Kontrollen und Personalmangel wegen Corona An der Grenze

Görlitz: An der deutsch-polnischen Grenze wird wieder kontrolliert
Foto: Robert Michael/ dpaWenn beim Pflegedienst Wünsch in Görlitz noch jemand wegen des Coronavirus ausfällt, dürfte es eng werden. Elf von zwölf polnischen Pflegekräften, die für Wünsch tätig sind, kommen derzeit nicht zur Arbeit nach Sachsen. "Die Kurzzeitpflege musste ich schließen, damit wir hier noch weiter unsere Patienten versorgen können", sagt Simone Wünsch.
Insgesamt arbeiten mehr als 80 Pflegerinnen und Pfleger in dem Unternehmen. Jetzt musste umgeschichtet werden, es funktioniert gerade noch so. Die letzte verbliebene Kollegin aus Polen ist privat in Deutschland untergekommen.
Der Grund: Die Beschränkungen beim Übergang an der polnischen Grenze, die es dort seit vergangener Woche gibt. Zehntausende pendeln normalerweise täglich in der Grenzregion zwischen Deutschland und Polen zur Arbeit. Doch nun müssen Personen aus Deutschland wegen des Coronavirus in eine 14-tägige Quarantäne, wenn sie nach Polen einreisen.
Ausgenommen sind bisher nur Berufsgruppen wie Lkw-Fahrer oder Piloten. Der tägliche Pendlerverkehr ist praktisch blockiert. In Görlitz stehen nach 16 Jahren problemlosem Grenzverkehr plötzlich große Gitter mitten in der Stadt, Brücken werden mit Ketten gesperrt. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas versuchen seit Tagen, die polnische Regierung zum Umsteuern zu bewegen, heißt es aus den Landesregierungen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Tschechien lenkte bereits ein. Dort dürfen auch Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, zwischen den Ländern pendeln - ohne komplizierte Einschränkungen. Wie lange das noch gilt, ist jedoch unsicher. Polen will die Quarantäneregelung zunächst mindestens bis zum 13. April aufrechterhalten, die Bundesregierung bemüht sich weiterhin um eine andere Lösung.
Die Landesregierungen in Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern versuchen nun, gerade das Fachpersonal aus Polen in Deutschland zu halten. So kann in Sachsen ein Tagesgeld von 40 Euro für Gesundheitspersonal beantragt werden, um vorübergehend in Deutschland unterkommen zu können. In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sind es 65 Euro für alle Berufsgruppen.
Auf Anfrage des SPIEGEL heißt es, bis Donnerstag hätten 14 Unternehmen für 84 Beschäftigte aus Tschechien und Polen in Sachsen einen Antrag gestellt. In Mecklenburg-Vorpommern meldeten sich 150 Personen bei einem Onlineportal als Interessenten an. In Brandenburg können die Anträge erst ab nächsten Montag eingereicht werden, gelten dann aber rückwirkend. Die Zahlen dürften also noch steigen. Unterkommen sollen die Betroffenen in Ferienwohnungen und Hotels.
Damit die Personen nicht von ihren Familien getrennt werden, gibt es ebenfalls Hilfe für Angehörige. Wie ein Sprecher der Stadt Frankfurt (Oder) sagt, hätten beispielsweise polnische Ärzte in der Stadt derzeit Urlaub genommen. Sie bleiben erst mal bei ihren Familien und bereiten sich darauf vor, zurückzukommen, wenn sich die Lage in den deutschen Krankenhäusern verschlechtert.
In der Bundesregierung gibt es auch weiterhin Überlegungen, sämtliche Grenzen von deutscher Seite aus zu kontrollieren. Bisher werden die Binnengrenzen zu Ländern kontrolliert, die als Corona-Risikoregion eingestuft sind. Dazu gehören Österreich, die Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Dänemark. Nach SPIEGEL-Informationen will Innenminister Horst Seehofer (CSU) am Montag im Corona-Kabinett vorschlagen, die Grenzkontrollen auch auf die Länder Tschechien, Belgien, die Niederlande und Polen zu erweitern.
Täglich kommen derzeit noch 20.000 Menschen aus Drittstaaten nach Deutschland, die womöglich potenziell auch den Coronavirus ins Land bringen könnten. Darüber hinaus soll es auch eine Quarantänepflicht für alle geben, die per Flugzeug nach Deutschland einreisen. Ob sich der Vorschlag durchsetzt, ist allerdings noch unklar. In der Bundesregierung und in den Bundesländern gibt es Kritik an weiteren EU-Binnenkontrollen, weil sie das für überzogen halten.
Bis zu 350.000 Betreuer für Senioren könnten fehlen
Eine strikte Kontrolle an der polnischen Grenze könnte einen unkalkulierbaren Nebeneffekt haben. Schätzungen des Gesundheitsministeriums zufolge gibt es in Deutschland zwischen 140.000 und etwa 350.000 24-Stunden-Betreuungskräfte aus Osteuropa, die illegal in privaten Haushalten beschäftigt sind.
Coronavirus: Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus Sars-CoV-2 gehört. Da es anfangs keinen Namen trug, sprach man in den ersten Wochen vom "neuartigen Coronavirus".
Sars-CoV-2: Die WHO gab dem neuartigen Coronavirus den Namen "Sars-CoV-2" ("Severe Acute Respiratory Syndrome"-Coronavirus-2). Mit der Bezeichnung ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann, aber nicht muss.
Covid-19: Die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Atemwegskrankheit wurde "Covid-19" (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind dementsprechend Menschen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und Symptome zeigen.
Sie können das Tagesgeld der Bundesländer nicht beanspruchen. Und sie könnten bei Kontrollen die deutsche Grenze wohl nicht wie üblich als Privatpersonen passieren. Da sie sich in keinen legalen Beschäftigungsverhältnissen befinden, können sie auch keine Bescheinigung für einen triftigen Grund vorlegen. Die Gefahr: Von heute auf morgen könnten Hunderttausende von ihnen Deutschland verlassen. Schon jetzt fehlen manche dieser Kräfte wegen der polnischen Quarantäne-Regelung.
Das Gesundheitsministerium verweist bei einem Ausfall auf ambulante Pflegedienste, Tagespflege und Nachbarschaftshilfe, ansonsten müssen die Angehörigen einspringen. Im Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz ist auch eine Kostenerstattung "in Höhe der ambulanten Sachleistungsbeträge" im Einzelfall möglich.
Ob das angesichts des ohnehin akuten Mangels an Pflegekräften reicht, da die Heime und Dienste jetzt auch noch durch das Virus zusätzlich belastet sind, ist aufgrund der ungewissen Anzahl nicht absehbar. "Dringend müssen deshalb auch die Tagespflegen geöffnet bleiben", sagt die pflegepolitische Sprecherin der SPD, Heike Baehrens. Viele der Dienste hatten zuletzt geschlossen.
Verena Bentele, VdK-Präsidentin
"Die angespannte Lage in der häuslichen Pflege wird sich noch deutlich verschärfen", sagt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK. "Wenn die osteuropäische Haushaltshilfe nicht mehr kommt, stehen viele Familien hilflos vor der Frage, wie sie ihre Väter, Mütter oder Großeltern weiter angemessen versorgen sollen."
Bentele begrüßt das Tagesgeld in der Grenzregion, fordert aber auch für die anderen Fälle noch weitere Maßnahmen. Etwa die Möglichkeit, dass Berufstätige, die ihre Angehörigen pflegen müssen, aus dem Beruf zeitweise aussteigen können. "Wir schlagen vor, die Regelung zur Kurzarbeit auf diese Personen auszudehnen", sagt Bentele.
Weitere Restriktionen von deutscher Seite aus könnten auch den Verkehr weiter beeinträchtigen und ein falsches Signal an die Nachbarstaaten senden. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Verkehrspolitiker Christoph Ploß sieht momentan keinen Grund, mehr Kontrollen durchzuführen. "Ich sehe nicht, dass es innerhalb Europas derzeit sonderlich viele private Reisen gibt, die eine Infektionsverbreitung verstärken könnten", sagt Ploß. Gerade jetzt sei es wichtig, dass die Logistik in Europa gut funktioniere, um die Versorgung der deutschen Bevölkerung zu sichern. Auch der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Konstantin Kuhle, mahnt: "Nach einem Ende der Corona-Pandemie müssen die Grenzbäume sofort wieder abgebaut werden - ein Europa der geschlossenen Binnengrenzen ist auf Dauer unerträglich."
Für den Pflegedienst Wünsch in Görlitz ist so oder so in nächster Zeit keine Lösung in Sicht. Den elf Mitarbeitern, die in Polen blieben, hatte man die Lösung mit dem Tagesgeld angeboten, einschließlich der Mitnahme der Angehörigen. Selbst Wohnungen waren bereits organisiert. Doch die Pflegerinnen und Pfleger lehnten ab. Sie wollten in der Umgebung ihrer Familien bleiben. Sie wüssten ja nicht, wie lange die deutsch-polnische Grenze in ihrer Stadt noch kontrolliert werde.