»Da kommen Sie doch nicht ran«
Schon Schulkinder haben hier den Sicherungsgruppe-Bonn-Blick: schräg hinterm Berge vor, mehr wissend als forschend, unpersönlich eher als unfreundlich. Man wird nicht angeblickt, sondern durchschaut. Daß man nicht automatisch die Arme hebt, um sich nach Waffen abtasten zu lassen, kostet Anstrengung.
So bohrend blicken im lieblichen Dorf Langwedel am Brahmsee in Schleswig-Holstein Hausfrauen aus Vorgärten, Wirte über Schanktische. Bauern, Tankwarte, SPD-Ortsvorsitzende und CDU-Gemeinderäte auf Ortsfremde. Denn was die wollen, weiß hier jedes Kind: »Sie sind schon wieder hinter uns' Helmut her.«
Seit Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 Kanzler wurde und weiter wie seit Ende der fünfziger Jahre in seinem Wochenendhaus am Brahmsee ausspannt, sind Zugereiste in Langwedel nicht mehr Ruhesucher, sondern Ruhestörer.
Touristen mit Fernrohren vorm Bauch, Journalisten mit Notizblöcken im Jackett, Photographen mit Teleobjektiven streifen durch die Dorfstraßen, stolpern durchs Schilf des Brahmsees, lungern an Gartenzäunen herum und lümmeln sich an der Theke von Bernhard Schmidts Fisch-Pinte oder im »Dörpskrog«.
Wo er wohnt und wie er wohnt, wollen sie wissen. Ob er denn wie Wilhelm Zwo im holländischen Exil sägt oder ob er segelt, ob er plattdeutsch redet, wie er sich aufführt, was er anzieht, wann er aufsteht. »Düvel ook, wat'n Schiet«, sagt Bernie, der Fischersohn. Und ähnlich denken sie alle.
So wuchsen in Langwedel, wo es - wie Gärtner Uwe Griese spöttisch versichert - »keinen Helmut-Schmidt-Platz gibt und keine Helmut-Schmidt-Straße«, die Dörfler spontan zu einer Art Schutzgemeinschaft Helmut Schmidt zusammen, der unabgesprochen, doch solidarisch alle 1071 Einwohner des Dorfes (557 männlich und 514 weiblich) angehören, die Alteingesessenen engagierter als die aus Kiel und Neumünster in jüngerer Zeit Zugezogenen. Denn deren Helmut ist er ja nun doch etwas weniger.
Aber ein bißchen Kanzler sind auch die Neu-Langwedeler mit geworden - ja selbst die Camper, die Jahr für Jahr aus Hamburg einfallen.
Sie alle tragen gemeinsam Verantwortung für das Wohl und Wehe von Helmut.
»Man braucht bloß zu sehen, was der für graue Haare gekriegt hat«, sorgt sich Genosse Erich Theissen um seinen Kanzler. Lehrer Otto Buchert teilnahmsvoll: »Man weiß doch, was der alles im Kopf hat.« Oberstes Motto der Schutzgemeinschaft also: »Der muß seine Ruhe haben.« Und ferner: »Was hier geschieht, geht keinen was an.«
Wer also anreist an den Brahmsee, der stößt auf eine durch scheinbar begriffsstutzige Freundlichkeit verbrämte Mauer von störrischer Auskunftsmuffelei, die ihn schon entmutigt, bevor er vor dem neuen grünen Maschendrahtzaun endgültig gestoppt wird, wo »Nr. 1« wohnt, wie das Klingelschild verrät.
Dabei hat er schon Mühe, den Brahmsee überhaupt zu finden, der den Deutschen durch Schlagzeilen allsommerlich nahegebracht wird, besonders wenn der Kanzler dort auch noch ins Wasser fällt.
Gleich hinter Hamburg links liegt der See aus Bonner Sicht. Aber selbst wenn man vor Ort dann gelernt hat, daß er mitten im Dreieck Neumünster, Rendsburg, Kiel zu finden ist, gelangt man zwar nach Langwedel, aber vom Brahmsee keine Spur.
Wo man ihn vermutet, hinter Büschen und Bäumen, ist man unbefugt: »Privat«, »kein Zutritt«, »bissiger Hund« - vorerst keine Chance, von Paragraph 17 des Landeswassergesetzes Gebrauch zu machen, der »jedermann« die Benutzung der »oberirdischen Gewässer zum Baden, Waschen, Tränken, Schwemmen und Eissport« zugesteht. (Daß es an dem etwa drei Kilometer langen und 500 Meter breiten See und seinem Wurmfortsatz, dem Wardersee, doch drei winzige Badestellen für die Öffentlichkeit gibt, ist schon fast Insider-Wissen.)
Also sieht man sich erst einmal am Dorfplatz um: Reetgedeckte Bauernhäuser, das klassische rote Schulhaus aus weiland Wilhelms Zeiten und die unvermeidlichen Kriegerdenkmäler, 70/71, 14/18, 39/45, wir hatten's ja. Das alles zwischen hohen Ulmen, Eschen, Linden und Birken und hinter fröhlichen Gärten mit Sonnenblumen, Phlox, bunten Margeriten und Rittersporn.
Die Bäume und Blumen kennt der Städter natürlich nicht alle mit Namen, also fragt er. Listige Überleitung zum eigentlichen Problem: Wo liegt der Brahmsee? Wo wohnt Schmidt?
Den Trick kennen die Langwedeler aber schon. Verstehen gar nicht. »Brahmsee: da hinten«, vages Fuchteln, der See muß irgendwo zwischen Dänemark und Irland liegen, aber höher. »Schmidt, Bernhard Schmidt wohnt da unten hinterm Campingplatz.«
Nein, nicht Bernhard - Helmut, nun ist es raus. Die Abwehr wird unverhüllt: »Den lassen Sie man in Ruhe.« Kühler, meist blauer Blick: »Da kommen Sie doch nicht ran, sehen können Sie auch nichts, alles zugewachsen.« Dann, wenn der Frager schon zögernd abdreht, Tourist oder Journalist, kommt unweigerlich der nun offen höhnische Nachklapp, vom Waldarbeiter, vom Schulkind, vom Bürgermeister, von allen fast wörtlich gleich: »Ein Boot brauchen Sie sich auch nicht zu suchen, vom See her ist bei Helmut auch alles zugewachsen.«
In der Tat, 1500 Bäume und Büsche auf dem Kanzler-Grundstück, von Schmidt und seinem Freund und Nachbarn Willi Berkhan nach eigenen Angaben »eigenhändig angepflanzt«, sind zu einem von Blicken undurchdringlichen Wald zusammengewachsen - reales Wachstum wenigstens hier.
Früher hatte sich Helmut Schmidt an seinem Brahmseeufer wie noch heute die meisten der 300 Wochenendhäusler von Langwedel auch vor den Dörflern verbergen können. So gut gelang das dem jungen Bundestagsabgeordneten, daß es für die meisten Langwedeler ausgemachte Sache ist, der Hamburger sei erst 1962 in ihrem Ort aufgetaucht - sozusagen von der Hamburger Flutkatastrophe hochgespült.
Die Baugenehmigung für sein karges Eigenheim, das nur wenige hundert Meter vom Dorfplatz entfernt liegt und als deren Eigentümerin Frau Loki amtlich verzeichnet ist, trägt aber das Datum 3. Juni 1958. Und der damalige Langwedeler Arzt und Gemeinderat Eberhard von Varendorff kennt den jungen Bundestagsabgeordneten sogar schon seit 1957, »damals noch Schmidt-Schnauze und eigentlich ganz im Hintergrund seiner Frau, dieser netten Lehrerin aus Hamburg«.
Je höher er aber stieg, je mehr er »zum Großkopfeten wurde und mit
* Klingel für Schmidt (1); Berkhan (2) und den Nachbarn Bügler, Omnibus-Unternehmer aus Kiel.
Großkopfeten verkehrte« (Vahrendorff), desto mehr suchte und fand er im Umgang mit den Dörflern eine Legitimation für sein Selbstverständnis und Public-Relation-Image als Mann aus dem Volke, der er wohl auch irgendwo geblieben ist.
Er schloß sich an und auf, sobald er erst aus Hamburg und dann aus Bonn an den Brahmsee fuhr, um zu sägen und zu segeln.
Er kehrte gern auf ein Bier in einem der sechs Krüge ein, obwohl die nicht heimelig sind, sondern von der Brauerei-Resopalsorte. Mit dem SPD-Ortsverein, heute immerhin schon 25 Mitglieder, damals geleitet von dem urigen Fischer Bernhard Schmidt, und dem Gemeinderat unter Führung des CDU-Schlitzohrs Ernst Sachau nebst dessen »Mama« und den Damen der anderen Honoratioren traf er sich zum Klönschnack.
Zum Haareschneiden ging er zu Meister Artur Hinz, nun schon über siebzig, und freute sich an dessen Sprüchen: »Ein Haarschnitt von Hinz, dann stimmt's.« Schmidt: »Nu löv di man nich sülvens.«
Aber das Dorf änderte sich und Schmidts Rolle auch. Er wurde Verteidigungsminister, Finanzminister, schließlich Kanzler, und die Gesten der Einfachheit kamen seltener und wirkten nicht selten aufgesetzt.
Hätte Helmut Schmidt früher die Sense geschultert und sie quer durchs Dorf zum Schmied Heinrich Hilbert getragen, dann hätte das den Leuten gefallen. Aber wenn das der Bundeskanzler tut, hinter dem stets ein amtlicher Leibwächter mit umgeschnallter Pistole hertrottet, und wenn der Schmied längst keine Schmiede mehr hat, sondern eine Tankstelle, dann lachen auch die Langwedeler.
Wer als »der Säger vom Brahmsee« (Schmidt über Schmidt) posiert, muß sich nicht wundern, daß seine Kleinholz-Wütigkeit in der Heimatpresse zum Gegenstand psychologisierender Mutmaßungen wird. »Holt er hier im Urlaub und an der wehrlosen Natur nach, was ihm in Partei und Regierung versagt ist? Oder übt er nur für bevorstehende Radikalkuren?« mokierte sich die »Schleswig-Holsteinische Landeszeitung«. Des Kanzlers Leserbrief-Antwort: Er zerlege nur kamingerecht seinen morschen Bootssteg.
Längst wissen die Dörfler, daß bei ihnen ein Stück abrollt, und sie spielen mit. »Das will er doch hören«, sagt Friseurmeister Hinz, wenn er erzählt, wie Schmidt wieder einmal klagt, daß er nicht die fünf Mark fürs Haarschneiden hat. Hinz: »Dann treck ick di de Schoh ut.« Schmidt knallt die Füße mit Sandalen auf den Tisch: »Man tau.« Hinz blickt geringschätzig auf die Sandalen und lehnt ab: »Ne, dine Jesuslatschen kannste beholen.«
Oder Bürgermeister Ernst Sachau findet: »Das will er doch so«, wenn er mit dem Kanzler im »Dörpskrog« darum streitet, wer eine Lokalrunde schmeißt. Schmidt: »Bürgermeister, mach du das man, du hast mehr Geld.« »Reiner Krampf«, so findet Doktor Vahrendorff inzwischen, sind auch die einst dröhnend lustigen Aalessen mit dem Kanzler bei Fischer Schmidt geworden.
Ob der Kanzler es nicht mitgekriegt hat oder nicht wahrhaben will: Das Dorf-Idyll, das er sich und anderen vorgaukelt, gibt es längst nicht mehr. Von den 1960 noch 54 Höfen betreiben heute noch etwa 25 Landwirtschaft - hochspezialisiert, wettbewerbsfähig umgestellt vor allem durch Geld, das die Bauern mit Kies verdient haben und durch Landverkauf an die Bundeswehr. In der Gesamtplanung des Amtes Nortorf soll Langwedel »den Charakter eines regionalen Wohnzentrums erhalten«.
Das bedeutet, daß es den verträumten Idyllenblick an der Olendieksau bald nur noch auf den Aquarellen des Heimatmalers Hermann Pralow gibt. Schon jetzt wuchern aus dem Dorfkern Einheitssiedlungen heraus, die unverändert in Braunschweig oder Neu-Ulm die Landschaft verschandeln könnten.
In unmittelbarer Nähe der Kanzlerklause werden derzeit triste Bungalows mit Blick auf den Sportplatz im Gelände verkleckert - Baupreis bis zu 200 000 Mark. Insgesamt 270 Neusiedler sind hier eingeplant, zumeist Pendler mit Arbeitsstätte in Kiel. »Wir sind schon ganz schön verstädtert«, klagt Ernst Sachau, seit über 25 Jahren Bürgermeister, wehmütig.
Das dörfliche Gemeinschaftsleben rankt sich fast nur noch um den Sportverein. Vorbei ist die Zeit der langen feuchten Skatnächte; für Dorffeste fehlt ein Saal. Versuche, die Neusiedler durch Grillparties zu integrieren, sind kläglicher Ersatz.
Die Intimität der ersten Schmidt-Jahre am Brahmsee ist futsch. Publicity, die dem Kanzler gilt, erfaßt auch das Dorf. Wenn Hinz jetzt dem Regierungschef die Haare schneidet, dann liest es seine Tochter in Wien in der Zeitung.
Wenn der SPD-Schriftführer zur Gemeinderatswahl im Oktober letzten Jahres sich so lange mit einem CDU-Bürgermeister beim Richtfest im Nachbardorf vergnügt, daß er die Meldefrist für seine Kandidaten überschreitet, dann wird - was einst lokaler Skandal war - zur bundesweiten News. Fernsehen rückt an, Glossen spötteln: Kein SPD-Vertreter im Gemeinderat des Schmidt-Dorfes Langwedel.
Wenn Helmut Schmidt heute beim Segeln in den Brahmsee fällt, dann künden das Riesenlettern der Boulevardpresse auch den deutschen Urlaubern in Ibiza.
Dabei ist - da reagiert das Dorf ähnlich erbost wie sonst der Kanzler in Bonn - »der Presse« alles verquer und aus dem Zusammenhang geraten. Erstens ist Helmut Schmidt, wie jeder mäßige Segler, schon oft in den See gefallen. Zweitens war es an der Unfallstelle ziemlich flach und gefahrlos. Drittens wurde der zum Kanzlerretter hochgejubelte Bernhard Schmidt erst von Campern alarmiert, denen der Kanzler gewunken hatte.
So kommt für Langwedel nichts als Unheil von draußen. Darum wird abgeschirmt. Da sind sich alle einig, parteipolitische Vorlieben spielen keine Rolle. Helmut Schmidt ist »einer von uns«, »ordentlich«, »vernünftig«, »kein Muffel« - kurz »auch nur ein Mensch«, der überdies alles in allem und wenn man bedenkt, daß er ja eigentlich Sozi ist, »eine Politik macht, wie sie sein soll«.
Alles andere geht niemand was an. Da soll keiner dazwischenreden, schon gar nicht aus Bayern. Von dort nämlich hatten » einige Segler vom Starnberger See« ihrem Kollegen und angeblichen Kanzlerfischer Bernhard Schmidt per Postkarte geraten, den Namensvetter Helmut »das nächste Mal absaufen zu lassen«. Sie boten eine Kiste Schnaps dafür.
»Es dürfte doch klar sein«, schrieben die Bayern höhnisch, »einen so schlechten Steuermann (Segler) kann man nicht länger als Bundeskanzler brauchen. Es ist dann wahrscheinlich, daß wir uns in Wirklichkeit alsbald keinen Schnaps mehr leisten können, sondern nur noch die SPD-Bonzen.«
Und da hat Bernhard Schmidt nicht nur als Genosse, sondern auch als Langwedeler den Götz-von-Berlichingen-Spruch auf platt gesagt: »Klei mi an Mors.«