BONN / ERHARD-PROGRAMM Da schweigen alle Flöten
Mit einem blaugeränderten Taschentuch wischte Ludwig Erhard sich in Abständen die Stirn. Er blieb so hart am Blatt, daß die rechte Hand mit dem weiß-blauen Tuch oft lange suchend um die Hosentasche kreiste. Und wieder trat es in Aktion, wenn der Redner - erregt und von der Grippe befallen - die beschlagene Brille putzte und für diese Zeit Reserve-Augengläser aufsetzte.
Gelegentliche Versprecher sofort durch das Wiederholen ganzer Sätze korrigierend und mit nachlassender Stimmkraft, gab Erhard am Rednerpult des Bundestags am Mittwoch vergangener Woche während 122 Minuten die längste Regierungserklärung seit Bestehen der Bundesrepublik ab.
Fünf Tage lang - von Freitag vorletzter bis Dienstag vergangener Woche
- hatte er an dem Manuskript gefeilt.
Ministerialdirektor Karl Hohmann, treuester Erhard-Brigadier, bewährte sich als Abhör-Helfer. Dem Kanzler am Schreibtisch gegenüber, las er dem Autor die jeweils fertiggestellten Manuskriptseiten laut vor. Vom Verfasser gebilligt, wanderten die Seiten aus der Beletage des Palais Schaumburg zu den Stiltechnikern der hauseigenen Propaganda-Abteilung. Dann kamen sie unter Verschluß.
Nur 25 Minuten ließ der Kanzler seinen 21 Ministern auf einer Sondersitzung am Montag Zeit, den Marschbefehl für die nächsten vier Jahre zu studieren. Danach wurden die numerierten Exemplare von Hohmann wieder eingesammelt. Der Kurs des Kanzlers: Das deutsche Volk soll sparen und mehr arbeiten.
Mit Ernst dröhnte der Kanzler dann vor vollbesetztem Haus, daß »unsere wirtschaftliche Situation und die Lage der Staatsfinanzen nicht ohne Sorge betrachtet werden« können. »Wir haben uns ... der Täuschung hingegeben, daß ... der Ausgabensteigerung der öffentlichen Hand überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt seien.«
Die 50seitige Magna Charta tätiger Reue hielt keine politischen Überraschungen, wohl aber eine Reihe von Maßnahmen bereit, die allen Wahl -Illusionen ein Ende bereitet. Volkskanzler Erhard verlangt:
- Die tariflich vereinbarte Arbeitszeit
um eine Stunde in der Woche zu erhöhen. Erhard: »Dieses Problem kann und darf kein Tabu sein.«
- Neue Zahlungen des Bundes, die für den privaten Konsum bestimmt sind, zu drosseln. Ein zu scharfer Anstieg der Preise und Importe sowie ein damit steigendes Defizit in der Zahlungsbilanz soll vermieden werden. Erhard: »Wir würden sonst die hart erarbeiteten (Gold- und Devisen-) Reserven vergeuden.«
- Die Verpflichtung zu Zahlungen des
Staates aufgrund bestehender Gesetze zu überprüfen. Erhard: »Sie (die Bundesregierung) hat das mehrfach vor den Bundestagswahlen in aller Deutlichkeit angekündigt.«
- Gesetze, die den Bundeshaushalt belasten, künftig nur dann zu erlassen, wenn das Geld dafür bereitsteht.
- Die Protektion unwirtschaftlicher
Unternehmen und Branchen abzubauen. Erhard: »Nachsicht gegenüber protektionistischen Forderungen bedeutet volkswirtschaftlichen Luxus.«
Sodann verriet der Kanzler, daß in diesem Jahr 40 Milliarden Mark zusätzlich von privaten und öffentlichen Händen ausgegeben werden. Dem stehen jedoch nur um 20 Milliarden Mark erhöhte Produktionswerte und Leistungen (Sozialprodukt) gegenüber.
Was Erhard nicht verriet: Legt man die Verhältnisse des vergangenen Jahres zugrunde, so ergäbe der überschüssige Nachfragestoß eine jährliche Geldentwertung von etwa sechs Prozent. Schon während der vergangenen zwölf Monate waren die Preissteigerungen mit vier Prozent die höchsten seit dem Korea-Krieg.
Amerikas Nachrichten-Magazin »Time« deutete in einem Bericht, »die höchste Inflationsrate seit 15 Jahren« sei der Preis für Westdeutschlands extravagante Lebensweise. Löhne, Preise und Regierungsausgaben überschlügen sich nahezu. Time: »Die einst so anspruchslosen und disziplinierten Deutschen leben heute wie Gott in Frankreich.«
In München-Bogenhausen versteht auch Altmeister Fritz Schäffer, Bundesfinanzminister von 1949 bis 1957, die Welt nicht mehr. Der Pensionär rügt: »Mein Grundsatz war immer, nicht mehr ausgeben als einnehmen.« Er teilt die Meinung vieler Experten, daß Ludwig Erhard schon während der Ausgabenflut der Vorwählzeit die Haushalts-Notbremse des Grundgesetzartikels 113 hätte ziehen müssen. Schäffer: »Damit hätte er eine bessere Figur gemacht.«
Der erste Bundesfinanzminister, CSU -Politiker Fritz Schäffer, hatte Westdeutschlands Finanzen noch nach der Sparstrumpf-Moral eines biederen Hausvaters verwaltet. Sein Nachfolger Franz Etzel (CDU) probierte es mit einer trickreichen Haushaltspolitik »am Rande des Defizits«, und der nächste, FDP-Finanzexperte Heinz Starke, propagierte in Kabinett und Bundestag den »Haushalt der Besinnung«.
Sie alle vermochten nicht, die Bonner Ausgabenwalze zum Stehen zu bringen. In 17 Haushaltsjahren der Zweiten Republik kletterte der Bundesetat stetig und unaufhaltsam von 14,7 auf rund 70 Milliarden Mark. Schon zur Halbzeit stöhnte Franz Etzel, heute Privatbankier in Düsseldorf: »Eine schreckliche Treppe.«
Unglücklicherweise amtierte der härteste der Minister, Querkopf Schäffer, zu der Zeit, da Härte noch nicht so dringend benötigt wurde wie heute. Konfiskatorische Steuersätze der Alliierten und Ludwig Erhards Wirtschaftswunder bescherten ihm einen nie wieder erreichten Einnahmen-Überschuß. Als nach zwei Defizit-Jahren die ersten Überschüsse anfielen, begann der hausbackene Bayer sofort, Geld auf die Seite zu schaffen.
Schäffers Eichhörnchen-Reserve wuchs sich im Lauf jener fetten Jahre zu einem stattlichen Schatz von zuletzt 7,1 Milliarden Mark aus. Nach dem Berliner Depot des Reichskriegsschatzes von 1871 hieß der Sparbatzen bald »Juliusturm«, und Fritz Schäffer verteidigte den Notgroschen gegen die Begehrlichkeit des Parlaments.
Seine Taktik war von fiskalischem Geiz diktiert:
- Konstant ging er bei den jährlichen
Haushaltsplänen von zu niedrig angesetzten Steuereinnahmen aus.
- Ebenso beständig veranschlagte er Besatzungskosten und Wehretat zu hoch.
Nur unter großen Mühen preßten ihm die Parlamentarier in den Jahren 1953 bis 1957 zwei Steuersenkungen ab, die den Steuerzahlern rund 9,4 Milliarden Mark einbrachten. Dennoch stieg während der gleichen Zeit das jährliche Steueraufkommen von 36,5 auf 50,3 Milliarden Mark.
Spätestens im Vorwahljahr 1956 war abzusehen, wohin die gußeiserne Sparpolitik Schäffers führen mußte. Inzwischen hatte sich die pluralistische Gesellschaft der Bundesrepublik so weit formiert, daß ihre Lobbyisten wußten, wo und wie in Bonn Geld zu holen ist.
Die Verlockung zu korrumpierenden Wahlgeschenken ließ die Bonner Regierungskoalition erstmals alle guten Vorsätze vergessen und jene Praktiken entstehen, die jedem Pimpf im Dritten Reich bei der sogenannten weltanschaulichen Schulung als typisch für die Demokratie geschildert worden sind.
Bis dahin noch hatte Konrad Adenauer alle Fraktionsbittsteller mit einer unmißverständlichen Bewegung von Daumen und Zeigefinger und dem rheinischen Hausvater-Spruch abgewimmelt: »Wo du nicht bist, Herr Organist, da schweigen alle Flöten.«
Nunmehr gab er selbst die Jagd nach Schäffers gehorteten Milliarden frei. Noch 1956 beschloß das Parlament Mehrausgaben von 2,5 Milliarden Mark. Im Wahljahr 1957 lieferte es weitere 3,5 Milliarden nach.
Gegen Schäffers vergebliches Sträuben sorgte ein eigens von der Regierungskoalition eingesetzter »Kuchenausschuß« dafür, daß die Brösel des einstigen Juliusturmes so gleichmäßig wie möglich unter das Wahlvolk verteilt wurden. Den greinenden Schäffer schob Wahlsieger Adenauer 1957 ins Justizministerium ab. Der Pensionär, 77, betont heute: »Ich bin damals ohne einen Pfennig Schulden aus dem Finanzministerium geschieden.«
Bonn hatte damit eine Tradition begründet, die über kurz oder lang die Bundesfinanzen chaotisch verwirren mußte. Jahr für Jahr, besonders aber im Vier-Jahres-Rhythmus der Wahltermine, beschlossen die Bundestagsabgeordneten nun ohne Rücksicht auf Deckung Mehrausgaben für Bauern, Kriegsopfer, Kinderreiche, Mütter, Schüler, Sparer und Rentner.
Ergebnis: Ein Drittel des Bundesetats entfällt heute auf Sozialleistungen, und mehr als 20 Milliarden wandern in zum Teil obskure Subventionstöpfe.
Schäffers Nachfolger Etzel hatte bald erkannt: »Kasse macht sinnlich.« Um die Verlockung der Abgeordneten zu mildern, senkte er die Einkommensteuer um 15 Prozent und begann, vorzeitig deutsche Auslandsschulden abzuzahlen. Aber auch Etzel vermochte die Bonner Geschenktradition nicht zu brechen.
Zu Zeiten der Monarchie war es Sache der Kabinette gewesen, Etat-Vorschläge zu machen, und das Parlament kürzte. Heute sind die Rollen vertauscht und gleichzeitig durcheinandergebracht: Regierung und alle Parteifraktionen, auch die der Opposition, überbieten einander mit Spendiervorlagen. Besonders im Sozialetat verfuhr dabei die SPD nach dem Prinzip: »Darf's für einige Millionen mehr sein?«
Das gebefreudige Parlament ließ es nicht bei einmaligen Wahlgeschenken bewenden. Es dekretierte mit höheren Beamtengehältern, Kindergeld, Sparprämien und ähnlichen Zuwendungen Dauerausgaben, die jeweils auch alle kommenden Haushaltsjahre vorbelasten und praktisch als unwiderruflich gelten müssen.
Zwei dieser Dauerlutscher für Wähler sind zum Beispiel die Spar- und die Wohnbausparprämie. Ihnen gemeinsam ist das unsinnige Prinzip, daß sie jedem zustehen, ob arm oder reich. Bei dieser Sparförderung wachsen überdies die Bundeszuschüsse mit dem Appetit der Sparer zu Lawinen an.
Erschrocken über die »unerwartet hohen Zuwachsraten insbesondere beim prämienbegünstigten Kontensparen« zeigte sich im amtlichen Bonner Bulletin der Oberregierungsrat Dr. Blatzheim aus dem Bundesfinanzministerium, das die Zuschüsse auszahlen muß. Die Regierung hatte für 1964 einen Zuwachs der Spareinlagen um 20 Prozent vorausgesagt. Tatsächlich wurden es 57,3 Prozent.
1959, als das Prämienspar-Gesetz erlassen wurde, machten die Prämien aus Steuergeldern, die - bis zu 480 Mark pro Jahr selbst Generaldirektoren zustehen - erst 125 Millionen Mark aus. 1964 waren es schon 730 Millionen Mark, 1968 werden es 1,4 Milliarden Mark sein.
Genau die gleiche Summe (1,395 Milliarden Mark) wird 1968 als Prämie für Bausparer gezahlt werden müssen. Bund und Länder teilen sich diese Kosten je zur Hälfte. Hinzu kommen beim Bausparen 1968 noch 1,23 Milliarden Mark Steuerausfall, wovon der Bund 31 Prozent und die Länder 69 Prozent tragen müssen.
Es ist Bonner Prinzip, daß sich der Kreis der Anspruchsberechtigten zwar ausdehnen kann, daß aber niemals eine Gruppe Bevorzugter - selbst wenn sie der Hilfe entraten könnte - ausscheiden muß. Dazu sind Regierung und Parlament zu feige. Diese Feigheit ließ die öffentliche Hand verkrampfen: Sie kann sich nicht mehr schließen.
Daher rührt letztlich auch das Defizit der Bundesbahn, das die Staatskasse in Bonn 1966 mit 3,2 Milliarden Mark belastet.
Die Bahn wird gezwungen, Zeitkarten an Berufstätige zu »Kellertarifen« und an Schüler zu »Untergrundtiefen« zu verhökern, wie Bahn-Präsident Professor Dr. Heinz Maria Oeftering klagt. Sie hat im Personen-Nahverkehr Selbstkosten von neun Pfennig je Kilometer. Kassieren darf sie
- im Berufsverkehr 2,99 Pfennig;
- im Schülerverkehr 1,26 Pfennig;
- im »Schülerverkehr mit Geschwisterermäßigung« sogar nur 0,69 Pfennig.
Genau betrachtet, sagt der Bahn-Chef, seien das keine Fahrpreise, sondern allenfalls Anerkennungsgebühren. Personenzüge und Eilzüge im Nahverkehr brachten deshalb schon 1964 über eine Milliarde Mark Verlust.
Ähnlich unrentabel sind laut Oeftering die »dünnsten Verästelungen armseligster Nebenbahnlinien hinaus ins flache Land«. Sein Argument, die Bevölkerung habe sich »insoweit im Wege einer Volksabstimmung von der Schiene abgewendet und dem Kraftwagen zugewendet«, stieß bei den Volksvertretern indes auf taube Ohren.
Der damalige Bundesrichter Dr. Joachim Kniesch drang nicht durch, als er 1961 anregte, parlamentarische Untersuchungsausschüsse sollten in die »mehr als tausend Töpfe gucken, aus denen die bisher niemand wirklich bekannten Mittel kommen«, und nachsehen, »wohin diese Mittel geflossen sind und noch fließen werden«.
Bonn hat niemals ernsthaft versucht, das Ruder herumzuwerfen und mit den Liebesgaben aus der Staatskasse sparsam umzugehen.
Besonders locker sitzen die Steuergroschen, wenn es gilt, bäuerliche Wähler bei guter Laune zu halten. Im Juli 1955 stimmte das Parlament dem Landwirtschaftsgesetz zu. Seither vervierfachte sich das Volumen des Grünen Plans:
- 616 Millionen Mark im Jahre 1956
blähten sich auf zu
- 2518 Millionen Mark im Jahre 1965.
Aus der staatlichen Gießkanne regneten Steuergelder über kleine Kötter und über Großgrundbesitzer. Im letzten Jahr summierten sich neben den einzig sinnvollen strukturellen Maßnahmen wie Flurbereinigung und Wirtschaftswegebau (910 Millionen Mark) Sozialzuschüsse zur Altershilfe und Unfallversicherung (350 Millionen Mark), Subventionen für Milch und andere Produkte (784 Millionen Mark), Kredit- und Dieselöl-Verbilligungen (382 Millionen Mark).
In diesem Jahr erreichen direkte Finanzleistungen und unsichtbare Begünstigungen des Bundes an die Landwirtschaft etwa vier Milliarden Mark. Hinzu kommen, nicht kleinliche, Spenden der Bundesländer und schließlich aus dem EWG-Anpassungsgesetz eine zusätzliche Milliarde Mark.
Bauernführer Rehwinkel und seine Anhänger verfahren immer wieder erfolgreich nach der Erkenntnis des ehemaligen Bundestagsmitglieds Professor Dr. Franz Böhm: »In einem Land, in dem es Sitte ist, daß Extrawürste für jeden gebraten werden, der eine hinreichend große Faust besitzt, die er den Parteien, dem Parlament und der Regierung unter die Nase halten kann, da müssen ... die Gesetzgebung und die Regierung die Größe der Wurst immer möglichst genau der Größe der Faust anpassen, die das Kochgeschirr präsentiert.«
Nach dem Prinzip des Regierens gegen den geringsten Widerstand traute sich auch niemand in Bonn, die 1957 in Gang gesetzte Rentendynamik anzutasten. Obwohl der Sozialbeirat des Arbeitsministeriums zweimal warnte, ließ Theo Blank Jahr für Jahr vom Parlament höhere Sozialrenten beschließen. Die Bonner Altrenten liegen heute um 70 Prozent über dem Stand von 1957.
Demzufolge sind die automatischen Zuschüsse des Bundes zur Sozialversicherung von ursprünglich 4,6 auf 8,4 Milliarden Mark gewachsen.
Im Trubel der Wahlmonate dieses Jahres hat Bonn die Geschenke noch um rund fünf Milliarden Mark aufgestockt, für Bauern, Beamte, Kinderreiche, 131er, Kriegsbeschädigte, Vertriebene und werdende Mütter. Neu aufgenommen in den Reigen wurden 583 000 westdeutsche Schüler und Studenten, denen monatlich 40 Mark gezahlt werden - abermals unabhängig vom Einkommen der Eltern. Geplanter Jahresaufwand: 480 Millionen Mark.
Als Schatzmeister Rolf Dahlgrün - im Oktober gegen den Widerstand der Christdemokraten wieder als Finanzminister bestätigt - Kasse machte, fehlten ihm trotz höherer Steuereinnahmen für den Haushalt 1966 rund sieben Milliarden Mark.
Ludwig Erhard beauftragte daraufhin die Vertrauten Dahlgrüns, Wirtschaftsminister Schmücker, Wissenschaftsminister Stoltenberg und Bundesratsminister Niederalt, das Loch schnell zu stopfen. Und wieder blieb keine Zeit, den Haushalt sinnvoll durchzukämmen. Dahlgrün: »Vorher hat mir ja keiner geglaubt.«
Altmeister Schäffer hatte schon die Verteilung der Wahlgeschenke mit Kopfschütteln beobachtet. Unter einem Gemälde des Münchner Spätromantikers Frobenius philosophiert er jetzt in seiner Bogenhausener Mietwohnung: »Mit einem unecht gedeckten Etat wäre ich nicht in die Wahlen gegangen, sondern ich hätte den Leuten schon vorher gesagt, daß Steuererhöhungen nötig sind, wenn die vom Bundestag beschlossenen Zusagen erfüllt werden sollen.«
Erhard tat das erst hinterher. 2,2 Milliarden Mark strichen die vier Minister in seinem Auftrag als erstes, davon 900 Millionen aus Hassels Verteidigungsetat (der 1956 rund 3,4 Milliarden Mark betragen und sich bis 1965 verfünffacht hatte) und 210 Millionen aus Lückes Notstandsetat (SPIEGEL 46/1965). 2,1 Milliarden wollen sie ihren Kollegen in Einzelverhandlungen abtrotzen. 400 Millionen des Bahn-Defizits soll Oeftering vorwiegend im Fernreisedienst, der bereits mit Gewinn arbeitet, hereinholen.
Die beiden Hauptwünsche der Bahn
- radikaler Abbau unrentabler Strecken sowie einheitlich nur 331/a statt bis zu 90 Prozent Ermäßigung für Dauerkunden - wurden nicht erfüllt. Grund: Sie rühren an das Faust-Recht einer starken Bevölkerungsgruppe.
Nach den Abstrichen blieb im Etat 1966 immer noch ein Minus von 2,9 Milliarden Mark. Erhard ließ deshalb die Wahlgeschenke wieder einsammeln. Mit einem »Haushaltssicherungsgesetz«, das bis zum Jahresende vom Bundestag verabschiedet werden muß, sollen gesetzlich verankerte Ausgabeposten nachträglich wieder gestrichen werden.
So kürzte Bonns Vierer-Kommission für 1966 gerade erst beschlossene Zuschüsse zur Krankenversicherung (265 Millionen), die Gießkannen-Subvention an Rehwinkels Bauern (260 Millionen) und zusätzliche Wohnungsbausubventionen (140 Millionen). Von 282 Millionen Mark Mutterschaftsgeld werden 260 Millionen, von 409 Millionen 131er-Hilfe 145 Millionen und von 480 Millionen Schülergehalt 150 Millionen wieder weggenommen.
Und als die Strichliste noch immer nicht ausreichte, beschloß das Kabinett, auch auf Pump zu gehen. Da Bundesbankpräsident Blessing Bonn über eine bereits beinahe ausgeschöpfte Drei-Milliarden-Kreditgrenze kein Geld mehr gibt, nimmt der Bund Kredite im Wert von 750 Millionen Mark bei der Sozialversicherung auf - ein Verfahren, das Experten an Schachts Mefo-Wechsel von 1936 erinnert und eindeutig inflationistische Tendenz hat*.
Staatsausgaben erhöhen fast ausschließlich die Nachfrage, so gut wie nie jedoch die Produktion, also das Angebot. Die Milliardenzuschüsse zur sozialen Rentenversicherung beispielsweise verstärken die Kaufkraft von Pensionären, die selbst nichts mehr produzieren, und wirken mithin preissteigernd. Öffentliche Gelder für Bauvorhaben werden in Form von Löhnen oder Unternehmergewinnen ebenfalls zu Kaufkraft, ohne daß sich mit Straßen oder Verwaltungsgebäuden das Warenangebot steigern ließe.
Finanzexperten der EWG in Brüssel haben deshalb eine Rechnung aufgestellt, die als sicherste Garantie für einen
»währungsneutralen Haushalt« gilt. Danach soll der Etat eines Landes gegenüber dem Vorjahr nicht mehr erhöht werden, als im gleichen Zeitraum das Bruttosozialprodukt wächst. Die Bundesregierung hat den Idealzustand mit Ausnahme des Jahres 1964 niemals erreicht und dadurch selbst dazu beigetragen, die harte D-Mark weichzumachen.
Überbordende Staatsausgaben, denen keine entsprechende Güterproduktion gegenüberstand, trugen während der letzten zwölf Monate mit zu dem Preisanstieg von vier Prozent bei. Der Sparzins für Einlagen mit gesetzlicher Kündigung dagegen liegt zur Zeit bei 33/4 Prozent.
Ein Indiz für die Wirkung öffentlicher Haushalte auf Konjunktur und Preise ist die sogenannte Kassenrechnung. Eingefrorene Überschüsse, wie zu Zeiten des Juliustürmers Schäffer, wirken bremsend (kontraktiv) auf die allgemeine Nachfrage; Defizite hingegen, soweit nicht durch Zahlungen an das Ausland oder durch Schuldentilgung verursacht, heizen die Nachfrage an und treiben die Preise hoch.
Tatsächlich hat der Bund in jedem zweiten Monat dieses Jahres mehr ausgegeben als eingenommen. So lief bis Ende August ein Kassendefizit von einer Milliarde Mark auf, obwohl Bonn beispielsweise durch den Verkauf der Veba-Aktien außerordentliche Einnahmen in Höhe von 312 Millionen Mark verbuchen konnte.
Da sich auch Länder und Gemeinden von der Bonner Finanzschlamperei anstecken ließen, wird das gesamte öffentliche Kassen-Defizit am Ende dieses Jahres fünf bis sechs Milliarden Mark, erreichen.
Diese Summe drängt als zusätzliche Nachfrage auf den Markt und ist wesentlich für den Zustand, den die Bundesbank mit der Formel »Überforderung des inländischen Produktionsapparates« kennzeichnet. Von den Etats in Bund, Ländern und Gemeinden gehen mithin ständig inflationistische Signalstöße aus.
Nach Ansicht der Bundesbank in Frankfurt hat Westdeutschland durch den Preisanstieg der jüngsten Zeit ohnehin »an Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland verloren«. Und da die Zahlungsbilanz bereits während mehrerer Monate passiv schloß, appellierte die Währungshüterin in ihrem jüngsten Monatsbericht an die Parlamente und Sozialpartner, sich endlich zu bescheiden und die Stabilität der Mark obenan zu setzen.
Einst Musterschüler der EWG im Hauptfach Währungspolitik, muß sich die Bundesrepublik jetzt vorhalten lassen, sie »exportiere Inflation« in die Gemeinschaft und ziehe andere Währungen in Mitleidenschaft.
Nach dem Schlüssel der EWG dürfte der Bonner Etat 1966 höchstens um fünf Prozent steigen, um die Mark stabil zu halten. Selbst wenn alle Kürzungsvorschläge den Bundestag passieren, liegt der Etat mit 69,4 Milliarden Mark aber immer noch um 8,6 Prozent höher als 1965 und übersteigt die Brüsseler Inflationsmarke bedrohlich.
Der Etat bringt die Mark in Gefahr. Erhards Sparprogramm kann deshalb nur ein erster Schritt sein. Folgt danach nicht ein ernsthafter Abbau des Bonner Subventionsprogramms, so wird die Kaufkraft der Mark stärker schwinden als zu irgendeinem Zeitpunkt seit der Währungsreform von 1948.
Auch Westdeutschlands Bund der Steuerzahler hält selbst den gekürzten Etat für zu aufgeblasen: Währungspolitisch sei eine Erhöhung gegenüber 1965 um höchstens 3,2 Milliarden, Mark zu verantworten. Nach Meinung der Steuerexperten könnten unter anderem gestrichen werden:
- 480 Millionen Mark Pennäler-Gehalt
(in voller Höhe);
- 200 Millionen (von 3,3 Milliarden)
Mark Kindergeld;
- 300 Millionen (von 1,4 Milliarden)
Mark beim Wohnungsbau;
- 130 (von 416) Millionen Mark Dieselöl-Subventionen;
- 130 (von 402) Millionen Mark für Einfuhr- und Vorratsstellen und Marktordnung;
- 300 Millionen (von 1,24 Milliarden)
Mark Entwicklungshilfe;
- 600 (von 654) Millionen Mark bei der Notstandsplanung.
Ob Erhards Programm Erfolg haben wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob er seine Ankündigung: »Jetzt muß regiert werden« endlich wahr macht und den Interessenten gegenüber hart bleibt.
Einen Vorgeschmack von dem zu erwartenden Widerstandskampf hatte ihm schon am Dienstag ein Besuch bei den Fraktions-Oberen der FDP vor ihrem Sitzungszimmer im zweiten Stock des Bonner Bundeshauses vermittelt. Fraktionsgeschäftsführer Genscher raunte: »Ich weiß gar nicht, was der hier will.«
Erhard wollte den Freidemokraten die Zustimmung zur Erhöhung der Sekt- und Branntweinsteuer abringen, die in seinem Sparprogramm gleichfalls enthalten
ist. Er fand die Freidemokraten gut präpariert. Der »Verband Deutscher Sektkellereien« hatte sie brieflich zur Standhaftigkeit ermahnt und Schnapsbrenner Eckes die Postschließfächer der FDP -Volksvertreter termingerecht mit Flaschen seiner Hausmarke »Zinn 40« beschickt.
Mendes Zinn-Soldaten nahmen Ludwig Erhard hart an. Selbst Rolf Dahlgrün hielt zu den FDP-Fahnen. Bundesgeschäftsführer Friderichs assistierte: »Ich unterstelle, daß wir mit unseren volkswirtschaftlichen Ausführungen bei Ihnen, Herr Bundeskanzler, als Professor der Nationalökonomie auf besseres Verständnis stoßen werden, als bei ihrem Vorgänger, der nur Kommunalpolitiker war.«
Ludwig Erhard wand sich: »Das ist für den linken Flügel meiner Fraktion eine Frage sozialer Imponderabilien.« Gemeint war, daß Arbeitsminister Katzers Linksflügler nur dann zu Abstrichen bei Mutterschutz und Pennäler -Gehalt bereit seien, wenn zugleich auch ein Einbruch an der Alkoholfront erzielt werde.
Vorübergehende Schwächeerscheinungen bei den Freidemokraten kurierte Niedersachsens ehemaliger Wirtschaftsminister Carlo Graaff mit dem Zwischenruf: »Dann müssen aber alle ihre Eckes -Flaschen zurückschicken.« Ludwig Erhards Entziehungskur mißlang.
Die FDP billigte Erhards Streich -Partitur am Haushalt 1966 nur Odem Rahmen nach«. Die Erhöhung der Branntwein- und Sektsteuer lehnt sie nach wie vor ab.
Widerstand gegen das Spar- und Arbeitsprogramm lodert überall auf, und der Deutsche Beamtenbund konnte bereits einen ersten Einbruch melden. DBB-Vorsitzender Krause handelte Kanzleramts-Minister Ludger Westrick das Zugeständnis ab, die im Erhard-Programm auf den 1. April nächsten Jahres verschobene erste Stufe der Gehaltserhöhungen für Bundesbeamte doch schon zum 1. Januar in Kraft treten zu lassen.
Bauern, Kriegsopfer, 131er, Familienbündler und Wohnungsunternehmer drängen nach. Eine Stunde länger arbeiten will auch niemand.
In einem Brief an Erhard monierte der Bayern-Führer Franz-Josef Strauß noch bevor der Bundestag zusammentrat, die umstrittenen Geschenk-Gesetze seien doch von der Regierung beschlossen, zumindest aber von ihr gebilligt worden. Es sei unmöglich, vor der Wahl eine »Willensgesetzgebung« und später eine »Ausführungsgesetzgebung« zu betreiben.
Nach Erhards Regierungserklärung höhnte der CSU-Chef aufsässig: »So wenig Substanz hätte man auch auf weniger Seiten unterbringen können.«
Selbst wenn sich Ludwig Erhard der Interessenten erwehren kann, ist das Haushalts-Debakel noch nicht aus der Welt geschafft. Da Bonn die Wahlgeschenke vorläufig nur für das nächste Jahr kürzen oder aussetzen will, rollen auf den Etat 1967 Mehrausgaben von sieben Prozent zu, ohne daß das Parlament auch nur eine einzige zusätzliche Ausgabe zu beschließen braucht.
Mithin lassen sich neue Staatsaufgaben nur mit Hilfe von Steuererhöhungen verwirklichen. Die Nachkriegszeit ist, wie Erhard sagte, in der Tat beendet.
* Mefo-Wechsel: Wechsel auf die 1936 gegründete »Metallurgische Forschungsgesellschaft mbH (Mefo)«. Die Regierung finanzierte damit Rüstungsaufträge über fast elf Milliarden Mark, die im Haushalt nicht ausgewiesen wurden.
Kanzler Erhard bei der Regierungserklärung: »Die einst so anspruchslosen Deutschen leben heute wie Gott in Frankreich«
Juliusturm in Berlin
Volle Kassen ...
... machen sinnlich: Ehemalige BundesFinanzminister Schaffer, Etzel, Starke
Defizitbringer Bundesbahn
Statt neuer Subvention ...
Defizitbringer Landwirtschaft
... eine Stunde Mehrarbeit?
Bundesbank-Chef Blessing
Inflationssignale aus Bonn
Süddeutsche Zeitung
Die Regierungserklärung