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Markus Feldenkirchen

Corona-Politik Todesfalle Glühweinstand

Markus Feldenkirchen
Eine Kolumne von Markus Feldenkirchen
Die deutsche Politik hat einen neuen Pandemietreiber ausfindig gemacht. Erst der Karneval, dann Kirchenchöre, Fetischpartys oder Großhochzeiten im migrantischen Milieu. Jetzt kommt der Glühweinstand.
aus DER SPIEGEL 51/2020
Glühweingenuss in Hamburg, Archivbild von 2012

Glühweingenuss in Hamburg, Archivbild von 2012

Foto: Alex Ehlers/ dpa

Die Pandemie macht etwas mit mir, ich werde zunehmend seltsamer. Am vergangenen Wochenende habe ich auf einem Bürgersteig einen Glühwein getrunken. Das ist mir seit Jahrzehnten nicht mehr passiert. Ich hasse diese Plörre. Die Kombination von Wein und Zuckermassen halte ich für ähnlich gelungen wie die von Aal und Nutella. Für mich hat die Glühweinobsession der Deutschen etwas ebenso Verstörendes wie die mit dem ewigen Spargel. Der deutsche Gaumen hat es gern tümelig.

In diesem traurigen Winter ist Glühwein der neue heiße Scheiß. Vor Corona war er dank der Weihnachtsmärkte noch eingehegt. Nun ist er überall. In Berlin zum Beispiel wird vor jedem zweiten Haus Glühwein verkauft. Selbst der Sri Lanker bei mir um die Ecke hat umgeschult und macht jetzt auf Christkindlmarkt. Dass er das gern tut, bezweifle ich. Aber er weiß eben: In der Not trinkt der Deutsche Glühwein.

Die Ökonomie des Glühweins funktioniert nach den simplen Mechanismen von Angebot und Nachfrage. Natürlich würden die meisten Menschen gern etwas anderes trinken und die meisten Bars und Restaurants etwas anderes verkaufen. Aber was will man schon anbieten, wenn es nur draußen in der Kälte konsumiert werden darf? Für den Glühwein ist Corona eine Jahrhundertchance. Auch weil der Mensch als geselliges Wesen einen chronischen Hang zur Rudelbildung verspürt. Er sucht immer neue Wege, um sein Bedürfnis nach Nähe zu stillen, notfalls eben vor improvisierten Glühweinständen.

Die deutsche Glühweinpolitik simuliert Handlungsstärke, wo Hilflosigkeit herrscht.

Nun aber geht es dem Glühwein an den Kragen. Seit einigen Tagen hat die deutsche Politik einen neuen Pandemietreiber ausfindig gemacht. Erst der Karneval, dann Kirchenchöre, Fetischpartys oder Großhochzeiten im migrantischen Milieu. Jetzt kommt der Glühweinstand.

Oberinspektor Lauterbach schickte voriges Wochenende den folgenden Lagebericht aus der Kölner Innenstadt: »Glühweinstände sind heute Abend voll im Einsatz. Im Belgischen Viertel zB stehen die Leute ohne Maske und Abstand mit Glühwein/Flaschenbier. Das kostet zum Schluss Neuinfizierte und Tote.« Und die Schulministerin von Schleswig-Holstein mahnte: »Es gibt ein Recht auf Bildung, aber kein Recht auf Glühwein.« Als (Neu-)Glühweintrinker bin ich jetzt binnen weniger Tage zum Kriminellen geworden. Die Botschaft ist deutlich: Wer jetzt noch Glühwein trinkt, hat die Leichen der kommenden Wochen auf dem Gewissen. Mindestens aber die nächste Schulschließung. Die Kanzlerin hat sich den Glühwein sogar in ihrer jüngsten Regierungserklärung vorgeknöpft. Bei anderen Themen macht sie bekanntlich nur ungern von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch, in Sachen Glühwein aber ist sie klar. Dessen Bekämpfung ist jetzt Chefsache.

Nüchtern betrachtet, ist die neue deutsche Glühweinpolitik ein trauriges Kapitel. Weil sie wohlfeil ist, ein Ablenkungsmanöver, weil sie Handlungsstärke simuliert, wo Hilflosigkeit herrscht. Eine solche Politik kann man sich bestenfalls schöntrinken. Mit Glühwein vom Sri Lanker.

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