GEWERKSCHAFTEN Coup der Christen
Zum erstenmal seit dem RevolutionsMai von 1968 griffen Frankreichs Arbeiter wieder zum schärfsten Mittel im Arbeitskampf -- sie besetzten die Fabrikanlagen des staatlichen Automobilunternehmens »Régie Renault«.
Doch sie taten es nicht spontan -- wie vor drei Jahren -, sondern nach einer Urabstimmung. Und nicht Studenten hatten sie angetrieben, sondern christliche Genossen.
»Occupation«. Besetzung, war die Losung der Gewerkschafts-Organisation »Confédération francaise et democratique du travail« (CFDT). Die Gewerkschaft ist nicht nur französisch und demokratisch, sie ist vor allem christlich: Alle CFDT-Chefs und die Mehrzahl ihrer Anhänger sind praktizierende Katholiken.
Wie in kaum einem anderen europäischen Land hat sich die katholische Kirche Frankreichs, die sich selbst gern als die »älteste Tochter der Kirche« bezeichnet, von einem Vorkriegshort der Reaktion zu einer der progressivsten Institutionen der Gegenwart entwickelt. Die Wandlung ist vollständig. Sie reicht von militanten Gewerkschaftlern bis zum Erzbischof von Paris, Kardinal Marty, dem Ranghochsten in Frankreichs katholischer Kirche.
Ende vergangenen Monats erst hatte der Kardinal Partei für 13 junge Linksextremisten genommen, die mit 200 Demonstranten und dem Existenz-Philosophen Jean-Paul Sartre sowie dem avantgardistischen Filmemacher Jean-Luc Godard gewaltsam in die berühmte Basilika Sacré-Caeur am Pariser Montmatre eingedrungen waren und dort Flugblätter verteilt hatten.
Pariser Richter verurteilten sie zu vier und sechs Monaten Gefängnis, was dem Kardinal »allzu streng« erschien. Frankreichs oberster Katholik stand nicht allein: Zwölf französische Bischöfe hatten bei ihrem Oberhirten protestiert und mitgeteilt, die Urteile seien ein Schock für viele Gläubige gewesen.
Sogleich bezichtigte Alt-Gaullist Alain Peyrefitte, de Gaulles früherer Erziehungsminister. den höchsten katholischen Würdenträger, die Unabhängigkeit der Justiz angetastet zu haben. Weiter noch ging der Chef der rechtsradikalen »Republikanischen Allianz«. Tixier-Vignancour: »Der Kardinal hat für die Subversion mehr geleistet als 10 000 Linksextremisten.«
Den Linksruck französischer Katholiken bezeichnete der Geschichtsprofessor Georges Haupt als das »vielleicht interessanteste Phänomen der französischen Nachkriegszeit«. Jesuitenpater Thomas, Herausgeber der Zeitschrift »Christus": »Lange Zeit hindurch hat die Kirche eine idealistische Vision der Dinge gehabt. Sie sah nicht, daß die Freiheit Voraussetzungen erfordert.«
Vor etwa einem Jahr wurden sich mehr als 300 Pfarrer der Vereinigung »Échanges et Dialogues« dieser Bedingungen bewußt. Sie beschlossen, als einfache Arbeiter in die Fabriken zu gehen. »Wir wollen mit jenen leiden und kämpfen«, verkündeten sie in einem Manifest, »die zu den Unterdrückten unserer Gesellschaftsordnung gehören.«
Mit den Unterdrückten der französischen Gesellschaft kämpfen auch die etwa 100 000 Mitglieder der katholischen Arbeiter-Vereinigung »Action catholique ouvière«, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg jede politische Stellungnahme ablehnte. Auf ihrem Kongreß Mitte Mai, an dem neben 698 Laien auch 14 Bischöfe und 131 Pfarrer teilnahmen, wurde ein Bericht des Generalsekretärs Henri Le Buan gebilligt, in dem steht: »Die Arbeiter ... fechten mehr und mehr eine Gesellschaftsordnung an, die auf dem Profit beruht und in der der Mensch erschlagen wird.«
Schon Jahre zuvor war die »Jeunesse étudiante chréienne«, ein Verband christlicher Studenten, auf den Weg des Klassenkampfes eingeschwenkt. Die jungen Christen bekannten sich zur sozialistischen Revolution und mußten sich noch 1965 von der Kirche auffordern lassen, diesem »Irrweg« abzuschwören. Heute duldet Frankreichs hoher Klerus, daß der Verband christlicher Studenten bei Demonstrationen gemeinsam mit Maoisten, Trotzkisten und Anarchisten die rote Fahne entrollt.
Die roten Christen hätten sich überall eingenistet, schimpfte der gaullistische Parlamentsabgeordnete Le Douarec aus der stockkatholisch-konservativen Bretagne. Le Douarec: »Bei uns sind die Pfarrer jetzt alle mit der PSU.«
Die »Parti socialiste unifi« (PSU), eine linkssozialistische Organisation mit etwa 15 000 Mitgliedern, ist im Parlament nur durch den Deputierten Michel Rocard vertreten, der 1969 de Gaulles ehemaligen Außen- und Premierminister Couve de Murville in einer Nachwahl besiegt hatte. Rocard und seine Sozialisten vertreten trotzkistische Ideen. etwa zwei Drittel ihrer Mitglieder aber sind praktizierende Christen.
Wichtiger als die relativ kleine PSU ist die Christengewerkschaft CFDT. Mit etwa 700 000 Mitgliedern ist sie die stärkste französische Gewerkschaftsorganisation nach der kommunistischen »Confédération générale du travail« (CGT), in der etwa 1,5 Millionen Arbeiter organisiert sind.
Hervorgegangen ist die radikale Christen-Gewerkschaft aus der gleich nach dem Ersten Weltkrieg auf Initiative der katholischen Geistlichkeit gegründeten Organisation »Confédération francaise des travailleurs chrétiens« (CFTC). In ihren Statuten war deshalb die christliche Ethik verankert.
Von Sozialisten und Kommunisten als konservativ oder sogar als »gelb« (streikbrecherisch) verhöhnt, wanderte sie nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter nach links.
Im Revolutions-Mai 1968 übertrumpfte die CFDT endgültig die kommunistische CGT. Die Christen-Gewerkschaftler machten gemeinsame Sache mit den Linksradikalen und handelten sich von den traditionalistischen CGT-Kollegen den Vorwurf ein, mit Trotzkisten, Maoisten und Anarchisten zu liebäugeln.
Während sich heute Frankreichs Kommunistische Partei und ihr Gewerkschaftsanhängsel CGT als »Partei der Ordnung« -- so der stellvertretende KP-Generalsekretär Georges Marchais -bezeichnet, wollen die Christen gerade diese -- bürgerliche -- Ordnung revidieren.
Als Frankreichs Kommunisten bei der Mai-Parade dieses Jahres die Beteiligung linksrevolutionärer Gruppen ablehnten, zog sich in Paris die CFDT vom traditionellen Protestmarsch zurück; viele ihrer Mitglieder aber demonstrierten im Konkurrenzzug der Linken.
Doch erst bei den Renault-Wahlen besiegte die CFDT ihre artige kommunistische Schwester-Organisation. Während die Kommunisten nur streiken wollten, plädierten die Christen für Besetzung. Die meisten Renault-Arbeiter sind Mitglieder der kommunistischen CGT. Dennoch stimmten sie mehrheitlich für die revolutionären Christen.