem Paul Niehans einen lebenslänglichen, stark ausgeprägten Preußenkomplex bescherten: 1882 wurde er als Sohn eines Berner Chirurgen - was aber bedeutsamer war: als Enkel des deutschen Kaisers Friedrich III. - in Bern geboren**. In der Schule zu Bern galt Niehans als begabter Mathematiker, aber er wollte dieses Talent nicht beruflich ausmünzen, sondern möglichst in Preußen Offizier werden.
Wilhelm II. hatte die Verbindung zu seiner anerkannten Halbschwester nicht abreißen lassen. Er bot dem 18jährigen hochaufgeschossenen Jüngling an, in Potsdam die Offiziersschule zu besuchen und später in einem der berühmten preußischen Garderegimenter zu dienen. Aber die Eltern waren dagegen: Niehans hätte durch den Eintritt in das preußische Heer seine schweizerische Staatsangehörigkeit verloren. So folgte er dem Wunsch der Mutter und studierte in Neuenburg und Bern Theologie, legte seine Prüfung ab und predigte als Lizentiat in beiden Städten.
Aber bald entwich er der Theologie: Auf Drängen des Vaters studierte er Medizin, absolvierte seine Semester, promovierte in Zürich zum Dr. med. und arbeitete als Assistent bei seinem Vater und in einigen Kliniken.
Mit dem Preußenkomplex läßt sich hinlänglich begründen, warum der junge Mediziner auf eine militärärztliche Laufbahn in der Schweizer Armee verzichtete und statt dessen eine Karriere als Truppenoffizier der Reserve vorzog. Als Wilhelm II. 1912 in die Schweiz kam, um die eidgenössischen Korpsmanöver im Jura zu beobachten, wurde der junge Leutnant Niehans dem kaiserlichen Onkel als Ehrenadjutant attachiert.
Nach seiner Militärdienstzeit siedelte sich Niehans als Chirurg am Genfer See in Clarens an. »Mir war klargeworden, daß meine Begabung in den medizinischen Arbeitsgebieten eigentlich die Chirurgie war. Meine Hände waren sicher, trotz des vielen Bergsteigens und des leidenschaftlichen Reitens.«
Der junge Chirurg muß auf seine Patienten den Eindruck eines muskelbepackten Gentlemansportlers gemacht haben - Niehans selbst überliefert eine Äußerung seines Vaters aus jener Zeit: »Du kannst vor Kraft nicht mehr laufen. Du mußt mehr arbeiten.« Paul Niehans war nicht nur auf den Reitbahnen ein Stammgast, er hatte sich schon als Student dem »Viertausender -Club« angeschlossen, einer Vereinigung von Bergsteigern, die nur auf Gipfel von über 4000 Meter Höhe kraxelten.
Daß ihn aber nicht nur die Gefahren einer Kletterpartie oder eines Hindernisrennens lockten, sondern das Außenseiter-Abenteuer schlechthin, zeigte sich nach Ausbruch des Balkankrieges. Als die ersten Zeitungsmeldungen über das Elend der Verwundeten und Kranken, über den Mangel an Medikamenten und Ärzten erschienen, erreichte es der Dr. Paul Niehans, daß eine schweizerische Rotkreuz-Mission nach Serbien entsandt und er selbst als deren Chef eingesetzt wurde.
Monatelang operierte er Hunderte von verwundeten Serben, er lernte als Chirurg die Wunden kennen und behandeln, die von Maschinenwaffen und Granatsplittern verursacht werden. Kurz bevor seine zeitlich begrenzte Mission zu Ende ging, leistete sich Paul Niehans noch den Luxus eines kleinen privaten Extra-Abenteuers: Er fuhr allen Warnungen zum Trotz in das große Kriegsgefangenenlager Sajkcar und dämmte dort die Fleckfieberseuche ein, die das Lager in eine Todesfalle verwandelt hatte - eine Tat, die ihm seine erste Auszeichnung einbrachte, den Orden der Ritterschaft von St. Sava.
Nach seiner Rückkehr aus Serbien arbeitete Niehans kurze Zeit wieder als Chirurg in Bern. Bald darauf brach der erste Weltkrieg aus, und den schweizerischen Bürger zog es wieder dahin, wo es nicht so behäbig zuging wie in dem neutralen Musterländle: Niehans trug seinen Dienst dem französischen Chirurgen Professor Tixier in Lyon an, der den Schweizer mit Erfahrungen in der Kriegschirurgie sofort anstellte. Aber bald überwarf er sich mit den französischen Behörden und reiste wieder ab, um buchstäblich die Fronten zu wechseln. 1915 bot er sich den Mittelmächten an. Zwanzig Monate lang arbeitete Niehans auf den Truppenverbandsplätzen an der Dolomitenfront und erlebte den Krieg in der Festung Landro am Monte Piano und an den »Drei Zinnen«.
Er bewegte sich mit der ihm eigenen Unbekümmertheit auch dort, wo er als neutraler Schweizer eigentlich nichts zu suchen hatte, in den vordersten Stellungen -, und machte durch die waghalsige Bergung von Verwundeten soviel von sich reden, daß er zweimal im Divisionsbefehl genannt wurde und man seine Taten sogar mit einem eigenen Armeebefehl bedachte. Schließlich ernannte Erzherzog Eugen den Schweizer ohne Dienstgrad, der bei seinen Unternehmungen selbst zweimal verwundet worden war, zum Divisionsarzt einer k.u.k. Division.
Ungefähr 15 000 zerschossene Soldaten flickte Niehans zusammen, ehe der Schweizer Generalstab im Jahre 1917 den schweizerischen Hauptmann der Reserve in die Heimat zurückbeorderte, wo er sich - nunmehr endgültig - als Chirurg etablierte. Die Arbeit in drei medizinischen Disziplinen schien ihm besonders verlockend: Chirurgie, Urologie und Endokrinologie.
»Wesentlich war mir folgendes«, resümierte Niehans, »ich hatte die Zusammenhänge des endokrinen Systems, oder, um es einfacher zu sagen, des Systems der hormonalen Versorgung, auf den Operationstischen beobachtet. Kopfschüsse, die ich während der Kriegsjahre operieren mußte, zeigten mir in den Wirkungsschäden an anderen Organen, welche wichtigen Zusammenhänge bestanden, da ich die verhängnisvollen Auswirkungen registrieren und beseitigen konnte, oder aber scheiterte, ohne helfen zu können.«
Ein Hühnerherz lebt 27 Jahre
Niehans versuchte zuerst mit den klassischen Methoden vorzugehen. Er kannte die Hahnenversuche des Göttinger Mediziners Berthold, den Selbstversuch Brown-Séquards und die Erfahrungsberichte Voronoffs und der anderen Ärzte, die seit der Jahrhundertwende die chirurgische Überpflanzung innersekretorischer Drüsen vervollkommnet hatten.
»Diese Transplantationen als Prinzip interessierte mich«, sagt Niehans, »und ihnen wandte ich mich zu. Mein Anliegen war, präzise formuliert, gestörte Drüsenfunktionen durch die Verpflanzung korrespondierender oder ihnen entsprechender Drüsen zu revitalisieren, sie also in ihrer eigenen Art wieder auf volle Leistung zu bringen.«
Niehans konnte sich bei seinen Arbeiten auf eine Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse stützen. Zwei Grundfakten beeinflußten seine Überlegungen entscheidend: die Zellularpathologie von Rudolf Virchow und die Zellularbiologie von Alexis Carrel. Der pommersche Pathologe Virchow glaubte nachweisen zu können, daß alles Krankhafte durch Funktionsstörungen der Zellen bewirkt wird, und der Franzose Carrel war 1912 für seine Züchtungen lebender Zellgewebe mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden.
Carrel war bei seinen Forschungen davon ausgegangen, daß die Zelle - dieser heute noch wenig erforschte Formbestandteil aller Lebewesen, der einst als kleinste Lebenseinheit galt - von der Gewebeflüssigkeit abhängig ist, die sie umgibt. Das bedeutete, daß die Zelle auch von Nährstoffen lebt, die nicht in ihr vorhanden sind. Folgerichtig mußte es möglich sein, überlegte Carrel, Zellgewebe durch geeignete Nährstoffe auch außerhalb des menschlichen und tierischen Organismus am Leben zu erhalten.
Tatsächlich gelang es ihm, diese Hypothese zu beweisen: Er entnahm Zellgewebe aus dem Herzen eines Hühner-Embryos und züchtete es in verdünntem Plasma. Wochenlang wuchsen die Zellgewebsteile auf dem künstlichen Nährboden, und nach dem 65. Tag verhielten sie sich genauso wie ein natürlich schlagendes, rhythmisch arbeitendes Herz. Dem französischen Biologen gelang ein makabres Meisterstück moderner Alchimie, als er in einer Nährstofflösung die Zellgewebe eines Hühner-Embryos 27 Jahre lang am Leben erhielt. Die Zellgewebe starben schließlich, nicht etwa an Altersschwäche, sondern an Ernährungsmangel: Ein unaufmerksamer Laborgehilfe hatte es versäumt sie rechtzeitig mit neuen Nährstoffen zu versorgen.
Carrel hatte nun eine merkwürdige Beobachtung gemacht: Überalterte Gewebe, die nicht mehr wuchsen, wurden zu neuem Wachstum angeregt, wenn ihnen ein gleichartiger jüngerer Gewebeteil zugefügt wurde. Carrel belebte zum Beispiel die absterbenden Hühnerherz-Zellen einer Gewebekultur, indem er ihnen kleinste Teile fötalen* Hühnerherzgewebes hinzufügte. Die unverbrauchte Lebenskraft der Kükenherz-Zellen brachte - wenn auch nur im Laboratorium - die absterbenden Hühnerherz-Zellen wieder zum vollen Arbeiten.
Allerdings glückte dieser zellulare Wiederbelebungsversuch nicht immer, und nach mehreren hundert Versuchen entdeckte Carrel die Bedingung für eine erfolgreiche Revitalisierung: Das geschwächte Gewebe mußte in sich so stark sein, daß es noch regenerationsfähig war. Unterhalb einer gewissen Leistungsgrenze wirkte sich die Zufuhr junger Zellen nicht mehr belebend aus.
Mitte der zwanziger Jahre glaubten die Ärzte, die sich wie Niehans diesem Forschungsgebiet verschrieben, hatten und nach der praktischen Anwendbarkeit der Carrelschen Thesen suchten, eine wichtige Erkenntnis verbuchen zu können: »Jahre hindurch«, berichtet Niehans, »hatten die Chirurgen auch ich - stets die Zellgewebe aus den Drüsen ... junger Schlachttiere übertragen ... und langsam entwickelte ich eine eigene Technik. Ich ... kam darauf, daß die Organe der ungeborenen Tiere die nachhaltigste Wirkung ausübten.«
Aber so perfekt die Niehanssche Arbeitstechnik auch geworden war - die Erfolge waren überaus kurzfristig: Erst nachdem Dr. Niehans in Jahre 1931 die Frau »B. F.« durch die Zellinjektion aus schweren Krämpfen erlöst hatte, war eine neue Art der Zellübertragung gefunden, die eine länger anhaltende Gesundung bewirkte.
Niehans widmete sich von da an ausgiebig der Erforschung der neuen revolutionären Behandlungsmethode, die er als eine »tausendfache Transplantation« betrachtete, weil die Schnittflächen der vielen kleinen Drüsenteilchen insgesamt eine größere Berührungsfläche zum menschlichen Körper hatten als eine intakte Drüse, die nur an der Peripherie mit dem Körper in Berührung kam. Niehans experimentierte mit jenem Ungestüm und jener forschen Entschlußkraft, die ihn seit je ausgezeichnet hatten.
Im allgemeinen werden neue therapeutische Verfahren in geduldiger Forschungsarbeit an Universitätskliniken oder Forschungsinstituten gefunden, entwickelt und erst nach sorgfältiger Prüfung den praktizierenden Ärzten empfohlen. Niehans aber hatte die Methode auf den Kopf gestellt: Er hatte seine Behandlungsmethode in der Praxis entdeckt und mußte nun danach trachten, die am Operationstisch erprobte Therapie weiterzuentwickeln und die Kliniken und Universitätsinstitute dafür zu gewinnen, die wissenschaftlichen Grundlagen seiner nur auf praktischen Erfahrungen basierenden Heilmethode zu erforschen.
Was er tat, war jedoch wenig geeignet, die orthodoxen Mediziner zu Forschungen solcher Art anzuregen: Niehans, immerhin ein Mann ohne wissenschaftliche Legitimation, arbeitete unbesorgt mit der neugefundenen Methode in der Praxis, ohne sich erst auf langwierige Versuche und theoretische Überlegungen einzulassen. Für orthodox denkende Mediziner war das, wenn nicht Scharlatanerie, so doch mindestens eine Provokation, ein Verstoß gegen ihre wissenschaftliche Etikette.
Denn theoretisch war alles, was Niehans unternahm, nicht möglich. Nach der Überlieferung der Medizin hätte die Injektion von tierischen Zellen in den menschlichen Organismus einen sogenannten anaphylaktischen Schock auslösen müssen. Seltsamerweise aber traten die Symptome dieser Überempfindlichkeitsreaktion - Fieber, Bewußtseinstrübung, Herzjagen und Hautausschlag - bei den Patienten des Dr. Niehans fast gar nicht auf. Sie zeigten sich lediglich, in abgeschwächter Form, bei 12 bis 16 von je tausend behandelten Patienten.
Dafür gab es nur eine Erklärung: Niehans entnahm das Injektionsmaterial ausschließlich jungen oder noch ungeborenen Tieren. Das körperfremde Eiweiß junger oder noch ungeborener Tiere wurde offenbar von den meisten Menschen widerstandslos aufgenommen.
Aber nicht nur die Tatsache, daß Niehans durch die Injektion tierischer Zellen die gefährliche Schockreaktion riskierte, war ein Verstoß gegen die Ansichten vorsichtiger Mediziner. Alles, was Niehans in seinem Praktikergehirn ausdachte, war eine Herausforderung der sogenannten Schulmedizin.
Zuvor nämlich hatten die Ärzte lediglich wichtige Drüsen mit innerer Sekretion transplantiert, wie die Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Hypophyse, Nebenniere, Hoden und Eierstock. Niehans aber übertrug nun nicht nur Zellaufschwemmungen dieser Drüsen, sondern auch Zellaufschwemmungen anderer Organe, wie zum Beispiel Leber, Herz, Niere, Magen und Gehirn, und versuchte in seiner Klinik »La Prairie« in Clarens systematisch, eine Therapie aufzubauen, die auf die einzelnen Organe »zielt«.
Die Thesen, die der schweizerische Praktiker den Professoren berühmter Kliniken und Institute vortrug, klangen so beklemmend simpel, ja fast banal, daß die Koryphäen der Medizin verständlicherweise skeptisch blieben. Denn die wichtigste Frage konnte ihnen der eigenwillige »Feld-, Wald- und Wiesenchirurg« nicht beantworten: Wie wirken die übertragenen Tierzellen im menschlichen Körper?
Niehans postulierte, daß die Einspritzung frischer unverbrauchter Tierzellen die entsprechenden Organe im menschlichen Körper kräftigt - so wie es die Versuche des Alexis Carrel bewiesen hatten. Niehans spritzte beispielsweise Nierengewebe bei Nierenstörungen, Herzzellen bei Herzkrankheiten. Er beobachtete, daß der Zustand der Patienten sich besserte - aber was im menschlichen Körper von dem Augenblick an vorging, in dem er die Zellen einspritzte, das vermochte Niehans nicht zu erklären. Außerdem konnte Niehans einen der gewichtigsten Einwände gegen sein Verfahren nicht widerlegen: Die Frischzellentherapie barg die Gefahr, daß bei der Übertragung frischer Zellen vom Tier auf den Menschen auch Krankheiten übertragen wurden, die sogenannten Zoonosen*.
Die Gefahr drohte besonders bei der Geschwindigkeit, mit der Niehans die Zellen der frischgeschlachteten Tiere einspritzen mußte: Binnen 40 Minuten nach der Schlachtung mußte er die Zellgewebe entnehmen, den Zellbrei zubereiten und injizieren, weil nach dieser Zeitspanne die Autolyse einsetzt, die Selbstauflosung aller Organe, die aus dem Gesamtverband des Körpers herausgenommen werden. Die dabei entstehenden Stoffe sind zum Teil giftig.
In 40 Minuten aber ist es nicht möglich, eine bakteriologische Untersuchung vorzunehmen, die erforderlich ist, um die absolute Keimfreiheit des Spendertieres sicherzustellen. Eine solche Untersuchung dauert normalerweise zwei bis drei Tage.
Niehans ermunterte deswegen die Bauern der Umgebung, gesunde Herden zu halten, und er erprobte zusammen mit Tierärzten die besten Verfahren, geeignete Tiere auszuwählen. In den folgenden Jahren, in denen die Schulwissenschaft seine Forschungen ignorierte, vervollkommnete er die Heilmethode, für die der schweizerische Arzt Dr. Franklin Bircher, ein Sohn des Reformköstlers Dr. Bircher-Benner, den Namen »Zellulartherapie« erfunden hatte.
Deutsche Mediziner wiesen Niehans später allerdings darauf hin, daß der Breslauer Chirurg Küttner schon 1912 seinen Versuchspersonen Drüsengewebe eingespritzt und seine Erfahrungen im »Zentralblatt für Chirurgie« veröffentlicht hatte, eine Tatsache, die dem Dr. Niehans jedoch, wie er beschwor, verborgen geblieben war.
»Nunmehr ist wohl endgültig eine leidige Prioritätsfrage geklärt«, kommentierte er. »Sie ist mir immer unwichtig erschienen, denn ich halte Prioritätsansprüche - vor allem in der Heilkunde - für zweifelhaften Wertes ...«
Niehans entwickelte damals eine Arbeitstechnik, die schnelles und vor allem steriles Arbeiten sowohl auf dem Schlachthof wie in der Klinik gewährleisten sollte: Er entnahm den betäubten Spendertieren durch einen Kaiserschnitt das ungeborene Tier und verbrachte es in der naturgegebenen Umhüllung, dem Tragesack (Uterus) des Müttertieres, in ein Laboratorium. Dort wurden den Embryos die benötigten Organe entnommen und zunächst mit einer gebogenen Schere zerschnitten. Dann zerkleinerte der Arzt mit einem Wiegemesser die Teilchen, bis sie nur doch einen Durchmesser von 1/4 bis 1/2 Millimeter hatten, schwemmte drei bis vier Gramm dieses Materials in einer physiologischen Kochsalzlösung auf und injizierte die breiige Substanz.
Als Niehans auf einer Studienreise in den Vereinigten Staaten auch die Laboratorien des Professors Alexis Carrel besuchte und dessen Zellkultur-Züchtung inspizierte, drängte sich ihm eine neue Überlegung auf: Warum sollte es nicht möglich sein, Zellgewebe für die Übertragung zu züchten?
Im Januar 1948 übersiedelte der Erlanger Anatom Karl Friedrich Bauer in das Niehans-Laboratorium, um im Auftrage des Dr. Niehans Gewebekulturen anzulegen. Aber schon nach wenigen Monaten mußte Niehans erkennen, daß er in eine Sackgasse geraten war: Mit den Injektionen künstlich gezüchteter Zellen konnte er nicht die gleichen Heilerfolge erzielen, wie mit den Frischzellen-Einspritzungen.
Das kurze Gastspiel des Professors Bauer reicherte die Kontroverse, die Niehans eh mit der orthodoxen Wissenschaft ausfocht, noch mit einem undurchsichtigen Prioritätsstreit an, als Bauer in deutschen medizinischen Fachzeitschriften behauptete, daß nicht Niehans, sondern er während seines Aufenthalts in der Niehans-Klinik die Zellulartherapie eigentlich erst geschaffen habe. Die Fehde, die sich jahrelang hinzog, ist vor wenigen Wochen zu Ende gegangen: Im Dezember 1956 entschied ein Schweizer Gericht den Streit zugunsten des Dr. Niehans.
In den Jahren nach der Bauer-Episode verstärkte Niehans die Bemühungen, den Ausgangspunkt seiner Therapie, den Schlachthof, zu verlassen. Ihm schwebte ein Verfahren vor, die Zellen zu konservieren, um sie je nach Bedarf seinen Patienten in der Klinik injizieren zu können. Als Bergsteiger war ihm die Tatsache geläufig, daß Gletschertote durch die Kälte konserviert werden. Er vermutete, daß man ebensogut tierische Zellgewebe im Eis konservieren kann.
In seiner draufgängerischen Art machte sich Niehans, der von langen theoretischen Erwägungen offenbar nicht viel hält, sogleich ans Probieren. Er bettete tierische Zellgewebe in Eis, lagerte sie bei etwa null Grad in einem Kühlschrank ein und injizierte sie sich nach einigen Tagen selbst. Daß diese geringe Kühlung nicht ausreichte, um fermentchemische Prozesse zu verhindern, wurde dem Dr. Niehans klar, als er an Schwindel, Erbrechen und Ohnmachten litt.
Erst im darauffolgenden Jahr stieß er endlich auf ein Verfahren, das ihn der Verwirklichung seiner Hoffnungen näherbrachte. Eine in seiner Nachbarschaft angesiedelte Schweizer Firma wandte ein Gefriertrocknungs-Verfahren an, das nachahmenswert schien. Niehans ließ nach diesem System Frischzellen zunächst schlagartig auf etwa minus 70 Grad tiefkühlen und anschließend im Vakuum trocknen, und bewahrte dann das auf diese Weise konservierte Zellmaterial in Ampullen auf.
Diese Trockenzellen, die mindestens zwei Jahre lang wirksam bleiben, körnen bei Bedarf steril aus der Ampulle entnommen werden. Der Arzt braucht sie lediglich in einer Kochsalzlösung aufzuschwemmen und dem Kranken einzuspritzen. Die umständliche und teure Arbeit auf dem Schlachthof, die eine eingespielte Organisation und einen routinierten Chirurgen erforderte, war mithin überflüssig geworden. Vor allem aber konnten die notwendigen bakteriologischen Untersuchungen des Spendertierfleisches in Ruhe durchgeführt werden, ehe man die Ampullen zum Verbrauch frei gab.
Aber noch eine Frage war zu klären, bevor die Trockenzellen angewandt werden konnten: Verloren die Zellgewebe durch die Gefriertrocknung nicht etwa die Struktur, durch die allein sie zu einem wirksamen Heilmittel wurden? Niehans ließ die ersten Trockenzellen sofort in einem Universitätsinstitut in Lausanne untersuchen und machte selbst erste Versuche. Die Ergebnisse waren positiv: Auch die Trockenzellen schienen jene geheimnisvolle Kraft zu enthalten, die Niehans als »gespannte Uhrfeder, die noch nicht abgelaufen ist« bezeichnet.
Nun endlich konnte er darangehen, aus der umständlichen Frischzellentherapie eine neue Heilmethode aufzubauen, die sich in der Alltagspraxis eines jeden Arztes anwenden läßt.
Nachdem weitere Versuche mit insgesamt 6000 Ampullen Trockenzellen gemacht worden waren, proklamierte Niehans in der medizinischen Fachpresse seine Erkenntnisse. Zwar kamen bald die ersten Ärzte aus dem Ausland angereist, um sich in der Klinik am Genfer See die neue Behandlungsmethode anzusehen, aber die Zahl der Mediziner, die gegen ihn antraten, war größer, als Niehans erwartet hatte.
Der Fall »K.Z.«
Die Attacken und die kritischen Stellungnahmen machten klar, daß Dr. Niehans ein Praktiker ist, der es niemals verstanden hat, nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Systematik zu arbeiten. Mitunter hatte er darauf verzichtet, die Heilerfolge mit exakten klinischen Angaben zu belegen, und sich mit lapidaren Feststellungen begnügt, etwa: »Der. Patient konnte nach der Behandlung wieder seiner Lieblingsbeschäftigung, der Jagd, nachgehen.«
Der Erlanger Professor Karl Friedrich Bauer wies dem Dr. Niehans in der »Deutschen. Medizinischen Wochenschrift« nach, daß er Fälle aus seiner Praxis mit einer nahezu bohemienhaften Großzügigkeit verschieden dargestellt und gedeutet hatte.
Die Widersprüche in den Niehansschen Krankengeschichten und Aufzeichnungen sind stellenweise tatsächlich frappierend, und selbst die Freunde des Praktikers vom Genfer See können sich nicht der Auffassung verschließen, daß Niehans bei seinen Tausenden von Zetteln mitunter die Übersicht Verloren haben müsse.
So hat Niehans beispielsweise den Fall der »Patientin K.Z.« in seinen Büchern verschieden beschrieben:
- In seinem Buch »Zwanzig Jahre Überpflanzung innersekretorischer Drüsen': »Patientin, geb. 1888, erkrankt im Hüftgelenk und wird bettlägerig. Röntgenaufnahme ergibt ein Bild, das drei Universitätsprofessoren als Krebsmetastase deuten. Patientin weigert die Exartikulation des Beines im Hüftgelenk und will lieber sterben. Am 18 Februar 1930 Einpflanzung von fünf Schaf-Ovarien. Patientin kann wieder gehen und macht heute noch große Spaziergänge, ohne zu ermüden. Klinisch vollständig geheilt, nicht aber anatomisch-pathologisch, da der Tumor immer noch bei Röntgenkontrolle zu sehen ist (Beobachtungszeit 17 Jahre).«
- In »Zwanzig Jahre Zellulartherapie": »Frau K.Z., geb. 1888: Krebsmetastasen im Beckenknochen (Diagnose der Universität Lausanne) Die vorgeschlagene einseitige Becken-Ablation mit Verlust des einen Beines wird von der Patientin abgelehnt. Behandlung Februar 1934: Ovarial -Zellen. Resultat: Patientin macht heute noch große Spaziergänge, ohne zu ermüden. Sie ist klinisch vollständig geheilt, nicht aber anatomisch-pathologisch, was Röntgen-Kontrollen zeigen. Beobachtungszeit: 18 Jahre.«
- In »Die Zellulartherapie": »Frau K.Z., geb. 1888, Krebsmetastasen im Beckenknochen (Diagnose der Universität Lausanne). Die vorgeschlagene einseitige Beckenablation mit Verlust des einen Beines wird von der Patientin abgelehnt. Februar 1934: Revitalisation mit Ovar. Resultat: Patientin macht heute noch große Spaziergänge ohne zu ermüden. Sie ist klinisch vollständig geheilt, aber anatomisch-pathologisch nicht Beobachtungszeit 19 1/2 Jahre.«
Obwohl die Identität der Fälle aus den Berichten eindeutig hervorgeht, definiert Niehans die Behandlungsweise in jeder Schilderung anders; die Behandlungsdaten differieren gar um vier Jahre. Niehans erklärte die eklatanten Widersprüche mit dem Hinweis, daß er viele Jahre keinen Unterschied wischen der Transplantation auf operativem Wege und der Transplantation durch Einspritzung von Zellaufschwemmungen gemacht habe. Auch heute noch sehe er zwischen diesen beiden Verfahren keinen grundsätzlichen Unterschied. Diese Erklärung aber konnte nicht den Vorwurf entkräften, daß Niehans mindestens bei der Beobachtung seiner Fälle und bei der Auswertung seiner Notizen und, wissenschaftlich vorgegangen sei.
Was die Zellulartherapie gleichermaßen in Mißkredit brachte, war die Tätigkeit einer Anzahl von Scharlatanen, die sich der neuen Modetherapie bemächtigt hatten und ihren Patienten auf dem Schlachthof frischweg Einspritzungen verabfolgten, ohne die von Niehans aufgestellten Vorsichtsmaßregeln zu beachten. Typisch für die Sorglosigkeit, mit der biedere Alltagsdoktoren das neue Verfahren ausprobierten, ist der Fall eines deutschen Landarztes, der der »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« bekannt wurde.
Dieser Praktiker, der von der Zellulartherapie in wissenschaftlichen Zeitschriften gelesen hatte, kam auf seinen Fahrten über Land bei einem Bauern vorbei, an dessen Scheunentür ein Schwein hing, das Stunden zuvor geschlachtet worden war Da er gerade einen Patienten behandelte, der an einer Leberzirrhose litt, beschloß er, es mit der Frischzellentherapie zu versuchen. Er ließ sich von dem ausgewachsenen Tier die Leber geben, zerkleinerte einige Gewebeteile und spritzte sie seinem Patienten ein, der diese rüde Behandlung verwunderlicherweise überlebte.
Anspruch auf den Titel »Exzellenz«
Unter Hinweis auf solche Vorkommnisse, gegen die Niehans allerdings machtlos war, lehnten es die meisten Kliniker ab, die Zellulartherapie zu diskutieren, selbst wenn sie großzügig genug waren, über die Lücken in den Niehansschen Berichten hinwegzusehen und die einwandfrei erwiesenen Heilerfolge anzuerkennen.
Niehans trug andererseits selbst durch sein, extravagantes Auftreten zu seiner Isolierung bei. Es erregte den Unwillen der nach den Grundsätzen wissenschaftlicher Askese arbeitenden Forscher, daß er in seiner schloßähnlichen und mit Kunstschätzen ausgestopften Villa am Genfer See einen nachgerade fürstlichen Lebensstil pflegte.
Sein Vermögen, das von den Schweizer Steuerbehörden auf wenigsten acht Millionen Franken geschätzt wird, gibt ihm finanzielle Unabhängigkeit. Die imposanten Honorare, die er erbarmungslos von den wohlhabenden Patienten fordert, gestatten ihm und seiner ebenfalls von Haus aus vermögenden Frau Coralie, einer gebürtigen Engländerin, ein Globetrotter-Dasein, das die musikliebenden Eheleute oft über Ländergrenzen hinweg von Konzert zu Konzert führt. So hat Dr. Niehans im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre mit Ausnahme der Sowjet-Union jedes große Land der Welt bereist, einschließlich mittelamerikanischer Kaffee-Republiken und indischer Königreiche, in denen der von Niehans immer bewunderte Feudalismus herrscht.
Gerade in den Jahren aber, in denen die Niehans-Kontroverse ihrem Höhepunkt entgegensteuerte, mehrte sich die Zahl der illustren Patienten, die seiner Heilmethode blind vertrauten. Niehans behandelte Mitglieder des japanischen Kaiserhauses, er wurde nach London gerufen, um die Ärzte des kranken Königs Georg VI. zu beraten. (Er mußte allerdings ihre Hoffnungen enttäuschen, daß man den Lungenkrebs des Königs mit Frischzellen eindämmen könnte.)
Vollends geriet der alte Herr in die Schlagzeilen der Weltpresse, als er an das Bett des schwerkranken Papstes berufen wurde, der ihn für die Heilung mit einer Ehrung bedachte, die eine wissenschaftliche Fakultät dem Dr. Niehans schwerlich zugebilligt hätte: Der Papst ernannte ihn als Nachfolger des verstorbenen Penicillin -Entdeckers Dr. Alexander Fleming zum Mitglied der »Päpstlichen Akademie der Wissenschaften«. Niehans fand Vergnügen daran, daß er als ehemaliger protestantischer Theologe fortan in dem vatikanischen Gremium sitzen konnte und Anspruch auf die Anrede »Exzellenz« hatte.
In jenem Jahr 1954, da er so bekannt geworden war wie ein Filmstar, beschloß Niehans zum erstenmal, vor dem Therapie -Kongreß in Karlsruhe über seine Zellulartherapie zu referieren.
Aber als er vor einigen tausend deutschen Ärzten in kargen Worten über die Gebote und die Wirkungsweise seiner biologischen Behandlung sprach, hatten deutsche Wissenschaftler ihm längst die Erforschung der Zellulartherapie aus den Händen genommen. Nicht nur, daß Niehans, der impulsive Praktiker, schwerlich das wissenschaftliche Rüstzeug eines Forschers besaß - als praktizierendem Arzt mit einer kleinen Privatklinik und einem begrenzten Laboratorium wäre es ihm auch technisch gar nicht möglich gewesen, alle wissenschaftlichen Probleme der Zellulartherapie zu untersuchen.
Ursprünglich hatte man geplant, die Zellulartherapie von einem Spezial-Institut erforschen zu lassen, doch war dieser Plan fallengelassen worden: Eine solche Anstalt hatte mindestens die Ausdehnung des Rockefeller-Instituts haben müssen, weil die Probleme der Zellulartherapie weit in die Gebiete der organischen Chemie, der Biochemie, der Physik, der Gewebezüchtung und sämtlicher klinischer Fachrichtungen hineinreichen.
Deswegen hatten deutsche Universitätsprofessoren und Klinikleiter im März 1954 die »Forschungsgemeinschaft für Zellulartherapie« gegründet, um die empirische Praxis des Dr. Niehans gründlich zu überprüfen, die neue Lehre theoretisch zu untermauern und wissenschaftlich zu stabilisieren.
»Ohne Zweifel ist die Zellulartherapie am Anfang in oft unkritischer Weise auf einem zu breiten Indikationsgebiet angewandt worden«, bekannte der Niehans -Schüler Dr. med. Joachim Stein. »Das lag daran, daß die Zellulartherapie ... lange Zeit nicht die Beachtung der Klinik fand. Die wissenschaftliche Überprüfung hinkte der praktischen Erfahrung nach. Mit zunehmender klinischer Erprobung und experimenteller Fundierung wurde das Indikationsgebiet eingeschränkt.«
Es hatte sich herausgestellt, daß entgegen den Hoffnungen von Niehans die Zellulartherapie bei einigen schweren Erkrankungen versagt, beispielsweise bei Krebs, Zuckerkrankheit, Multipler Sklerose und Leukämie.
Daß Niehans bei dieser wissenschaftlichen Aktion weitgehend den Anschluß verlor und daß ihm die Erforschung und Weiterentwicklung der Zellulartherapie praktisch völlig entglitten ist, erwies sich auf den nächsten wissenschaftlichen Kongressen, auf denen die Heilmethode diskutiert wurde. Auf der 5. Tagung der »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« in Bad Homburg war er zwei Tage anwesend, ohne selbst in die wissenschaftliche Diskussion einzugreifen.
Auch in der praktischen Arbeit fungiert Niehans heute bestenfalls als eine Art Ehrenpräsident. Schon im Jahre 1953 hatten sich in Frankfurt am Main etwa 400 Mediziner zu der »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« zusammengefunden, um untereinander die praktischen Erfahrungen auszutauschen. Heute korrespondiert die Arbeitsgemeinschaft mit etwa 2000 Ärzten, die diese Therapie anwenden.
Ein pharmazeutisches Werk in Heidelberg hat längst die industrielle Herstellung der Trockenzellen aufgenommen und präzise Richtlinien für die Anwendung der Ampullen herausgegeben.
Danach müssen die praktizierenden Ärzte bei einer Behandlung mit Trockenzellen dafür Sorge tragen, daß vor einer Zelleinspritzung alle Krankheitsherde, wie beispielsweise vereiterte Zahnwurzeln, vereiterte Mandeln oder eine chronische Blinddarmentzündung, saniert werden, da die eingespritzten Zellen durch Bakteriengift geschädigt werden könnten. Nach der Zellinjektion muß der Patient mindestens eine dreitägige Bettruhe einhalten und auf gewisse Genußgifte, wie Nikotin und konzentrierten Alkohol, verzichten. Die Heilwirkung soll nicht sogleich, sondern erst nach einigen Wochen eintreten.
Die Ärzte der »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« versichern, daß bei vorschriftsmäßiger Anwendung die Zelleinspritzung für den Patienten gefahrlos ist. Der Verdacht, die Zellinjektion begünstige das Entstehen von Krebsgeschwülsten, hat sich nicht bestätigt.
Auch der wissenschaftliche Beirat beim Präsidium des Deutschen Ärztetages schränkte schließlich den Bannfluch ein, den er 1955 gegen die Zellulartherapie ausgesprochen hatte. Er hat anerkannt, daß Heilerfolge nicht bestritten werden können und die neue Trockenzelltherapie zumindest den Wert eines wissenschaftlichen Problems habe, das studiert werden müsse. Der Bundesfinanzminister, der sich vom Beirat kürzlich durch ein Gutachten beraten ließ, erklärte in einem Rundschreiben an die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes die Behandlung mit Trockenzellen für »beihilfefähig«. Die Krankenkassen allerdings lehnen es nach wie vor ab, die Zellulartherapie anzuerkennen.
Dabei ist die Behandlung mit Trockenzellen, im Gegensatz zur Frischzellentherapie - die zwischen 150 und 300 Mark kostet - auch unteren Gehaltsgruppen erschwinglich, wie Modellfälle veranschaulichen:
- Bei einer chronischen Leberstörung, die nach einer Gelbsucht auftritt, spritzt der Arzt ein bis zwei Ampullen Leber (je Ampulle 15,50 Mark) und zur allgemeinen Anregung eine Ampulle Placenta* (15,50 Mark). Da bei einer chronischen Leberstörung auch Nebenniere und Hoden angegriffen sein können, dürfte der Arzt ferner eine Ampulle Nebenniere (28,65 Mark) und eine Ampulle Hoden (15,50 Mark) verwenden.
- Beim Altersherz, einem Herzleiden, wäre die Behandlung billiger. Es würden benötigt: Eine bis zwei Ampullen Herz (je Ampulle 28,65 Mark), ferner eine Ampulle Placenta (15,50 Mark). Daß die Verabfolgung tierischer Zellen nur - wie einige Niehans-Gegner behaupten - einer allgemeinen Reizkörpertherapie** entspreche, wie etwa der Einspritzung von Milcheiweiß, haben deutsche Wissenschaftler inzwischen widerlegt. Die Heidelberger Forscher Kühn und Knüchel haben einigen Patienten, die an einer Störung der Nebennieren und der Hoden litten, verschiedene Zellarten eingespritzt. Nach den Einspritzungen untersuchten sie die Hormonausscheidung, und jedesmal ergab sich: Nach der Injektion der Hodenzellen wurden mit dem Urin erhöhte Mengen der für die Hoden charakteristischen Hormone ausgeschieden. Wenn sie Nebennierenzellen spritzten, waren regelmäßig nur die für die Nebennieren typischen Hormone vermehrt.
Spritzten die Forscher dagegen andere Zellarten, die zu diesen beiden Drüsen nicht in funktioneller Beziehung stehen, wie zum Beispiel Zellen von Leber, Lunge oder Herz, so wurde die Hormonproduktion überhaupt nicht beeinflußt. Damit war einwandfrei die »organ-gezielte« Wirkung der Einspritzungen nachgewiesen. Aber noch etwas anderes wurde gleichzeitig festgestellt: Eine einmalige Injektion von Hodenzellen genügt, um die Funktion der erkrankten Drüse wieder zu normalisieren.
»Sicher sind in den eingespritzten Zellen auch geringe Mengen Hormone enthalten«, erklärte die »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie«. »Aber es sind nicht diese Hormone, die die Wirkung auslösen. Denn bereits am zehnten Tag nach der Einspritzung beträgt die von der Zellinjektion angeregte Mehrausscheidung das 200fache dessen, was theoretisch in diesen Trockenzellen an Hormonen enthalten sein könnte.«
Anfänglich hatten Niehans und einige seiner Schüler an Hand ihrer praktischen Erfahrungen und an Hand der Forschungsergebnisse des berühmten Alexis Carrel angenommen, daß die Heilwirkung der Zellulartherapie der Lebenskraft der Zelle entspringt. Sie stellten folgende Theorien zur Diskussion:
- Weiterlebende Zellen gelangen nach der Injektion infolge einer biologischen Anziehungskraft zum gleichartigen Organ des Empfängers.
- Die Zellen bewahren am Injektionsort ihre Lebensfähigkeit und beeinflussen aus der Ferne das gleichartige Organ des Patienten durch Wirkstoffe.
- Die Zellen werden am Ort der Injektion vom Empfänger abgebaut, die Bausteine werden durch den Organismus verwertet.
Inzwischen haben die deutschen Forscher erkannt, daß die von einem anderen Organismus überpflanzten Zellen im menschlichen Körper nicht überleben können: Der Körper baut die überpflanzten Fremdgewebe ab. Die deutschen Forscher nehmen deswegen an, daß gewisse spezifische Wirkstoffe der Zellen die Heilwirkung auslösen. In vielen Laboratorien, auch in den Laboratorien der großen pharmazeutischen Werke, bemüht man sich zur Zeit, diese Wirkstoffe aus den Zellen zu isolieren, obwohl es, wie die »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« meint, »von vornherein fraglich ist, ob mit solchen isolierten Substanzen der volle Heileffekt erzielt werden kann, wie man ihn nach Injektionen ganzer Zellen sieht«.
Die Ärzte der Arbeitsgemeinschaft beharren darauf, daß es seit der Einführung der Trockenzellen keine technischen Probleme mehr gibt. Seit Anfang des Jahres 1953 sind insgesamt etwa 600 000 Ampullen Trockenzellen verspritzt worden. Nach den Statistiken, die von der »Arbeitsgemeinschaft für Zellulartherapie« kürzlich veröffentlicht wurden, konnten 62 Prozent aller Patienten geheilt werden. Die Fälle, in denen keine Besserung erzielt werden konnte, sind nach Ansicht der Arbeitsgemeinschaft auf eine ungenaue Diagnose oder eine unsachgemäße Anwendung der Zellulartherapie zurückzuführen.
In dieser Auffassung stimmen die Zellulartherapeuten mit der Auffassung ihres Repräsentanten Niehans überein, der schon vor zwei Jahren die deutschen Ärzte auf dem Therapie-Kongreß in Karlsruhe beschworen hatte: »Es braucht viel Erfahrung und Einfühlungsvermögen, um für diesen komplizierten Zellenstaat, den wir 'Mensch' nennen und den wir noch so wenig erforscht haben, richtig disponieren zu können. Ich weiß, wenn bei dem einen oder anderen Patienten der Erfolg ausbleibt, ich, Niehans, trage die Schuld, und nicht die Zelle!«
* Dr. Kurt Joachim Fischer: »Niehans - Arzt des Papstes«. Wilhelm Andermann Verlag, München, 320 Seiten, 16,80 Mark
* Die Mutter des Paul Niehans ist die Tochter aus der Liaison einer deutschen Adligen mit dem damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm Über die Identität der Adligen schweigen sowohl Niehans wie die Hohenzollern. Einer Version zufolge handelt es sich um eine Fürstin Fürstenberg, die sich in Basel als »Gräfin Wiesbaden« aufhielt, um dort unerkannt das Kind zur Welt zu bringen Das Neugeborene wurde von der Gouvernante der Fürstin adoptiert und als Anna Franziska Kaufmann registriert. Niehans verdankt einen Teil seines Vermögens der Tatsache, daß seine Mutter von Kindheit an hohe Dotationen vom Hause der Hohenzollern empfing, die sie ihm hinterließ.
* Fötus: Embryo, noch nicht geborenes Lebewesen
* Zoonosen: Krankheiten die vom Tier auf den Menschen übertragen werden können, zum Beispiel Milzbrand, Tuberkulose, Rotlauf.
* Placenta: Mutterkuchen.
** Bei der Reizkörpertherapie werden dem Körper bestimmte Substanzen zugeführt, um durch einen milden Fremdkörperreiz die Abwehrkräfte des Organismus zu aktivieren.
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