»CHRUSCHTSCHOW HAT ANGST VOR DEN DEUTSCHEN«
SPIEGEL: Mr. Gordon Walker, Sie waren zusammen mit Mr. Wilson, dem Führer der Labour-Opposition, in Moskau, und Sie haben mit Chruschtschow über Deutschland gesprochen.
GORDON WALKER: Ja, ich war in Moskau und in Washington; ich habe mit Kennedy und Chruschtschow gesprochen, und zwar mit beiden über das deutsche Problem.
SPIEGEL: Was hat Chruschtschow über Deutschland gesagt?
GORDON WALKER: Er sagte, daß er Westdeutschland fürchte, denn es unterscheide sich von anderen Ländern. Es sei geteilt, geschlagen. Bezüglich
Ostdeutschlands, der Sowjetzone, wiederholte er, daß natürlich der separate Friedensvertrag geschlossen und Ostdeutschland ein souveränes Land werden müsse; er nannte dabei freilich keine Frist.
SPIEGEL: Und Sie?
GORDON WALKER: Harold Wilson und ich bedeuteten ihm mit großem Nachdruck, wir träten für das Recht der Berliner ein, ihr politisches Leben nach freier Wahl zu führen; die Garnisonen seien dafür eine Garantie. Wir müßten aus diesem Grunde auf dem absoluten Zufahrtsrecht zu unseren Garnisonen bestehen.
SPIEGEL: Wie hat Chruschtschow reagiert?
GORDON WALKER: Nun, in diesem Punkt stimmten wir offensichtlich nicht miteinander überein. Wir waren über die Konsequenzen des Vertrages mit Ostdeutschland anderer Meinung als Chruschtschow, und er lehnte unsere wiederholt vorgebrachten Auffassungen ab. Das Gespräch wurde nicht gerade
- ich will kein falsches Wort gebrauchen - hitzig, aber die Anschauungen beider Seiten wurden doch mit einiger Deutlichkeit vorgetragen.
SPIEGEL: Wir haben gehört, daß die Unterhaltung an einem Punkt ziemlich erregt wurde.
GORDON WALKER: Wie gesagt, die Unterhaltung an diesem Punkt wurde sehr deutlich, doch danach - ich weiß selbst nicht mehr genau, wie es zuging - wurde der Ton beinahe scherzhaft, und wir wandten uns anderen Problemen zu. Das war sicherlich nicht die einzige Differenz, doch fiel die Auseinandersetzung über diesen Fragenkomplex etwas erregter aus.
SPIEGEL: Hat Chruschtschow irgendeinen Zeitpunkt für die Regelung der Berlin-Frage genannt?
GORDON WALKER: Er sagte, daß diese Dinge letzten Endes doch beigelegt werden müßten, was sich von selbst versteht; er hob jedoch keine besondere zeitliche Dringlichkeit hervor. Natürlich ist es eine Angelegenheit, die er in der Vergangenheit als äußerst wichtig herausgestellt hat. Und das tat er erneut.
SPIEGEL: Ist bei Ihren Gesprächen der Name Ulbrichts erwähnt worden?
GORDON WALKER: Wir sagten: »Ulbricht stellt keine gute Reklame dar, weder für Sie noch für sonst jemanden«, und er meinte: »Er ist nun einmal da, und er ist das Symbol einer großen Sache.« Darauf antworteten wir wiederum, daß Ulbricht für uns im Westen einen Propagandawert von Millionen Pfund darstellt oder so etwas Ähnliches.
SPIEGEL: Haben Sie neue Lösungsmöglichkeiten für die Berlin-Frage vorgebracht?
GORDON WALKER: Wir sagten, daß wir eine Präsenz der Vereinten Nationen in Berlin für eine gute Idee hielten und daß wir nichts gegen Uno-Truppen in Berlin einzuwenden hätten. Dies dürfe aber auf keine Weise die westlichen Garnisonen ersetzen. Chruschtschow erwiderte etwa, daß ihn eine Präsenz der Vereinten Nationen dort als Ersatz für die Garnisonen interessiere.
SPIEGEL: Was wurde über die Mauer gesagt?
GORDON WALKER: Ich glaube, wir erwähnten die Mauer nicht speziell, doch dachten wir natürlich beide daran.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß eine elastischere Ostpolitik des Westens, insbesondere Bonns, die Mauer durchlöchern und das Leben für die Berliner erleichtern könnte?
GORDON WALKER: Ich glaube, daß es sich hierbei um ein sehr schwieriges und komplexes Problem handelt, bei dem alle möglichen Interessen miteinander in Konflikt geraten und sich große Interessenansprüche der westlichen Allianz erheben. Die Einstellung der Labour-Partei hat der verstorbene Mr. Gaitskell sehr eindeutig dargelegt: Wenn wir eine umfassendere, allgemeine Lösung der Berlin-Probleme erzielen könnten, wozu auch das vollständig - vielleicht international - garantierte Zufahrtsrecht gehört, dann würden wir mit einem gewissen Maß an De-facto-Anerkennung des Pankow -Regimes einverstanden sein.
SPIEGEL: Ja?
GORDON WALKER: Wir würden ein internationales Abkommen über das ganze Problem, an dem auch das Pankow-Regime beteiligt wäre, für nützlich halten, denn dann würde letzten Endes auch die Mauer durchlöchert werden. Die Schwierigkeit liegt meiner Ansicht nach darin, im Austausch für unsere Zugeständnisse ein Arrangement zu erzielen, das von Dauer ist und nicht gleich wieder zurückgenommen werden kann. Ich meine daher, daß auf diesem Gebiet ohne jeden Zweifel vieles sehr schwierig sein wird.
SPIEGEL: Gehört in Ihren Vorstellungen die Oder-Neiße-Grenze zu einem solchen Arrangement?
GORDON WALKER: Ja. Ich sehe es als selbstverständlich an, daß die endgültige Festsetzung der deutschen Grenzen Bestandteil des Vertrages sein muß, aber Ich möchte auch sagen, daß ich es für ebenso selbstverständlich halte, daß im Falle dieses Friedensvertrages die Oder-Neiße-Linie die Grenze darstellen würde.
SPIEGEL: Wenn Sie von einem Friedensvertrag sprechen, so meinen Sie einen gesamtdeutschen Friedensvertrag?
GORDON WALKER: Unbedingt meine ich das. Das Wort Vertrag hat zweierlei Bedeutung: Herr Chruschtschow meint einen Vertrag mit dem ostdeutschen Regime, der Sowjetzone. Wir denken an einen Vertrag, der das gesamte Deutschland-Problem beilegt; ich muß aber offen gestehen, daß ich im Augenblick nicht klar sehen kann, wie sich das erreichen läßt.
SPIEGEL: Sie erwähnten eine De facto-Anerkennung der DDR Diese
Frage spielt auch in einem anderen Zusammenhang eine Rolle, die vermutlich bei Ihren Moskauer Gesprächen erwähnt wurde: der Frage eines Nichtangriffsvertrags zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt?
GORDON WALKER: Darüber haben wir nicht gesprochen. Wir stellten es nicht zur Diskussion, und auch Herr Chruschtschow hat es nicht angeschnitten. Ich glaube nicht, daß irgend etwas für einen vagen Nichtangriffspakt spricht. Anders wäre es, wenn er Bestandteil eines wirklichen Versuchsstopp-Abkommens, auf das wir alle hoffen, sein würde. Ich kann natürlich die Auffassung der Bundesregierung verstehen, der Nichtangriffspakt bedeute in einem gewissen Maß die Anerkennung des Pankow-Regimes. Dennoch wäre es kein bedeutsames Maß an Anerkennung. Wenn wir zu einem Versuchsstopp-Abkommen gelangen könnten, was ja so wichtig ist, müssen wir unsererseits flexibel sein, und ich kann nicht glauben, daß die Bundesregierung tatsächlich den Abschluß eines echten Versuchsstopp-Abkommens mit diesem Argument blockieren würde.
SPIEGEL: Über einen Atomversuchsstopp haben Sie in Moskau ausführlich gesprochen?
GORDON WALKER: Wir erörterten mit Herrn Chruschtschow und später auch mit Herrn Sorin, dem stellvertretenden Außenminister, einige Einzelheiten. Wir setzten uns natürlich ein für ein umfassendes Verbot auf allen vier Gebieten - dem Weltraum, der Atmosphäre, unter Wasser und unter der Erde - und forderten die Russen auf, ihre Haltung in der Inspektionsfrage zu revidieren. Darauf wollten sie sich nicht einlassen. Dann sagten wir: Wenn wir uns schon nicht über das Verbot von unterirdischen Versuchen einigen können, sollten wir uns über die anderen drei Gebiete einig werden, die kontrolliert werden könnten, worüber
sich jedermann einig ist. Die unterirdischen Tests müßten dann eben unkontrolliert bleiben.
SPIEGEL: Hatten Sie in Moskau und in Washington den Eindruck, daß beide Mächte in dem Wunsch übereinstimmten, ein solches Versuchsstopp-Abkommen zu erreichen?
GORDON WALKER: Ja, das fiel mir auf, naturgemäß in Washington in stärkerem Maße, da man dort freier darüber spricht als in Moskau, wo trotz freundschaftlicher und offener Gespräche Hemmungen bestehen. Ich habe gefunden, daß man sich in Washington, besonders nach der Kuba-Krise, einer Tatsache bewußt ist: Zwischen Amerika und der Sowjet-Union als den großen Nuklearmächten bestehen bestimmte gemeinsame Interessen, und es ist sehr wichtig, diese gemeinsamen Interessen zu stärken. Wenngleich dies in unseren Gesprächen mit Herrn Chruschtschow nicht in den Vordergrund getreten ist, so war doch ganz eindeutig, daß er sich dessen bewußt ist. Das macht auch einen Teil seines Kampfes mit China aus.
SPIEGEL: Was steckt wohl hinter dieser sowjetischen Abneigung gegen jede Form der Inspektion - Furcht vor Spionage?
GORDON WALKER: Ich glaube, es ist in erster Linie die Angst vor der Spionage.
SPIEGEL: Kann diese Spionenfurcht sich aus der Tatsache ableiten, daß der Westen militärisch stärker ist als die Sowjet-Union?
GORDON WALKER: Ich glaube, es geht hier um eine Mischung von mehreren Faktoren. Die Spionenfurcht ist ein russisches, nicht nur ein kommunistisches Phänomen. Das gibt es seit den Tagen Peters des Großen. Ich glaube, die heutige Spionenfurcht ist darauf zurückzuführen, daß der Westen stärker ist und die Unverwundbarkeit - der Russen - sie haben noch keine Unterwasser-Raketen nach derArt der Polaris und noch keine unterirdischen Raketenbunker - davon abhängt, daß die Standorte ihrer Raketenbasen geheim bleiben. Und ich glaube, es ist sehr im Interesse aller, daß solche Waffen unverwundbar sind: Das ist das große gemeinsame Interesse.
SPIEGEL: Glauben Sie, daß jetzt eine Art Raketenlücke auf der sowjetischen Seite besteht?
GORDON WALKER: Ich glaube, es hat auf russischer Seite immer eine Raketenlücke gegeben. Die Amerikaner nahmen aufgrund der ihnen vorliegenden Indizien wirklich an, es werde eine Raketenlücke zu ihren Ungunsten geben. Aber zurückblickend muß man sagen: Es hat niemals eine amerikanische Raketenlücke existiert: Die Lücke war immer zugunsten der USA und hat sich meiner Meinung nach sogar noch vergrößert. Gerade weil die Amerikaner glaubten, es gäbe eine Raketenlücke im eigenen Haus, kurbelten sie ihr Programm an. Und das war ein Faktor, der Chruschtschow beeinflußt haben muß.
SPIEGEL: Sie und Mr. Wilson haben offenbar den Eindruck gewonnen, daß Chruschtschow fest im Sattel sitzt?
GORDON WALKER: Ich hatte ganz diesen Eindruck. Er war erholt, vollkommen zuversichtlich. Er führte das ganze Gespräch - Herr Gromyko saß
neben ihm, sagte aber kaum ein Wort - mit vollkommener Überlegenheit, ohne sich Notizen zu machen. So würde ich mich nur benehmen, wenn ich die Zügel in der Hand hätte. Körperlich ist er auf der Höhe, geistig äußerst wach. Es ist allein schon eine intellektuelle Meisterleistung, sich drei Stunden lang auf eine Unterhaltung zu konzentrieren, ohne auch nur eine Sekunde lang abzuschweifen. In diesen Dingen kann man sich immer irren, aber ich würde sagen, daß Chruschtschow absolut fest im Sattel sitzt. Alles andere wäre Wunschdenken. Ich bezweifle natürlich nicht, daß er wie jeder andere mit den Meinungen anderer Leute rechnen muß.
SPIEGEL: Sie haben in Moskau offensichtlich mit Chruschtschow darin übereingestimmt, daß ein Atomversuchsstopp-Abkommen gefährdet sein würde, wenn die Bundesrepublik Mitglied einer multilateralen Atommacht werden würde, wie sie von Amerika erstrebt wird.
GORDON WALKER: Ich glaube, es wäre fairer zu sagen, daß wir zu diesem Punkt schon Stellung genommen hatten, ehe wir nach Moskau fuhren; wir haben auch den Amerikanern unsere Meinung dazu erläutert. Die Initiative ging von uns aus, so daß wir nicht erst Chruschtschow zustimmen mußten. Die Labour-Partei hat mehrfach öffentlich erklärt, daß Deutschland nicht in den Besitz oder die Kontrolle von Kernwaffen gelangen solle. Ein Einwand gegen MLF (multilaterale Atommacht) - wir haben mehrere andere - war, daß sie Deutschland sehr nahe, auf jeden Fall zu nahe an Kernwaffen heranbringen würde.
SPIEGEL: ... an die Kontrolle von Atomwaffen?
GORDON WALKER: Ja, an ihre Kontrolle. Immerhin müßten deutsche Kapitäne und Mannschaften von Atomschiffen in der Lage sein, mit den Waffen umzugehen. Und dann die Idee, die Herr von Hassel und andere Leute geäußert haben, daß die Kontrolle durch Mehrheitsbeschluß ausgeübt werden sollte, und ähnliche Dinge! Es würde Deutschland zu nah an Kernwaffen heranbringen.
SPIEGEL: Ist das aber nicht ...
GORDON WALKER: Sehen Sie, wir haben immer einen grundlegenderen Einwand gegen die MLF gehabt: Wenn wir auch der amerikanischen Politik zustimmen, Deutschland einen Platz in der Allianz zu geben, um zu vermelden, daß Deutschland Atomwaffen bekommt - die Mittel zu diesem Zweck sind falsch. Sie werden letztlich ihren Zweck sogar verfehlen, denn unserer Auffassung nach könnte und würde die MLF auf lange Sicht die vollkommen vernünftigen nationalen Bestrebungen und Gefühle Deutschlands nicht befriedigen. Wir würden uns dann genau demselben Problem gegenübersehen: Die MLF hätte das Grundproblem in der Allianz nicht gelöst. Mein prinzipieller Einwand gegen die MLF:
Es gab weit bessere Wege, das Ziel zu erreichen.
SPIEGEL: Welche?
GORDON WALKER: Ich will damit sagen, daß wir die Entwicklung unserer eigenen Kernwaffen aufgeben würden. Dafür würden wir uns mit den Vereinigten Staaten in die wirkliche Planung, in die entscheidenden Diskussionen und Entschlüsse teilen müssen, die die Atompolitik und -strategie bestimmen. Das ist dann keine bloße Diskussion. Das geht in grundlegende Dinge, wobei wir durchaus nicht die letzte Entscheidung haben wollen; aber dennoch geht es hier doch um die grundsätzliche Planung. Und eben auf dieser Ebene müßte Deutschland beteiligt sein, das heißt: wir ohne Kernwaffen, Deutschland ohne Kernwaffen - und somit wirklich gleichgestellt, keines der beiden Länder mit einem Finger am Abzug.
SPIEGEL: Sie sind sehr fair gegenüber Deutschland, wenn Sie die Auffassung vertreten, daß England atomar abrüsten müsse, damit Deutschland einen gleichberechtigten Platz innerhalb der Nato einnehmen könnte.
GORDON WALKER: Sagen wir so: Wir glauben wirklich, daß es im Interesse Englands liegt, unsere nuklearen Waffen in jedem Falle abzubauen. Wir sind der Ansicht, daß sie äußerst teuer sind, wir glauben, daß sie mehr und mehr an Realität einbüßen. Wir meinen, daß die ganze De Gaulle-Politik vollkommen falsch für ein Land unserer Größe oder der Frankreichs oder auch Deutschlands ist.
SPIEGEL: Weil eine solche kleine Atomstreitmacht einen vorwegnehmenden Atomschlag der anderen Seite geradezu herausfordern würde?
GORDON WALKER: Meiner Meinung nach reicht sie gerade aus, einen ersten Schlag herauszufordern. Ich glaube, die MLF bedeutet, daß wir alle auf dieser Seite des Atlantiks mit einem Anteil an einem sehr geringen Teil der Atomwaffe zufrieden sein sollen, während ich einen Anteil an der ganzen, der wirklichen Waffe möchte. Wenn es uns unmöglich ist, eine wirksame und glaubwürdige Abschreckung zu unterhalten, ist es auch für Deutschland unmöglich. Außerdem: Wenn sich für Deutschland kein gleichberechtigter Platz in der Allianz findet, dann wird sich das deutsche Nationalgefühl verzerren - wie gut die Menschen auch immer sein mögen. Das würde jedem Land so gehen.
SPIEGEL: Und wie war die Reaktion in Washington?
GORDON WALKER: Ich sagte: Wenn sich die von mir vertretene Politik nicht verwirklichen lasse, weil Amerika oder Deutschland nicht zustimmen, dann wäre ich bereit, die MLF erneut in Betracht zu ziehen. Ich sah ein, daß, wenn es keinen anderen Weg gäbe, Atomwaffen für Deutschland zu vermeiden, uns dann nichts übrig bliebe, als uns wieder mit dem Projekt der MLF zu befassen. Es wäre sicher besser als die Alternative: eine nationale Atomwaffe für jeden. Aber ich würde sie immer noch als eine sehr schlechte Notlösung betrachten.
SPIEGEL: Das gleiche Problem der Kontrolle von Atomwaffen besteht doch auch bei taktischen Atomwaffen, die der Bundeswehr und den anderen Nato -Truppen in Europa zur Verfügung stehen.
GORDON WALKER: Ich sehe die Stärke und Logik dieses Arguments ein, jedoch besteht in der Praxis ein enormer Unterschied zwischen Waffen taktischer Art, die höchstens 70 Meilen, meist sogar nur drei oder vier Meilen weit reichen, und Mittelstreckenraketen, die wirklich strategische Bedeutung, besitzen. Auch wenn man die taktischen Nuklearwaffen, die im Moment vorhanden sind, in Betracht zieht, würde ich doch sehr wünschen, sie durch eine besondere Kommandostruktur von den konventionellen Kräften zu trennen; natürlich bin ich sicher, daß die taktischen Atomwaffen in Europa bleiben müssen, solange Rußland sie hat - wir können unsere Soldaten keinem vernichtenden Angriff aussetzen.
SPIEGEL: Ist es wirklich die Meinung der Sowjets, daß die Bildung der multilateralen Atommacht mit deutscher Beteiligung ein Abkommen über den Stopp von Atomversuchen unmöglich machen würde?
GORDON WALKER: Ja. Jede Aussicht auf ein Abkommen, sei es ein Versuchsstopp-Abkommen oder sonst etwas, würde sich verringern. Das wurde sogar, soweit ich zwischen den Zeilen lesen konnte, im Birch-Grove-Kommuniqué (nach der Zusammenkunft zwischen Premier Macmillan und Präsident Kennedy Ende Juni) eingestanden, wo man praktisch erklärte: »Wir wollen die MLF zurückstellen, um mit dem Versuchsstopp voranzukommen. »Das heißt schon fast: »Hätten wir das MLF -Projekt nicht fallengelassen oder hintangesetzt, so wären wir nicht in der Lage gewesen, weiterzukommen.«
SPIEGEL: Aber es kann doch gut sein, daß die Russen dieses Argument nur als Druckmittel benutzen, um die Bildung der multilateralen Streitmacht zu verhindern, die ihnen offenbar unangenehm ist?
GORDON WALKER: Ja, man muß da sehr vorsichtig sein, das sind lebenswichtige Dinge. Ebenso muß aber auch Herr Chruschtschow von seinem Standpunkt aus gewärtig sein, daß wir das gleiche tun. Obwohl ganz eindeutig gemeinsame Interessen im Spiel sind, gibt es ebenso viele scharf gegensätzliche Interessen. Beide Seiten müssen sehr vorsichtig, klug und diplomatisch vorgehen. Ich glaube, Herr Chruschtschow zerbricht sich hierüber mehr den Kopf als über viele andere Dinge.
SPIEGEL: Hat Chruschtschow sich über die französische Force de Frappe geäußert? Er hat sie früher einmal eine Fliege genannt ...
GORDON WALKER: Ich glaube nicht. Er sagte vielmehr einfach, und das ist interessant: »MLF ja, wir sind wirklich besorgt Französische Force de Frappe, unbedeutend.« Er macht also Unterschiede, seien sie psychologischer, seien sie militärischer Art. Er sagte jedenfalls: »Ich betrachte die Force de Frappe nicht als eine Waffe, die zählt nicht, selbst wenn sie aufgebaut ist.«
SPIEGEL: Aus dem, was Sie gesagt haben, muß man den Schluß ziehen, daß Sie an einer selbständigen europäischen Abschreckungsmacht nicht interessiert sind.
GORDON WALKER: Nein, ich bin gegen eine europäische Abschreckung.
SPIEGEL: Aus welchen Gründen?
GORDON WALKER: Aus einer ganzen Reihe von Gründen. Einesteils glaube ich, daß diese Waffen angesichts unserer geographischen Lage sehr verwundbar sind, daß sie wirklich einen vorbeugenden Schlag herausfordern. Andererseits glaube ich mehr und mehr, daß sie letztlich nur dazu dienen, die gesamte westliche Alliinz zu schwächen und zu zerstören, wenn sich auf beiden Seiten (des Atlantiks) Kernwaffen befänden, dann würde die Allianz über kurz oder lang auseinanderbrechen. Drittens glaube ich, daß eine europäische Atommacht unvermeidbar unsere Rüstungsmittel den konventionellen Streitkräften entziehen würde.
SPIEGEL: Es wurde behauptet, daß Sie in Washington und Moskau verschiedene Dinge über die multilaterale Atomstreitmacht gesagt hätten.
GORDON WALKER: Oh! Wenn tatsächlich gesagt worden ist, wir hätten in Moskau und Washington mit zwei Zungen gesprochen, so ist das bestimmt unwahr. Ich halte es vielleicht für möglich, daß in Washington, wo man immerhin ungezwungen und offen diskutieren kann, etwas größerer Nachdruck auf die rein militärischen Probleme der MLF-Waffen gelegt wurde. Unsere politischen Einwände gegen die MLF waren auf jeden Fall in Washington dieselben wie in Moskau.
SPIEGEL: Sie zeigen ein großes Vertrauen in die Amerikaner, aber weniger in die Deutschen. Und umgekehrt haben auch die Deutschen mehr Vertrauen zu Washington als zu London.
GORDON WALKER: Ich glaube, das stimmt. Ich bin über
den Stand unserer Beziehungen zu Europa betrübt. Ich glaube, auf bestimmten Gebieten wird es immer gewisse Interessenunterschiede zwischen Landern geben. Und es ist unvermeidbar, daß Deutschland die meiste Zeit daran denken muß, na, vielleicht nicht die meiste Zeit ... aber es darf das Problem der Wiedervereinigung nie aus den Augen lassen. Dagegen müssen wir
und auch Amerika an das gesamte Weltproblem und die Entspannung denken. Daher kommt ein gewisser Unterschied der Betonung; Herr Adenauer ganz besonders hat Großbritannien im allgemeinen stets mißtraut.
SPIEGEL: Aber England hat nicht genug die Tatsache gewürdigt, daß die Bundesrepublik sehr viel unternahm, um England in die EWG hineinzubringen. Das war doch eine pro-englische Politik, die anerkannt werden sollte, selbst wenn Sie persönlich eine Beteiligung Englands am Gemeinsamen Markt bekämpfen.
GORDON WALKER: Deutschland geht gewiß sehr weit in dem Bemühen, Großbritannien einzubeziehen, doch es macht nie den letzten Schritt, weil schließlich doch die Politik einer Aussöhnung mit Frankreich für Deutschland ausschlaggebend sein muß. Wenn es also, wie bei den Verhandlungen über Freihandelszone und EWG, wieder zur letzten Wahl kommt, muß Deutschland seinen Druck für einen Beitritt Großbritanniens aufgeben, weil Frankreich dagegen ist.
SPIEGEL: Viele Deutsche sind verstimmt, weil ein Teil der britischen Öffentlichkeit, insbesondere ein Teil der Labour-Partei, dazu neigt, beide deutsche Staaten, die DDR und die Bundesrepublik, als gleichwertig anzusehen.
GORDON WALKER: Nun ja, es gibt in England einige Leute die das tun. Einige tun es aus sehr eigennutzigen, merkantilen Gründen. Dies gilt für beide Parteien. Es gibt einige Leute auf dem äußersten linken Flügel der Labour-Partei, die diese Haltung einnehmen. Aber das, wissen Sie, spiegelt nicht die öffentliche Meinung Englands wider. Ich glaube durchaus, daß die Deutschen sie bemerken, sich über sie ärgern, wobei sie notgedrungen die Wichtigkeit deutschfeindlicher Stimmen übertreiben. Ich kann das gut verstehen und wünschte, es würde nicht geschehen. Aber auf der anderen Seite ist das nicht für Großbritannien repräsentativ. Es ist vollkommen richtig, daß es in Britannien immer noch einen Grad von deutschfeindlichen Gefühlen gibt, aus erklärlichen Gründen. Der letzte Krieg bedeutete für uns wesentlich mehr als der Erste Weltkrieg. Ich glaube, das gibt sich im Laufe der Zeit.
SPIEGEL: Wird es nicht allmählich Zeit ...
GORDON WALKER: Ich meine, wenn wir zu der von mir angestrebten Politik gelangen könnten: ein Deutschland, das wirklich auf unserer Seite steht und auf nukleare Waffen verzichtet, dann würde die deutschfeindliche Stimmung verschwinden. Ich halte es sogar für möglich, daß sie mit Dr. Adenauers Abtreten untergehen könnte. Fair oder nicht fair, sie richtet sich bis zu einem gewissen Grade gegen seine Person.
SPIEGEL: Mr. Gordon Walker, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Gordon Walker (M.) beim SPIEGEL-Gespräch in seiner Londoner Wohnung*
Labours Schatten-Außenminister Gordon Walker bei Chruschtschow und bei Kennedy: Pankow anerkennen?
Das »deutsche Theater«
Das Symbol
einer guten Sache
Für den
Ost-West-Verkehr
Labours Bild von der
Bundesrepublik
Chruschtschows Bild von der Bundesrepublik