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Artikel 23 / 73

»Da gibt es nichts zu deuteln«

aus DER SPIEGEL 22/1974

SPIEGEL: Drei West-Berliner Richter sind angetreten, die Bindungen zwischen dem Bund und ihrer Stadt zu kappen. Sie wollen -- im Zusammenhang mit dem Fall Brückmann -- offenbar eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts desavouieren und bemühen sich für dieses Vorgehen um Rückendeckung bei den Alliierten. Was, Herr Wand, würden Sie dazu sagen, wenn Sie nicht Bundesverfassungsrichter. wären und reden könnten, wie Sie Wollten?

WAND: Das zu sagen, verbietet mir gerade die Rücksicht auf mein Amt.

SPIEGEL: Soviel steht doch wohl fest: Zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepublik halten es deutsche Richter für opportun, Berliner Bürgern den Grundrechtsschutz zu verkürzen und damit die in 25 Jahren gewachsene Rechtseinheit zwischen dem Bund und Berlin anzutasten.

WAND: Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie darauf hinaus, daß das Kammergericht offenbar als erstes Berliner Gericht den Weg zum Britischen Stadtkommandanten beschritten bat, um durch die Alliierte Kommandantur feststellen zu lassen, ob es ·eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts respektieren darf.

SPIEGEL: Wie wenn Berlin unter absolutem Ausnahmerecht stände. Unabhängige Richter rufen ohne Not die Besatzungsmächte als Schiedsinstanz an. Frage an den Bundesverfassungsrichter: Gehört Berlin nun zum Bund oder nicht?

WAND: Da gibt das Grundgesetz Antwort, und zwar eindeutig: West-Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 23 erstreckt den Geltungsbereich auf das Gebiet des Landes Berlin. Auch die Artikel 127 und 144 Absatz 2 des Grundgesetzes besagen zweifelsfrei, daß nach dem Willen des deutschen Verfassungsgebers Berlin in die Organisation der Bundesrepublik Deutschland einbezogen sein soll.

SPIEGEL: So mag es geschrieben stehen, aber wieviel gilt das? immerhin ist in Berlin doch geschehen, was für ein anderes Bundesland nicht einmal denkbar wäre, gegen Karlsruhe zum Schaden der Bürger und ihrer Rechtssicherheit Front zu machen.

WAND: Der Schritt des Kammergerichts zu den Alliierten war nur mög-

* Mit Axel Jeschke sind Rolf Lamprecht.

lich, weil der Status Berlins als Land der Bundesrepublik gemindert und auch belastet ist -- durch den sogenannten Vorbehalt der Gouverneure der Westmächte bei der Genehmigung des Grundgesetzes. Damals haben die drei Mächte -- grob formuliert = die volle Einbeziehung Berlins in die Bundesrepublik Deutschland vorerst aufgeschoben. Wegen der besonderen Lage Berlins im Spannungsfeld widerstreitender Machtinteressen hielten sie es für notwendig, ihre Rechte und Verantwortlichkeiten aufrechtzuerhalten. Deshalb dekretierten sie, daß Berlin nicht durch den Bund »regiert« werden darf.

SPIEGEL: Das war Anfang der fünfziger Jahre. Mittlerweile haben sich die Verhältnisse gewandelt. Der Status von West-Berlin wird nun auch von östlicher Seite hingenommen. Viermächteabkommen und der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag sind in Kraft. Mindert das die Rechtsstellung Berlins?

WAND: Nein. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 über den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist ausdrücklich festgestellt, daß dieser Vertrag an der Rechtslage Berlins, wie sie seit je von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, den Ländern der Bundesrepublik und dem Bundesverfassungsgericht gemeinsam unter Berufung auf das Grundgesetz verteidigt worden ist, nichts geändert hat.

SPIEGEL: Wirklich nicht? Im Fall Bruckmann wurde der bislang reibungslos funktionierende Amtshilfeverkehr unterbrochen. Die Alliierten verboten dem West-Berliner Senat schlichtweg die Aktenübersendung nach Karlsruhe.

WAND: Das trifft leider zu, obwohl nach Artikel 35, Absatz 1 des Grundgesetzes auch die Behörden des Landes Berlin verpflichtet sind, dem Bundesverfassungsgericht Rechts- und Amtshilfe zu leisten. Dieser Pflicht kann der alliierte Vorbehalt nicht entgegenstehen. Darüber gab es bisher niemals Meinungsverschiedenheiten.

SPIEGEL: Auf dieses erste Mal sind die Allierten doch wohl schwerlich allein gekommen. Da hat es doch Absprachen mit der Regierung gegeben.

WAND: Ich bin sicher, daß die Alliierten vor ihrer Entscheidung die Bundesregierung konsultiert haben.

SPIEGEL: Wer immer manipuliert haben mag: Die Überdehnung 25 Jahre alter Vorbehalte darf doch wohl nicht so weit gehen, daß Berliner Bürger ihre Grundrechte einbüßen?

WAND: Der Grundrechtsteil der Verfassung gilt in West-Berlin uneingeschränkt. Er wird von dem Vorbehalt nicht berührt. Das heißt, die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung des Landes Berlin als unmittelbar geltendes Recht.

SPIEGEL: Gut zu wissen. Aber auch damit ist praktisch ·die Rechtseinheit zwischen Bund und Berlin noch nicht hergestellt. Ob Arbeits-, Handels- oder Eherecht, ob Strafrecht oder Verkehrsrecht -- die juristischen Alltagsfragen müssen in Berlin gelöst werden wie im übrigen Bundesgebiet. Deshalb sind nahezu alle Bonner Gesetze auch für Berlin verbindlich. Bedeutet das nicht, daß Berlin trotz aller Vorbehalte im Grunde doch vom Bund regiert wird?

WAND: Da Bundesrecht von Bundesorganen gesetzt wird und der Berlin-Vorbehalt -- vereinfacht formuliert -- untersagt, daß Bundesorgane unmittelbar Staatsgewalt in Berlin ausüben, haben wir seit Anfang der fünfziger Jahre die »Mantelgesetzgebung": Das Berliner Abgeordnetenhaus beschließt, daß die vom Bundesgesetzgeber erlassenen Gesetze in Berlin Anwendung finden. Und Rechtsverordnungen des Bundes werden einfach vom jeweils zuständigen Senator im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin veröffentlicht.

SPIEGEL: Umstritten ist gleichwohl der rechtliche Rang des von Berlin übernommenen Bundesrechts. Die Alliierten meinen, es sei Landesrecht, das Bundesverfassungsgericht stuft höher ein -- als Bundesrecht.

WAND: So sehen es beide Senate des Verfassungsgerichts, und daran gibt es auch nichts zu deuteln. Eine andere Auslegung läßt die Verfassung nicht zu.

SPIEGEL: Mit welcher Qualität auch, jedenfalls übernimmt Berlin seit je Bundesgesetze unverändert -- ohne Rücksicht auf parteipolitische Interessen.

WAND: Das kann auch gar nicht anders sein. Der Berliner Gesetzgeber hat sich im Einvernehmen mit den drei Mächten selbst gebunden, alle Bundesgesetze mit sogenannter Berlin-Klausel wortwörtlich in Kraft zu setzen. Gerade auf diese Weise soll die Bindung Berlins an den Bund und damit nicht zuletzt die Bewahrung der Rechtseinheit im ganzen Bundesgebiet sichergestellt werden.

SPIEGEL: Nichts weiter als ein formaler Akt also?

WAND: Was das Berliner Abgeordnetenhaus tut, ist mit Rücksicht auf den Berlin-Vorbehalt zwar nötig, aber in der Tat schiere Automatik.

SPIEGEL: Mithin kann Berlin ein einmal übernommenes Gesetz später sowenig ändern wie Bayern oder Hamburg?

WAND: So ist es, und so sollte es bleiben. Auch das ist ein Stück Rechtseinheit.

SPIEGEL: Wie ist die Rechtslage, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Bundesgesetz für nichtig erklärt, das auch in Berlin gilt?

WAND: Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat 1966 festgestellt: In Übereinstimmung mit der Staatspraxis verliere »nach allgemeiner Auffassung durch eine solche gesetzeskräftige Entscheidung das Berliner Übernahmegesetz automatisch sein Substrat«. Die betreffende Rechtsvorschrift werde »demgemäß auch von den Berliner Gerichten und Behörden nicht mehr angewandt, ohne daß es einer besonderen Maßnahme des Berliner Gesetzgebers bedürfte«.

SPIEGEL: Ein Bundesgesetz, das in Karlsruhe kassiert wird, ist demnach zwangsläufig auch in Berlin vom Tisch; Auf diese Weise wirkten rund hundert Nichtigkeitssprüche im Steuer-, Familien- und Jugendrecht, im Strafrecht oder auch im öffentlichen Dienstrecht nach Berlin hinein. Wie sieht es aus, wenn ein dubioses Gesetz nicht annulliert, sondern verfassungskonform ausgelegt wird, was kaum weniger häufig geschieht?

WAND: Das ist in der Substanz kein anderes Problem. Es versteht sich von selbst, daß das nach Berlin übernommene Bundesrecht dort keinen anderen Inhalt haben kann als im übrigen Bundesgebiet. Darüber gab es bisher jedenfalls keine ernstlichen Meinungsverschiedenheiten ...

SPIEGEL: ... bis zum Fall Brückmann.

WAND: Jede andere Beurteilung müßte zwangsläufig zur Zerstörung der Rechtseinheit zwischen dem Land Berlin und dem übrigen Bundesgebiet führen, ein Ergebnis ...

SPIEGEL: . .. auf das nun das West-Berliner Kammergericht hinarbeitet ...

WAND: ... das auch die Alliierten, die bisher größtes Verständnis für diese Rechtseinheit gezeigt haben, nicht wünschen können.

SPIEGEL: Warten wir"s ab. Über einen Punkt kommt man formal tatsächlich nicht so leicht hinweg. Karlsruher Entscheidungen binden die Berliner Instanzen nicht eo ipso, weil das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht nicht übernommen worden ist.

WAND: In der Tat: Die Alliierten haben gegen die Übernahme dieses Gesetzes nach Berlin Einspruch erhoben. Deshalb gilt die einschlägige Vorschrift, wonach die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden binden, jedenfalls nicht unmittelbar in Berlin.

SPIEGEL: Und mittelbar?

WAND: Die Bindungswirkung des Paragraphen 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz bedeutet, daß die vom Bundesverfassungsgericht gefundene Interpretation eines Bundesgesetzes für jede staatliche Stelle in Bund und Ländern verbindlich ist -- außer in Berlin. Daß ein und dasselbe Bundesgesetz in Köln und Freiburg keinen anderen Inhalt haben kann als in Berlin, entspringt zwingender Logik. Durch diesen »Rückkopppelungseffekt«, wenn Sie so wollen, sind letztlich auch die West-Berliner Gerichte und Behörden mittelbar gebunden.

SPIEGEL: Haben das Berliner Behörden und Gerichte -- von der jüngsten Brückmann-Entscheidung des Kammergerichts mal abgesehen -- bislang auch immer so verstanden?

WAND: Nach meiner Kenntnis ja. Mehr noch, mir ist auch nichts darüber bekannt, daß die Alliierten gegen diese Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts je Einwendungen erhoben hätten.

SPIEGEL: Das Kammergericht mit seiner Extratour hat nun schlafende Hunde geweckt. Wenn das Schule machen sollte, wäre Berlin bald rechtliches Exterritorium.

WAND: Ich möchte über den Beschluß des Kammergerichts kein Urteil fällen; dies steht mir nicht zu. Die von Ihnen apostrophierte Entwicklung, an die ich einfach nicht glauben mag, würde Berlin auf einen Status quo minus zurückwerfen.

SPIEGEL: Herr Wand, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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