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»Da haben wir den Salat«

Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine über seine Verhandlungsstrategie für die Steuerreform
aus DER SPIEGEL 12/1997

SPIEGEL: Herr Lafontaine, hat die Konfrontation um die Kohle, hat der Marsch der Kumpel auf Bonn die innenpolitischen Koordinaten dieser Republik verändert?

LAFONTAINE: Ja, weil der Protest der Bergleute zum Erfolg geführt hat. Es wird keine Entlassungen im Bergbau geben. Die Arbeitnehmer sehen anhand dieses Beispiels: Es lohnt sich, mit ihren Gewerkschaften für die eigenen Rechte zu kämpfen. In diesen Tagen ist auch vielen klargeworden, daß die Regierung Kohl die Arbeitslosigkeit nicht mehr in den Griff bekommt.

SPIEGEL: Sie haben die Bonner Regenten hart rangenommen, als »Flaschen« und »Irregeleitete« etikettiert. Ging mit Lafontaine da der Demagoge durch?

LAFONTAINE: Nein. Das war die Empörung über die Vorgehensweise der Regierung und über einen Bundeskanzler, der das Demonstrationsrecht außer Kraft setzen wollte, ein Grundrecht unserer Demokratie. Und es war auch die Empörung darüber, wie leichtfertig manche, denen es gutgeht, über das existentielle Schicksal anderer urteilen und sprechen.

SPIEGEL: Ein Schuß Populismus war schon dabei.

LAFONTAINE: Nein. Ich kann es nicht ertragen, wenn so mit Menschen umgegangen wird, die um ihren Arbeitsplatz fürchten.

SPIEGEL: Ihr Vorwurf, wir lebten heute in einer verrotteten und verkommenen Republik, ist ziemlich harsch.

LAFONTAINE: Sie müssen den inhaltlichen Zusammenhang sehen: Der Bundeskanzler sagt den Arbeitnehmern, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben: »Ihr müßt den Gürtel enger schnallen, Reallohnzuwächse sind ausgeschlossen.« Damit übersieht er zunächst einmal, daß seit 1982 immer wieder Reallohnverluste aufgetreten sind.

Und wenn der Kanzler zum gleichen Zeitpunkt ein Steuergesetz vorlegen läßt, das denjenigen mit hohen Einkommen - wozu ja die gesamte politische Führung gehört - eine Steuererleichterung in Höhe von 20 000 bis 30 000 Mark netto jährlich bringt - das ist so viel, wie einige der Demonstranten im ganzen Jahr verdienen -, dann frage ich mich: Wohin sind wir eigentlich gekommen?

SPIEGEL: War das schon der Grundakkord für den kommenden Wahlkampf, die Gegenüberstellung zweier Gesellschaftsmodelle: Hier die neoliberale Shareholder-Gesellschaft und dort die Rückbesinnung auf eine Solidargemeinschaft?

LAFONTAINE: Ja. Die Politik der Bundesregierung führt zur Entsolidarisierung unserer Gesellschaft. Die Unternehmensteuern werden gesenkt, die Sozialleistungen werden gekürzt, es wird Lohnzurückhaltung gefordert. Wir aber sagen Ja zum Sozialstaat, der Sozialabbau ist viel zu weit gegangen. Wir sind auch für Reallohnzuwächse, wenn die Produktivität es hergibt.

SPIEGEL: Stehen denn nun die Zeichen weiter auf große Konfrontation oder doch wieder auf Kooperation?

LAFONTAINE: Ich bin zu einem Gespräch mit dem Bundeskanzler bereit. Dabei muß es zu Entscheidungen kommen, die beim Kampf um die Arbeitslosigkeit tatsächlich helfen.

SPIEGEL: Wo verläuft Ihre Kompromißlinie?

LAFONTAINE: Dazugehören müssen Steuerentlastungen für Arbeitnehmer und Familien schon zum 1. Januar 1998 und eine spürbare Senkung der Sozialabgaben. Angesichts von 4,7 Millionen Arbeitslosen fordere ich den Bundeskanzler auf, nicht länger stur an seinen falschen Konzepten festzuhalten. Die Bundesregierung muß sagen, wie sie das riesige Finanzloch ihres Steuerreform-Entwurfs von sage und schreibe 56 Milliarden Mark decken will. Die bisherigen Vorschläge der Koalition sind keine seriöse Verhandlungsgrundlage.

SPIEGEL: Die von der SPD wegen der Kohle-Krise abgesagte Gesprächsrunde mit drei Experten auf jeder Seite findet demnach nicht mehr statt?

LAFONTAINE: Ich hatte schon im ersten Gespräch mit dem Bundeskanzler klargestellt, daß wir auch in Erinnerung an seine Gespräche mit den Gewerkschaften beim Bündnis für Arbeit keine endlosen Verhandlungen führen wollen. Wir wollen konkrete Vorlagen und zügige Entscheidungen.

SPIEGEL: Setzen Sie sich damit nicht dem Verdacht aus, einen Konsens mit der Koalition eigentlich gar nicht zu wollen?

LAFONTAINE: Nein, wir haben bei all den Steuerverhandlungen der letzten Jahre immer wieder gezeigt, daß wir zu Kompromissen bereit sind. Die Koalition muß das neue Angebot nicht öffentlich machen. Das kann auch mit einem Telefonat geschehen. Es muß auch nicht unbedingt Herr Kohl selbst sein. Nur muß ich wissen, über was wir reden sollen.

SPIEGEL: Laufen Sie nicht Gefahr, mit dieser Taktik am Ende als der große Verweigerer dazustehen?

LAFONTAINE: Dieses Lied wird die Koalition in der öffentlichen Diskussion bis zur Bundestagswahl singen. Aber wir vertrauen auf die Kraft unserer Argumente. Ich beobachte, daß wir in der Bevölkerung dafür immer mehr Zustimmung bekommen.

SPIEGEL: Dann werden Sie doch mal konkret: Über das Steuerreform-Konzept der Koalition für 1999 wollen Sie am liebsten gar nicht reden?

LAFONTAINE: Über unseriöse Wahlversprechungen brauchen wir tatsächlich nicht zu reden. Wir müssen jetzt über steuerliche Möglichkeiten reden - ganz schnell und dann auch zügig handeln -, die 1998 wirken, wenn es geht, noch eher. Denn wir wollen damit die Konjunktur ankurbeln, die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Da warten wir auf Vorschläge.

SPIEGEL: Wie würden Sie einen Vorschlag aufnehmen, der eine Senkung der Lohnnebenkosten, etwa der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, mit höheren Mehrwertsteuern finanziert?

LAFONTAINE: Wir haben vorgeschlagen, dafür die Umweltverbrauchsteuern zu erhöhen. Das wäre ein Einstieg in die ökologische Steuerreform. Wir sind auch zu Kompromissen bereit, wenn sie in die richtige Richtung gehen. Das kann in einem Telefonat geklärt werden.

SPIEGEL: Über höhere Mehrwertsteuern zur Teilfinanzierung niedrigerer Einkommensteuern ist mit Ihnen nicht zu reden?

LAFONTAINE: Nein. Wir halten den Vorschlag, die Mehrwertsteuer zur Finanzierung von Verbesserungen im Einkommensteuertarif einzusetzen - vor allem für die höheren Einkommen -, für falsch.

SPIEGEL: Akzeptieren Sie denn den Grundsatz der Steuerreformkommission: Niedrige Steuersätze, weniger Ausnahmen?

LAFONTAINE: Steuersystematisch ist das richtig. Aber die Steuerreformkommission hat es versäumt, durchzurechnen, was es heißt, wenn Arbeitnehmer die Steuerfreiheit bei den Schichtzulagen verlieren, wenn bei der Kilometerpauschale Abstriche vorgenommen werden oder wenn die Arbeitnehmerpauschale gekappt wird. Das führt nämlich zu Einkommensverlusten gerade bei den Arbeitnehmern, die im Rahmen der industriellen Produktion große Belastungen durch Wechselschichten und lange Anfahrtswege haben. Insofern sind die Vorschläge nicht durchdacht.

SPIEGEL: Wenn die Senkung des Spitzensteuersatzes an der SPD scheitert, so hält Ihnen die Koalition entgegen, bleiben die erhofften zusätzlichen Investitionen am Standort Deutschland aus.

LAFONTAINE: Das ist der neueste Witz der Standort-Ideologen. Bei der Forderung nach einem niedrigen Spitzensteuersatz für Privateinkommen geht es nach dem Motto: Familie Ford zieht nach Deutschland um, weil hier die Einkommensteuer gesenkt wird. Mit solchen Albernheiten beschäftigt sich die SPD nicht.

SPIEGEL: Wenn Steuersenkungen nicht Ihr Reformziel sind, was dann?

LAFONTAINE: Unser Anliegen ist mehr Steuergerechtigkeit. Wir sagen: Die Leistungsträger, die zwischen 40 000 und 90 000 Mark verdienen, sind am stärksten von Steuern und Sozialabgaben belastet. Die müssen wir vorrangig entlasten. Wir wollen, im Gegenzug, diejenigen stärker zur Finanzierung heranziehen, die bisher Weltmeister im Suchen von Schlupflöchern waren. Aber auch die großen Vermögen müssen angemessen besteuert werden.

SPIEGEL: Kommt bei einer SPD-Steuerreform denn unterm Strich eine Nettoentlastung heraus?

LAFONTAINE: Eine Nettoentlastung halten wir aufgrund der Situation der Staatshaushalte nur in sehr bescheidenem Umfang für möglich. Wir haben schließlich die drittniedrigste Steuerquote in der Europäischen Union.

SPIEGEL: Eine geringe Nettoentlastung hilft der Kaufkraft wenig - von der Sie sich soviel versprechen.

LAFONTAINE: Das ist falsch. Wir haben dazu eine ganze Reihe von Berechnungen vorliegen, zum Beispiel vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Wenn wir die kleinen und mittleren, die konsumintensiven Einkommen steuerlich entlasten, dann belebt das die Nachfrage.

SPIEGEL: Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble wird Ihnen antworten: Die Rezepte von Keynes sorgen in Zeiten der Globalisierung nicht unbedingt dafür, daß hier mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.

LAFONTAINE: Herr Schäuble übersieht, daß seit Jahren die Binnennachfrage stagniert, sie macht aber 80 Prozent unserer Wirtschaftsleistungen aus. Seine Analyse ist falsch und daher auch seine Antwort. Der amerikanische Ökonom Paul Samuelson hat einmal gesagt: Man muß einem gelehrigen Papagei nur zwei Wörter beibringen, nämlich »Angebot« und »Nachfrage«, und schon gilt er als Nationalökonom. Wenn man das Repertoire aber auf das Wort »Angebot« reduziert, dann haben wir den Salat, den wir jetzt haben.

SPIEGEL: Haben Sie Angst, daß Sie Reformen mittragen, die am Ende ein FDP- oder CDU-Etikett aufweisen, und Sie dann als der Gelackmeierte dastehen?

LAFONTAINE: Diese Gefahr sehe ich deshalb nicht, weil wir wissen, was wir wollen. Wir haben ein anderes wirtschafts- und finanzpolitisches Konzept. Wir sind der Auffassung, daß Sozialkürzungen, Lohnzurückhaltung und jährliche Unternehmensteuersenkungen der falsche Weg sind.

SPIEGEL: Bei den Steuern auf gewerbliche Einkünfte wollen Sie doch auch auf 35 Prozent runtergehen.

LAFONTAINE: Ich habe den Unternehmen immer erklärt: Wenn ihr nominal geringere Sätze haben wollt und einverstanden seid, daß dafür viele Ausnahmeregeln wegfallen, dann können wir das machen. Ich sage aber - um Advokatenspitzfindigkeiten vorzubeugen - dazu: Wenn man daraus schließt, daß dann auch der Einkommensteuersatz für private Einkommen zwingend deutlich heruntergehen müsse, weil die Sätze nicht so weit auseinanderklaffen dürfen, dann kann der Steuersatz für gewerbliche Einkünfte eben nicht so weit gesenkt werden.

SPIEGEL: Wenn Sie eine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik fordern, mit aktiver Belebung der Nachfrage, sollten Sie dann nicht auch ehrlich sagen: Ich muß den Start der Währungsunion verschieben? Denn die Defizitgrenze von maximal drei Prozent ist so nicht zu schaffen.

LAFONTAINE: Ich habe von Anfang an geraten, die monetären Kriterien des Maastricht-Vertrages, also Zinsen, Wechselkurse und Preisstabilität - sehr ernst zu nehmen. Das jahresbezogene Defizit und den Schuldenstand zu einem entscheidenden Kriterium aufzubauen halte ich für falsch. In Zeiten der Arbeitslosigkeit muß eine beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht werden.

SPIEGEL: Und wenn dann in Frankreich oder in Deutschland am Jahresende ein Staatsdefizit von 3,5 oder 3,6 Prozent herauskommt, würden Sie sagen: Das ist, ökonomisch gesehen, nicht schlimm?

LAFONTAINE: Die Aussage des Bundesfinanzministers »3,0 ist 3,0« steht nicht im Maastricht-Vertrag. Der läßt vernünftigerweise einen gewissen Spielraum zu. Ich will nicht maßloser Verschuldung das Wort reden, aber in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist das sture Beharren auf den Haushaltskriterien wirtschaftspolitisch falsch. Die Leidtragenden sind die Arbeitnehmer in Europa. Der Bundesregierung scheint langsam ein Licht aufzugehen. Kohl kündigt zur allgemeinen Überraschung ein Konjunkturprogramm an.

SPIEGEL: Herr Lafontaine, letzte Woche waren Sie ganz offenkundig der Gegenspieler des Kanzlers. War das auch eine Vorentscheidung in der Frage des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten?

LAFONTAINE: Da können Sie bohren, soviel Sie wollen. Unser Zeitplan liegt fest: Wir werden die Entscheidung in dieser Frage rechtzeitig vor der Bundestagswahl 1998 treffen.

SPIEGEL: Sie gehen fest davon aus, daß Kohl wieder antritt?

LAFONTAINE: Ich würde das begrüßen. Denn derjenige, der die politische Verantwortung trägt für Rekordarbeitslosigkeit, Rekordstaatsverschuldung und Rekordbelastung bei Steuern und Abgaben, sollte sich dem Urteil der Wählerinnen und Wähler stellen.

SPIEGEL: Herr Lafontaine, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Annette Großbongardt,Olaf Ihlau und Hans-Jürgen Schlamp.* Eröffnung des Berliner Kaufhauses Lafayette im Februar 1996.

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